Vom 1. Mai bis 31. August 2008 findet im Historischen Museum von Frankfurt am Main eine Ausstellung zu diesem Thema statt. Eines der gesellschaftskritischen Experimente, die ausgestellt werden, ist die Europäische Kooperative Longo maï, Mitbegründerin des Europäischen Bürgerforums (siehe Kasten). Der folgende Text ist eine Vorstellung des Ausstellungsprojektes.1
«1968» wird vierzig Jahre alt Das Jahr steht als Chiffre für die Studentenproteste in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, für ihre Vorgeschichte und ihre lange Wirkung bis heute. Es markiert eine der nachhaltigsten Zäsuren der Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main war neben Berlin der wichtigste Schauplatz der Revolte in Deutschland. In Frankfurt findet die einzige umfassende Ausstellung zum Thema statt – eingebettet in einen vielseitigen Veranstaltungssommer zu 1968. (...)
1968: Kaum ein Ereignis in der Nachkriegsgeschichte ist umstrittener als dieser «kurze Sommer» der Revolte. Wenn heute im deutschen politischen Diskurs darauf zurückgegriffen wird, dann vielfach negativ. Die Qualität unserer Schulen und Universitäten, die Leitbilder von Ehe und Familie sowie die Verbindlichkeit von gesellschaftlichen Sitten und Werten seien durch die Ideen von 1968 erschüttert worden, vor allem aber sei der Terrorismus der 1970er Jahre eine direkte Folge der «außerparlamentarischen Opposition» von 1968. Auf der anderen Seite werden mit 1968 die «intellektuelle Neugründung der Bundesrepublik» und der überfällige Aufbruch aus der in Wiederaufbau und Verdrängung erstarrten «Adenauer-Republik» verbunden.
Eines steht fest: 1968 war so komplex und vielschichtig, dass daran seit den 1980er Jahren immer wieder kontrovers über das Selbstverständnis der Republik gestritten wurde. Die Generation der protestierenden Studenten von 1968 geht jetzt in Rente: Was hat sie «angerichtet», was hinterlässt sie uns? (...)
«Unter den Talaren Muff von tausend Jahren!» Die wichtigsten Zentren der bundesdeutschen 68er-Bewegung waren die Universitäten, die treibende Kraft der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) mit Sitz in Frankfurt. Überkommene Lehrformen und Studieninhalte wurden durch Aktionen aufgebrochen und neu gestaltet. Die Ausstellung zeigt die aufgeheizte Stimmung an den Universitäten: Vorlesungen wurden gesprengt und umfunktioniert, Gegenseminare organisiert, Transparente geschrieben und Rektorate besetzt. Die Schülerbewegung trug die neuen Ideale bis in die tiefste Provinz.
«Das Private ist politisch» Kommunen ebenso wie Wohngemeinschaften entstanden als Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie und ihrer hierarchischen Ordnung. Beide Modelle betonten die politische Dimension des Privaten, praktiziert durch eine ausgeprägte Diskussionskultur. Während die häufigere Form der Wohngemeinschaft meist weniger radikal war, provozierte die berühmte Berliner Kommune I bewusst durch ihre subversiven und medienwirksamen Aktionen die deutsche Öffentlichkeit.
«Mein Bauch gehört mir» 1968 wurden die traditionellen Geschlechterrollen von Frau und Mann hinterfragt. Die «sexuelle Befreiung» rückte in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Emanzipation. Die «Pille» ermöglichte seit 1961 sexuellen Genuss «ohne Folgen» und versprach eine neue Dimension weiblicher Selbstbestimmung. Im Kampf für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (d.h. gegen den § 218) formierte sich die neue Frauenbewegung. Nachdem das Verbot homosexueller Handlungen (§ 175) entschärft worden war, kämpfte die deutsche Schwulen- und Lesbenbewegung erfolgreich für die gesellschaftliche Anerkennung homosexueller Lebensformen.
«Ein Adolf war genug!» Die 68er sind überwiegend in den 1940er Jahren geboren. Sie rebellierten gegen eine Elterngeneration, deren aktive Beteiligung, Mitläufertum und Wegsehmentalität im Nationalsozialismus ebenso wie die Verdrängung im Nachkriegsdeutschland die «Kriegskinder» an den Pranger stellten. Zugleich haben manche der 68er in ihren antiamerikanischen und auch antijüdischen Aktionen unbewusst Ressentiments ihrer Elterngeneration übernommen.
