ÜBERWACHUNSSTAAT: Folgen der Corona-Krise

von Capulcu*, 12.06.2020, Veröffentlicht in Archipel 293

Wie wird sich die Corona-Krise langfristig auf die Gesellschaft auswirken? Was für politische und soziale Konsequenzen haben die massiven Beschränkungen von Grundrechten, denen wir unterworfen wurden – und immer noch sind? Wozu führt die Gewöhnung an fremdbestimmte Verhaltenssteuerung, wie sie unter anderem in der Form der «freiwilligen» Corona-App uns in diesen Tagen schmackhaft gemacht wird?

Gewöhnung an den Ausnahmezustand

Gleich vorweg: Wir sehen keine verschwörerische Kraft, die den derzeitigen globalen Schock der Corona-Krise inszeniert, um etwa gesellschaftliche wie ökonomische Grundfeste global aufzubrechen und autoritär zu reorganisieren. Wir sehen hingegen massive Defizite eines profitabel zusammengesparten Gesundheitssystems. Und wir sehen deutliche Anzeichen in der derzeitigen Corona-Pandemie für eine Etablierung neuer Programme der Verhaltenslenkung in krisenhaften Ausnahmezuständen – und befürchten deren Anwendung darüber hinaus. In China entscheidet derzeit die Bezahl-App des Finanzdienstleisters «Ant Financial» bei Polizeikontrollen und im Supermarkt, wer angesichts der Bedrohung durch das Corona-Virus im öffentlichen Raum unterwegs sein darf und wer nicht. (…) Auch der israelische Inlandsgeheimdienst SchinBet nutzt seit Mitte März seine Handy-Überwachung im Rahmen des «Anti-Terror-Programms», um Infektionswege nachzuvollziehen und um die Einhaltung von Quarantäne-Auflagen zu überwachen. Auch Taiwan, Südkorea, Singapur und Hongkong nutzen das Mobilfunk-Tracking zur Positions- und Kontakt-Ermittlung. «In Deutschland undenkbar» beschwichtigen Regierungsver-treter·innen und das Robert-Koch-Institut, und begnügen sich öffentlichkeitswirksam mit der Übermittlung anonymisierter Datensätze, die lediglich Bewegungsradien nicht zu spezifizierender Einzelpersonen vermessbar machen sollen. Nur eine Woche später, am 21.3., will der Bundesgesundheitsminister Spahn jedoch per Eilverfahren folgenden Gesetzentwurf für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes durchsetzen: (...) Sie (die zuständigen Gesundheitsbe- hörden) erhalten die Befugnis, Kontaktpersonen von Erkrankten anhand von Handy-Standortdaten zu ermitteln, ihre Bewegung zu verfolgen, sie im Verdachtsfall zu kontaktieren und über ihr persönliches Risiko zu «informieren». Eine «Gefährderansprache» auf gleicher Datenbasis wie jene, die in China und Israel für die vollständig individualisierte Bevölkerungssteuerung genutzt wird. (...) Nicht nur quantitativ, sondern qualitativ neu ist: alle sind gefährdet, alle können (per App) zum/r Gefährdenden deklariert werden. Die gesellschaftliche Verunsicherung angesichts der Corona-Krise begünstigt eine solch einschneidende Erosion der Persönlichkeitsrechte, die als Dammbruch für zahlreiche zukünftige Ausnahmezustände gewertet werden muss. Hier wird zudem das Narrativ einer «wünschenswerten, weil potenziell lebensrettenden Überwachung» etabliert.

