UKRAINE: Leben und agieren im Krieg (Teil 2)

de Jürgen Kräftner, 10 oct. 2024, publié à Archipel 340

Wie ist es, in einem Land zu leben, in dem Krieg herrscht? Wir dokumentieren hier unsere Eindrücke und Erfahrungen, die wir auf einer Reise nach Charkiw und in den Donbas im Mai 2024 gesammelt haben. Teil 2

Yevhen Byelov, noch keine 30 Jahre alt, ist seit Beginn des Krieges Koordinator der Freiwilligenorganisation «Bewegung für ein freies Charkiw». Eigentlich ist er Unternehmer und Besitzer eines Freizeitzentrums mit Sauna und türkischem Bad, das er seit Beginn des Krieges geschlossen hat. Er hat uns zusammengefasst, was sein Team in den letzten zweieinhalb Jahren erreicht hat, und das ist wirklich beeindruckend. Schon in den allerersten Tagen des Krieges war Charkiw in grosser Gefahr; die Russen drangen bis in die Vororte vor. Die Stadt war zur Hälfte umzingelt und wurde bombardiert. Freiwillige übernahmen zu diesem Zeitpunkt anstelle der öffentlichen Dienste die Versorgung ganzer Stadtteile: warme Mahlzeiten und humanitäre Hilfe für Bedürftige, Einrichtung von Luftschutzbunkern, Flüchtlingshilfe. Wir haben das Gespräch mit ihm für Archipel aufgezeichnet: Yevhen Byelov: «Es gab ein ganzes Netz von Restaurants und anderen Gemeinschaftsküchen. Wir versorgten sie mit Lebensmitteln und verteilten Mahlzeiten zum Mitnehmen. Anschliessend halfen wir Menschen bei der Flucht aus den damals besetzten Gebieten. Nach der Befreiung dieser Gebiete (im September 2022) halfen wir, die dort zerstörten Häuser notdürftig zu reparieren.»

Wovon leben die Freiwilligen? «Ein Teil der Freiwilligen hat weiterhin eine feste Anstellung und lebt davon, während sie sich in ihrer Freizeit unserer gemeinsamen Arbeit widmen. Einige, wie ich, haben keine bezahlte Arbeit mehr und unsere NGO unterstützt sie, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Seit einiger Zeit liegt unser Schwerpunkt auf der humanitären Hilfe in den befreiten Gebieten (östlich von Charkiw). Seit der neuen russischen Offensive helfen wir den Bewohner·innen der betroffenen Gebiete bei der Flucht, ausserdem evakuieren wir zahlreiche Haustiere. Der dritte Tätigkeitsbereich ist die Reparatur von Häusern nach russischem Raketenbeschuss. Wir erfahren sofort, wenn eine Rakete eingeschlagen hat, und machen uns auf den Weg dorthin. Wir leisten medizinische Hilfe und sichern die Gefahrenzone. Wir ersetzen zerbrochene Fenster provisorisch durch Spanplatten oder Plastikfolien und räumen die Trümmer weg. Wir arbeiten in Koordination mit den Rettungsdiensten der Stadt.

Derzeit haben wir weitere Projekte. Wir richten ein Krankenhaus für die Mitglieder des Zivilschutzes ein. In unserer Oblast gehören diesem derzeit mehr als 7000 Männer und Frauen an. Sie benötigen eine Einrichtung, die auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnitten ist, mit spezialisierten Ärzten und entsprechenden Einrichtungen, die es derzeit nicht gibt. Die Kosten belaufen sich auf etwa 50 Millionen Hrywnas, das entspricht 1,2 Millionen Euro. Auch die Bauarbeiten werden, zumindest teilweise, von Freiwilligen durchgeführt.

Und hier in diesem Bereich (wir befanden uns in einem Stadtpark im Zentrum) gibt es ein städtisches Jugendzentrum. Gemeinsam planen wir Kurse für die Kinder. Sie lernen, wie sie sich bei Raketenbeschuss verhalten sollen und wie sie sich nicht mit Minen und anderen explosiven Gegenständen in Gefahr bringen. Gleichzeitig arbeiten wir auch mit den Eltern zusammen. Das Gebäude, das wir künftig für diese Kurse nutzen wollen, wurde nach einem Raketenbeschuss stark beschädigt und wir beginnen nun mit der Renovierung. Dort gibt es alle notwendigen Räume und vor allem sichere Kellerräume. Die Kinder in Charkiw werden derzeit fast alle online unterrichtet. Es gibt eine Schule in der U-Bahn und zwei unterirdische Schulen sind im Bau. Mit der russischen Offensive Anfang Mai mussten wir unsere Arbeit neu organisieren. Jetzt helfen wir vor allem Menschen bei der Flucht aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet. Die Abläufe sind gut koordiniert, jeder hat seine Aufgabe. Zunächst werden die Menschen in der unmittelbaren Gefahrenzone zu Sammelstellen gebracht, von wo aus sie mit grossen Bussen ins Stadtzentrum gebracht werden, wo sie etwas Geld und alles, was sie brauchen, erhalten, bevor sie in provisorische Unterkünfte geleitet werden. In den letzten Tagen haben wir auch zahlreiche Haustiere evakuiert. Manche Menschen wollen ihre Tiere auch während der Flucht behalten, für andere ist das nicht möglich.»