«Hoch die internationale Solidarität» 1968 war ein internationales Phänomen. Die Empörung über den im Fernsehen übertragenen Vietnam-Krieg konzertierte den weltweiten Protest. Im Zentrum standen antiimperialistische Solidaritätsbekundungen mit der Dritten Welt oder mit Opfern der Diktaturen in Griechenland und Spanien. Die Revolte kann auch als Überwindung der Blockgrenzen des Kalten Krieges interpretiert werden. Am meisten hat sich die Parallelität der Ereignisse in Ost und West im Prager Frühling und im Pariser Mai niedergeschlagen. In Paris entfaltete die Bewegung ungleich höhere Brisanz als im Nachbarland Deutschland. Der Prager Frühling erlaubte kurzzeitig die Illusion eines Dritten Weges, seine Niederschlagung im August 1968 führte auch in der DDR zu harten Repressionen. Hatte die Opposition 1968 noch von einer Reform des Sozialismus geträumt, glückte ihr 1989 – mit den Erfahrungen von 1968 – die Revolution.
«Revolution ist machbar, Herr Nachbar» Die Revolution sollte in die großen Industriebetriebe getragen werden. Doch anders als in Frankreich scheiterten diese Bemühungen in Deutschland rasch an der Ablehnung der Belegschaften und Gewerkschaften. Einige Aktivisten beschlossen daher, selbstverwaltete Betriebe zu gründen, darunter Handwerks-, Buchhandlungs- oder Juristenkollektive. Die Entfremdung der Lohnarbeit sollte damit ebenso überwunden werden wie autoritäre Betriebsstrukturen. Die in den frühen 1970er Jahren entstehenden Landkommunen schließen an diese Bewegung an.
«Macht kaputt, was euch kaputt macht» Der Protest der 68er war von Beginn an mit der Frage nach der Legitimität seiner Mittel verknüpft. Im Mittelpunkt stand die Diskussion um strukturelle bzw. staatliche Gewalt, gegen die es sich zu wehren gelte. Der Umsturz der staatlichen Ordnung war aber mit legalen, demokratischen Mitteln kaum zu erreichen. Innerhalb der 68er- Bewegung wurde daher die Frage nach dem Einsatz von Gewalt – zunächst gegen Sachen, mit der Eskalation zunehmend auch gegen Menschen – intensiv verhandelt. Die Ausstellung stellt das breite Spektrum der aus der Arbeiterbewegung, dem Situationismus und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung übernommenen oder spontan entwickelten Aktionsformen der 68er-Bewegung dar. Sie beleuchtet auch die Entwicklung der RAF als einen zur «Machtphantasie» degenerierten Spross der 68er.
«Die Phantasie an die Macht» Den nachhaltigsten Wandel löste 1968 in der Alltagskultur aus. Individualisierung der Lebensstile und Durchsetzung eines globalen Massenkonsums gingen Hand in Hand. Als große musikalische Vorbilder bewunderte die deutsche Jugend die Beatles, Rolling Stones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Joan Baez, Bob Dylan und viele andere. Der neue, wilde, «authentische» Lebensstil faszinierte durch seinen krassen Gegensatz zu den überholten Knigge-Vorstellungen der Eltern und den falschen Idyllen ihrer Schlager. Dieser globalisierte Lifestyle drückte sich auch in der Mode, veränderten Kleiderordnungen und Sprachstilen aus, in Reisekultur, Drogenkonsum und nicht zuletzt in meditativen Techniken der Bewusstseinserweiterung, die man aus Asien importierte.
«Spießerhölle» Ein wichtiger Bezugspunkt der 68er war die deutsche Nachkriegsgesellschaft, insbesondere deren Restaurationsbestrebungen («Wir sind wieder wer»), gegen die sie sich abgrenzten. Dieses Feindbild wurde Teil ihrer Revolutionsrhetorik.
Im Zentrum dieser negativen Kontrastfolie der 68er standen die Erfahrung von kleinbürgerlicher Enge und dem Rückzug ins Private, Statusstreben bei gleichzeitiger Vergangenheitsverdrängung, patriarchaler und hierarchischer Gesellschaftsstruktur sowie körperlicher wie geistiger Unfreiheit. An diesen Reibungsflächen entzündete sich die Jugendbewegung, die nach gesellschaftlichem Wandel strebte.
Der Titel «Spießerhölle» deutet bereits an, dass hier die Negativprojektionen der 68er versammelt sind, also weniger ein Abbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft als vielmehr die Kritik der 68er an ihren Eltern, von denen sie sich umso wirksamer absetzen konnten.
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