Wir fordern die Europäischen Institutionen auf, sich für den Schutz und das Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus den am Krieg in der Ukraine beteiligten Staaten einzusetzen. Das Europäische Parlament/die Parlamentarische Versammlung des Europarates möge beschliessen:
Angesichts des Krieges stellt das Europäische Parlament/die Parlamentarische Versammlung des Europarates fest:
die fundamentale Bedeutung der Artikel 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen, mit denen ein Angriffskrieg und völkerrechtswidrige Handlungen im Krieg untersagt sind;
die Gültigkeit des Römischen Statutes, das im Artikel 25 die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Vergehen gegen Artikel 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen sieht;
die Anerkennung des 1994 von der OSZE beschlossenen «Verhaltenskodexes zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit», in dem alle Angehörigen der Streitkräfte persönlich für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts verantwortlich sind und mit Befehlsgewalt ausgestattete Angehörige der Streitkräfte keine völkerrechtswidrigen Befehle erlassen dürfen;
dass «das Recht auf Kriegsdienstverweigerung dem Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit innewohnt. Es gibt Individuen das Recht, von der Wehrpflicht befreit zu werden, wenn diese nicht mit der Religion oder den Überzeugungen des Individuums zu vereinbaren sind. Das Recht darf nicht durch Zwang beschränkt werden», wie es das UN-Menschenrechtskomitee anerkannt hat;1
dass die Verweigerung des Militärdienstes auch unter die Garantien von Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit fällt, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 7. Juli 2011 im Fall Bayatyan gegen Armenien festgestellt hat;
die Bedeutung und Gültigkeit früherer Entschliessungen des Europäischen Parlaments zur Kriegsdienstverweigerung, (…) und erinnert an die am 28. Oktober 1993 angenommene Entschliessung zu den Deserteuren aus den Streitkräften der Staaten des ehemaligen Jugoslawien2;
die Bedeutung und Gültigkeit früherer Entschliessungen und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung,(...)
dass nach den internationalen Menschenrechtsgesetzen und -standards das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten gilt, wie es vom UN-Menschenrechtskomitee anerkannt wurde. Und dass Artikel 4, Absatz 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte keine Abweichung von den Verpflichtungen eines Vertragsstaates in Bezug auf Artikel 18 über Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit erlaubt, auch nicht in Zeiten des öffentlichen Notstands, der das Leben einer Nation bedroht;
dass es nach internationalen Menschenrechtsstandards keine Diskriminierung hinsichtlich der Art der religiösen oder nicht-religiösen Überzeugungen von Kriegsdienstverweigerern geben darf; es darf keine Diskriminierung zwischen Gruppen von Kriegsdienstverweigerern geben; und das Recht zur Verweigerung gilt, wie es unter anderem vom «Office of the High Commissioner for Human Rights» OHCHR4und dem «United Nations High Commissioner for Refugees» UNHCR5 anerkannt wurde, auch für selektive Verweigerer, die glauben, dass die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen gerechtfertigt ist, aber nicht unter allen Umständen;
dass nach internationalen und regionalen Menschenrechtsstandards das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Wehrpflichtige, Berufsmilitärs und Reservisten anerkannt werden sollte, anerkannt unter anderem vom OHCHR, der Parlamentarischen Versammlung, dem Ministerkomitee des Europarats und dem «Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte» BDIMR der «Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» OSZE;
dass der rechtliche Rahmen für die Kriegsdienstverweigerung sowohl in Russland und Belarus als auch in der Ukraine nicht den internationalen und regionalen Menschenrechtsstandards entspricht, wie sie unter anderem vom OHCHR, dem UN-Menschenrechtskomitee, dem UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, dem BDIMR der OSZE, dem Europäischen Parlament, der Parlamentarischen Versammlung und dem Ministerkomitee des Europarats festgelegt wurden.
dass der Menschenrechtsrat die Staaten ermutigt hat, «in Erwägung zu ziehen, Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren, die in ihrem Herkunftsland eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Verweigerung des Militärdienstes haben, wenn es keine oder keine angemessene Regelung für die Kriegsdienstverweigerung gibt»6;
dass russische und möglicherweise auch belarussische Soldatinnen und Soldaten den Dienst in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verweigern;
die Gültigkeit der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union, deren Artikel 9 denjenigen Schutz nach dem Flüchtlingsrecht gewährt, denen eine Verfolgung oder Bestrafung droht, weil sie den Militärdienst in einem Konflikt verweigern, der den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt sind, widerspricht;
die Erklärung des UNHCR, dass «in Fällen, in denen ein bewaffneter Konflikt als völkerrechtswidrig angesehen wird, es nicht notwendig ist, dass der Antragsteller auf internationalen Schutz» der Gefahr unterliegt, individuell strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden7;
Das Europäische Parlament/Die Parlamentarische Versammlung des Europarates fordert daher die Europäische Kommission und den Europäischen Rat/Europarat auf:
sicherzustellen, dass russischen und belarussischen Soldaten und Soldatinnen, die sich dem Einsatz im Militär und somit dem möglichen Kriegseinsatz in der Ukraine entzogen haben oder desertiert sind, in den Mitgliedsstaaten entsprechend der Qualifikationsrichtlinie Asyl gewährt wird;
sicherzustellen, dass auch ukrainischen Kriegsdienstverweigerern, denen die Anerkennung in der Ukraine versagt wurde, wie auch Soldaten und Soldatinnen, die sich auf Seiten der Ukraine etwaigen völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen, Schutz gewährt wird;
die Mitgliedsstaaten aufzurufen, Programme und Projekte zu entwickeln, die Deserteur•inn•en und Militärdienstentzieher•inne•n Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung bieten.
Der Appell wurde initiiert von: International Fellowship of Reconciliation (IFOR), War Resisters’ International (WRI), European Bureau for Conscientious Objection (EBCO) und Connection e.V. (Deutschland), und wird unterstützt durch 56 Organisationen, Gruppen und Vereinen in ganz Europa. Der Appell + alle Quellenangaben + die Auflistung aller Unterstützenden kann auf der Webseite von Connection e.V. gelesen werden.
Juni 2022
UN Human Rights Committee, Communication No. 1642-1741/2007, Jeong et al. v. Republic of Korea
Official Journal of the European Communities, C 315, 22. November 1993 (OJ C, C/315, 22.11.1993, S. 234) + PACE, Resolution 1042 on Deserters and draft resisters from the republics of the former Yugoslavia, beschlossen am 1. Juli 1994
9 OHCHR: Approaches and challenges with regard to application procedures for obtaining the status of conscientious objector to military service in accordance with human rights standards, (A/HRC/41/23), 24. Mai 2019
UNHCR: Guidelines on International Protection No. 10
UN Human Rights Council, Resolution 24/17 (A/HRC/RES/24/17), 8. Oktober 2013, Abs. 13. http://undocs.org/A/HRC/RES/24/17
UNHCR: Guidelines on International Protection No. 10