Vervielfältigung des Zustands

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sah bereits im Februar die Möglichkeit, dass sich die Akzeptanz des bisherigen Antiterror-Potenzials für ein exzessives Regieren im Ausnahmezustand schneller erschöpfen könnte, während eine Epidemie hingegen einen ausgezeichneten Nährboden für eine ungleich ausuferndere Anwendung autoritärer Massnahmen liefere. (...) Strukturell ähnelt die derzeitige repressive Antwort auf das Corona-Virus in vielerlei Hinsicht der in Terrorhysterie ergriffenen staatlichen Massnahmen wie z. B. in Reaktion auf die islamistischen Anschläge in Frankreich vom November 2015. Ein geschlossenes Zusammenstehen gegen eine äussere Bedrohung legitimierte die Beseitigung von Freiheitsrechten, die Beschwörung eines nationalen «Wir» und die Homogenisierung der öffentlichen Meinungsbildung. Nach Ausschöpfung der maximal möglichen Verlängerung des Ausnahmezustands von zwei Jahren wurde die Notstandsgesetzgebung schlicht zum gesetzlichen Normalzustand erklärt. Die Gewöhnung an den Ausnahmezustand durch permanentes Aufrechterhalten einer Gefahrenlage ermöglichte in Frankreich diesen Kunstgriff weitgehend ohne gesellschaftliches Aufbegehren. Auch jetzt wird die Einheit der Nation gegen das Virus vielerorts beschworen. Präsident Macron treibt in Frankreich die Rhetorik besonders weit: «Wir sind im Krieg». In seiner Ansprache vom 16.3. «zur Lage der Nation» verkündet er den Kriegszustand, um zu erklären, dass nun kein Weg mehr an einer Ausgangssperre für alle vorbeiführe. (...) Ein perfektes Klima für ein anderes Virus, nämlich das der Tabubrüche – auch in Deutschland. Sei es der Einsatz der Bundeswehr im Inneren oder bei weiter andauernder Eskalation die Anwendung von neu benannten «Notstandsgesetzen» über die Zwischenstationen des «Katastrophenfalls», des «Alarmzustands» und des «Ausnahmezustands». (...) Die derzeitige Bereitschaft zur Selbstunterwerfung unter eine Ausnahme-Ordnung ist um ein Vielfaches grösser, als das zögerliche Einstimmen in den Anti-Terror-Mainstream infolge meist regional bzw. national lokalisierbarer Anschläge.

Entsolidarisierung

Solidarität erfordert Mündigkeit und eigenverantwortliches Handeln statt autoritär verordnete (auch künstlich-intelligente) Lenkung. Es ist nicht irgendeine Ausgangssperre, die uns schützt. Was uns schützt, ist unser Verhalten in Selbstverantwortung. Eine granulare Gesellschaft, die nicht mehr grob, sondern feinkörnig vermessen wird, und individuell (per App) entweder zur Corona-Gefahr erklärt wird oder sich frei bewegen darf, ist zweifellos Gift für gesellschaftliche Solidarität. Entmündigende Bevormundung in Angst bewirkt das Gegenteil von Solidarität: Hamsterkäufe und Desinfektionsmittel-Diebstähle in Krankenhäusern sowie das nationalistische Abschotten von Krankenhaus-Kapazitäten nur für die eigene Bevölkerung sind der Gipfel einer beispiellosen Entsolidarisierung. (…) Über die gesellschaftlichen «Nebenwirkungen» von Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverboten, Grenzschliessungen und der «Aussetzung des Rechts auf Asyl», der Militarisierung des Zivilschutzes und des öffentlichen Raums wird aktuell wenig debattiert. Es sind autoritäre Kurzschlüsse (auf Ministerialebene), die national ausgesperrte Erntehelfer durch Arbeitslose «per Dekret» ersetzen wollen. Herrschaftliche Verfügungen über Menschen zur Rettung des deutschen Spargels. Ohne jeden Zynismus: Die coronisierte Gesellschaft wird viel länger an den Folgen des quasi widerspruchsfrei erprobten Ausnahmezustands und vor allem an seiner politisch gewollten Verstetigung knabbern, als an der ernstzunehmenden (weil mitunter tödlichen) Lungenkrankheit selbst. Die demokratie-zersetzende soziale Viruslast wiegt um einiges schwerer als die partielle, absolut begrüssenswerte Bereitschaft zur selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe für besonders von der Krankheit Bedrohte. Der Pandemie-Rückfall in den durch den Rechtsdrift hervorragend vorgefurchten Acker des Nationalismus wird die Linke weit zurückwerfen. Denn jetzt hat sich in breiten Teilen der Gesellschaft ein Bild verfestigt, was «systemrelevant» und was erwiesenermassen «verzichtbar» ist. (...)