Und wie fühlen Sie sich nach mehr als zwei Jahren Krieg? «Mir geht es gut. Ich bin ein bisschen müde und würde mich gerne etwas ausruhen. Seit Beginn des Krieges habe ich keinen freien Tag gehabt. Aber wenn ich aus dem Haus gehe und weiss, was dringend zu tun ist, verschwindet die Müdigkeit. Ich kann mich nicht ausruhen, wenn ich weiss, dass die Menschen in der nahe gelegenen Stadt Vovtchansk bombardiert werden. So funktioniert mein ganzes Team.»

Was sind Ihre dringendsten Bedürfnisse? «Wir sind auf der Suche nach Projektkoordinatoren. Sie müssen nicht unbedingt hier leben. Aber wir wollen unsere Arbeit ausweiten und suchen den Kontakt zu den grossen Geldgebern, und dafür brauchen wir qualifizierte Leute, die Projekte formulieren und Berichte schreiben können.» Wir haben Yevhen und sein Team eingeladen, sich in Transkarpatien zu erholen, sobald sie die Zeit dafür finden.

Reise in den Donbas

An dem Tag, an dem wir unsere Reise fortsetzten, schlugen mehrere Raketen in der Nähe unserer Unterkunft ein. Unterwegs in Richtung Donbas, auf der Nationalstrasse, sahen wir dann mehr Armeefahrzeuge als Zivilfahrzeuge, vor allem in der Gegenrichtung. Offenbar wurden zusätzliche Einheiten aus dem Donbas an die Front nördlich von Charkiw verlegt. Nach etwa 50 Kilometern kamen wir in die Region, die von März bis September 2022 von den Russen besetzt war. Ganze Dörfer waren zerstört und entvölkert worden. Wir sahen zahlreiche Minenräumungsmaschinen in Aktion und Tafeln, die davor warnten, die Strasse zu verlassen. An einem Kontrollpunkt in Isjum wurden wir angehalten und ein älterer Soldat fragte uns, ob wir seinen Kameraden bis nach Kramatorsk mitnehmen könnten, da sein Auto kaputt war. Unser neuer Reisebegleiter war ein freundlicher, sogar sanftmütiger junger Mann. Somit hatten wir einen militärischen Reiseführer für diesen Streckenabschnitt. Viele seiner Kampfkameraden hatten hier ihr Leben verloren, er zeigte uns die Orte und erzählte, was passiert war.

Kostiantynivka

Vorbei an Kramatorsk (dem Verwaltungszentrum der Oblast Donezk seit 2014, nachdem die Stadt Donezk besetzt wurde) fuhren wir weiter nach Kostiantynivka. In Friedenszeiten hatte die Stadt 70.000 Einwohner·innen. Die Front ist nur etwas mehr als 10 km entfernt, aber mehr als die Hälfte der Bevölkerung befindet sich noch dort. Unser Ziel war die örtliche Musik- und Kunstschule. Wie alle Einrichtungen, die wir besucht haben, diente die Kunstschule in Konstiantynivka auch als Verteilzentrum für humanitäre und administrative Hilfe für Flüchtlinge. Die Stadt beherbergte zahlreiche Flüchtlinge aus den nahe gelegenen besetzten Gebieten und aus Orten, die direkt an der Front lagen.

Die junge Direktorin Alina erzählte uns: «Unsere Kunstschule bietet bis auf wenige Ausnahmen immer noch Unterricht für 400 Kinder an – online. Es gibt auch viele Kinder, die mit ihren Familien ins Ausland geflohen sind und weiterhin online von ihren ehemaligen Lehrerinnen oder Lehrern unterrichtet werden. Vor dem Krieg hatten wir 700 Schüler. In unserem Keller veranstalten wir mehrmals pro Woche kleine Filmvorführungen, Malworkshops, Spiele usw., wo sich die Kinder also auch im realen Leben treffen können.»

