GESTERN / HEUTE / MORGEN: Tag der Befreiung

von Franz Schuh, Schriftsteller, Wien, 09.06.2025, Veröffentlicht in Archipel 348

Am 8. Mai 2025 jährte sich zum 80. Mal die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch in Österreich wird dieser Tag jedes Jahr zelebriert.

In Wien findet jeden 8. Mai das «Fest der Freude» statt. Es geht jedoch nicht nur um Freude, sondern auch darum, die Mittäterschaft nicht zu vergessen und sich der Kontinuität bis in die heutige Zeit bewusst zu sein. Wir dürfen hier einen, dieses Jahr am Heldenplatz verlesenen Text mit dem Titel «Erinnern» von Franz Schuh abdrucken: «Es gibt einen Einwand gegen das Erinnern, der sogar gut gemeint sein könnte. Der Einwand lautet: Das Erinnern hält gleichzeitig das zu Erinnernde am Leben. Der ungeheure Zivilisationsbruch in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts liesse sich am besten vergessen. Nur durch Vergessen ist er nicht mehr da.

So gut das manche vielleicht meinen, so sehr ist es nichts als Eskapismus, nichts als eine vergebliche Flucht aus der Geschichte. Eskapismus ist allerdings eine mächtige Strategie, mit der in einer hedonistischen Gesellschaft vieles auf eingeübte Weise verdrängt wird – also gar nicht zum Verschwinden zu bringen ist. Es gibt auch eine pädagogische Variante des Eskapismus. Sie lautet: Indem man die Erinnerungskultur überbetont, erzeugt man Widerstand gegen ihre guten Absichten. Die unterste Stufe dieser Variante ist, sich über die Belästigung zu beschweren, wenn wieder «davon» die Rede ist.

Ein Heinz Kindermann war im Dritten Reich einer der furchtbarsten Germanisten, ein Nationalsozialist, der die Literaturwissenschaft zur Propaganda der Einheitspartei umfunktioniert hatte. Im Nachkrieg war Heinz Kindermann lange Zeit Leiter des Wiener Instituts für Theaterwissenschaft. Einige seiner Studenten, wenn man sie darauf ansprach, fühlten sich belästigt: Es käme doch nur darauf an, was er heute lehrt, und die Idee war nicht verbreitet, dass das, was er «heute» lehrt, im Zusammenhang mit dem stehen könnte, wofür er seinerzeit Karriere machte.

Die Kontinuitäten sind das Problem, das Wiederauftauchen alter Chiffren und ihr mehr oder weniger verschleierter Einsatz im politischen Leben. Die Erinnerung hilft dem Verständnis, warum man gegen das kämpfen soll, was nicht aufhört, sich wiederholen zu wollen. Wiederholen - natürlich anders oder «nur» so ähnlich. Zur Zivilisation gehört die Lehre nicht nur für das Kollektiv, sondern gerade für die Einzelnen, was – im Zivilisationsbruch – ein Mensch dem anderen antun kann. ‘Wer denkt, es kann sich nicht wiederholen, der irrt’, sagte Justin Sonder, ein Ausschwitz-Überlebender.»

Franz Schuh, österreichischer Schriftsteller und Philosoph