Dissidenz

Wir müssen die Beschränkung von Grundrechten in Frage stellen. Und wir müssen der Legende einer rein virologischen Bedrohung, die die Menschheit als homogenen Block gleichermassen trifft, widersprechen. Das ist nötig und möglich, ohne die Corona-Krise zu bagatellisieren und der ignoranten Sorglosigkeit gegenüber dem Virus das Wort zu reden. Wir müssen insbesondere der raumgreifenden Sozial-Technokratie widersprechen, die sich in Ausnahmezuständen wie der Corona-Krise Akzeptanz beschafft. (…) Wir müssen im Rahmen einer fundamentalen Technologiekritik die soziale Kybernetik – also die feinstgliedrige Abbildung und Vermessung unseres Lebens in Mess- und Steuerkreisen – zurückweisen. Sowohl den chinesischen Sozial-Punkte-Systemen als auch Googles Vorstellungen einer permanenten digitalen Assistenz liegt ein umfassendes persönliches Journal zugrunde, bestehend aus sämtlichen Handlungen, Entscheidungen, Vorlieben, Aufenthaltsorten und Beziehungen. Dieses Journal ist die Datengrundlage für ein System, das künstlich intelligent auf jeden Einzelnen zugeschnittene Handlungsempfehlungen ausspricht. Aus technokratischer Sicht sind Armut und sämtliche Krankheiten perspektivisch überwindbar – unter der freimütig vorgetragenen Bedingung: die Aufgabe eigenverantwortlichen Handelns. Nur dann liesse sich effektiv «potenzielles Fehlverhalten detektieren und korrigieren». Selbstbewusst stellt Google in Aussicht: «Noch passen sich unsere digitalen Assistenten ihren Nutzern an. Dieses Verhältnis wird sich bald umkehren.» Die diesen Ansichten zugrundeliegende, erschreckend totalitär anmutende Sicht auf eine vermeintlich bessere Welt knüpft nahtlos an die Vorstellungen des Behaviorismus an. Dieser geht angesichts komplexer Lebensverhältnisse von einer notwendig fremdbestimmten Verhaltenssteuerung andernfalls nicht-rational handelnder Individuen aus – ein zutiefst paternalistisches und autoritäres Menschenbild. Wir müssen der sozialen Atomisierung entgegenwirken, insbesondere auch der dissidenten Vereinzelung, die uns derzeit zum passiven Konsum von Regierungsnachrichten per Corona-Ticker verführt. Wenn Versammlungen mit mehr als 1‘000, 200, 100, 50, 10, und nun 2 Teilnehmer·inne·n verboten werden, weit bevor die regulären «Gross-Versammlungen» bei der Arbeit und auf dem Weg dorthin (in Bussen und Bahnen) verboten werden, dann entlarvt dies zumindest den Vorrang der herrschenden ökonomischen Sorge gegenüber der menschlichen Fürsorge. Wir müssen uns weiter treffen – nicht nur über Bildschirme vermittelt, sondern in realer sozialer Zusammenkunft. Das lässt sich Corona-verträglich organisieren. Selbst wenn Mobilisierungen zu Grossdemonstrationen derzeit entfallen, gibt es keinen Grund auf direkte Aktionen zu verzichten. Für deren Koordination müssen wir uns nicht auf digitale Kommunikationsformen zurückziehen. Wir können sehr wohl noch reisen und face-to-face-Verabredungen treffen. Denn soziale Kämpfe lassen sich nur in den Augen derer virtualisieren, die sich in der eigenen Bedeutungslosigkeit eingerichtet und die soziale Revolte längst abgeschrieben haben. Aufgrund zahlreicher Proteste musste Bundesgesundheitsminister Spahn das geplante Tracking über Handypositionsdaten per Gesetz vorerst zurückziehen.

  • Capulcu (capulcu.blackblogs.org) ist eine Gruppe von Technologie-kritischen Aktivist·inn·en und Hacktivist·inn·en, deren Artikel wir hier in gekürzter Form abdrucken dürfen.