Am 26. August, also drei Monate nach unserem Besuch, ordnete die regionale Militärverwaltung angesichts des zunehmenden Beschusses der Stadt und ihrer Umgebung die Zwangsevakuierung von Familien mit Kindern aus Kostyantynivka und 16 weiteren Dörfern an. Am 8. August war ein Supermarkt, der einen Kilometer von der Kunstschule entfernt lag, von einer Rakete getroffen worden, 14 Menschen starben und 44 wurden verletzt, am 24. August gab es erneut mehrere Opfer durch einen Raketenangriff. Wir riefen Alina, die junge Direktorin an und es stellte sich heraus, dass sie bereits mit ihrem Kind ins Ausland geflohen war. Sie bat uns um Hilfe bei der Umsiedlung von kinderreichen Familien, und wir prüfen derzeit die Möglichkeiten.

Kramatorsk

Bei unseren Treffen im Donbas ging es vor allem darum, Initiativen zu unterstützen, die mit Kindern arbeiten. Trotz der Gefahr des nahen Krieges und des häufigen Raketenbeschusses leben dort weiterhin hunderttausende Familien mit Kindern. Die Schulen sind seit der Covid-Krise online, auch ausserschulische Aktivitäten wie z. B. Musik- und Tanzunterricht. Die schlechte Qualität dieses Unterrichts ist nicht das grösste Problem. Noch schwerwiegender ist der Mangel an menschlichen Kontakten zwischen den Kindern. Genia, Nastya und ihre Kollegin Ania suchen nach Orten, an denen sie Workshops mit den Kindern veranstalten können. Sie animieren sie dazu, ihren Lieblingsort, der oft zerstört wurde oder aus verschiedenen Gründen nicht mehr zugänglich ist, zu zeichnen und die dazugehörige Geschichte zu erzählen.[2]

In Kramatorsk wimmelt es nur so von Soldaten, die sich in jedem erdenklichen Fahrzeug fortbewegen. Hinzu kommen viele ausländische Freiwillige, was man vor allem in den Cafés im Zentrum bemerkt. Am 27. Juni 2023 kostete ein gezielter Raketenbeschuss eines dieser Lokale der ukrainischen Schriftstellerin Viktoria Amelina und zwölf weiteren Personen das Leben. Ein örtlicher Agent hatte seinem russischen Mittelsmann fälschlich berichtet, dass sich zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Militärangehörige in der Pizzeria Ria aufhielten. Der Mann wurde festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Nicht weit davon entfernt besuchten wir das Jugendzentrum Terykon (zu Deutsch: Halde), das kürzlich von der Freiwilligenorganisation Base_UA eingerichtet worden war.[2]

Unsere Freundin Sasha (Oleksandra Chernomashyntseva) ist eine junge Film- und Theaterfrau, die ihr Studium in Prag zu Beginn des Krieges im Jahr 2022 abbrach, um bei Base_UA Freiwilligenarbeit zu leisten. Sie ist eine der treibenden Kräfte in Terykon. Im Gegensatz zu den anderen Einrichtungen, die wir gesehen haben, ist Terykon gut ausgestattet und selbst der Luftschutzbunker bietet eine recht angenehme Atmosphäre. Es gibt sogar ein kleines Fotolabor. Von ihr erfuhren wir jedoch, dass die regionale Militärverwaltung am Vortag alle öffentlichen Menschenansammlungen aufgrund einer erhöhten Bedrohung durch russische Angriffe verboten hatte. Terykon wurde erst im letzten Winter eröffnet und betreut nun regelmässig über 100 Kinder aus der Umgebung. Sasha ist nicht sehr glücklich über die Verbote der Militärverwaltung. Sie führen dazu, dass die Kinder in der Nähe der Gebäude auf der Strasse bleiben und dort gefährdeter sind als im Inneren der Gebäude.

Nach zweieinhalb Jahren Krieg ist ein Gefühl der Ohnmacht verständlich, vor allem bei Meschen, die nicht in der Ukraine leben. Der Besuch und die Zusammenarbeit mit den Initiativen in Frontnähe heilen diese Lähmung, dazu reicht es, in die Augen der dortigen Kinder und der Aktivist·innen zu schauen.

Wir sind sehr motiviert, weiter mit ihnen zu arbeiten.

Jürgen Kräftner

  • Unterwegs war ich mit Nastya Malkyna und Genia Koroletov, eine Künstlerin und ein Künstler aus Luhansk. Sie mussten zweimal flüchten, 2014 und 2022, seither leben sie bei uns in Nischnje Selischtsche am Westrand der Ukraine. Seit 2022 organisieren die beiden Workshops mit Kindern in und aus den Kriegszonen.
  1. Kramatorsk – ein Projekt mit Kindern. Siehe Archipel 324

  2. www.baseua.org/kids