Philip Rizk, Filmemacher und Aktivist aus Kairo, war im März 2017 bei einem Treffen des Europäischen Bürger ·innenforum in der Schweiz zu Gast. Er berichtete über die Situation während und nach dem «arabischen Frühling» in Ägypten1. Wir stellten ihm einige Fragen.
Archipel: Wie ist es dir selbst ergangen zwischen Revolte und Konterrevolte?
Philip R.: Das ist eine wichtige Frage, die während dieser Zeit der Revolte nicht ernst genug genommen wurde. Wahrscheinlich haben wir uns immer gesagt, dass es momentan nicht die Priorität ist. Darum haben wir nicht genug auf uns selbst und gegenseitig auf uns aufgepasst. Besonders nach dem Putsch im Juli 2013. Nachdem die Hoffnung andauernd so hoch war, dass sich etwas verändert und dass wir in die richtige Richtung gehen, gab es plötzlich diese Enttäuschung. Erst in diesem Moment musste man mit den ganzen Emotionen klar kommen. Das war eine sehr depressive Phase für viele Leute, die über Jahre gelaufen ist. Das hat damit zu tun, dass wir mit Leuten gekämpft haben, die festgenommen, gefoltert wurden oder umgebracht worden sind. Und plötzlich hat man das Gefühl, dass alles umsonst gewesen ist.
Das bedeutet, dass ihr in jedem Moment bis zum Sommer 2013 die Hoffnung hattet, dass sich effektiv etwas ändert, obwohl die Machtausübung der Muslimbrüder sicher auch bedrohlich war?
Die Hoffnung hat überhaupt nichts mit den Muslimbrüdern zu tun. Die Hoffnung war, dass der Staat zu diesem Zeitpunkt immer noch schwach war, seit dem wir 2011 angefangen hatten. Es hatte andauernd Demonstrationen gegeben; wir haben weitergekämpft und das Regime konnte die Situation nicht unter Kontrolle bringen. Das ist es, was uns Hoffnung gegeben hat.
Könntest du erklären, wer es ist, wenn du von «wir» sprichst?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Es waren immer sehr viele verschiedene Leute, die an diesen Demonstrationen und Besetzungen teilgenommen haben. Und ich bin nicht jemand, der sich politisch kategorisieren möchte. Mir ist es lieber, dass die Aktion oder politische Sicht, die Weltansicht, die ich darstelle, für sich selbst spricht. Oft weiss man bei den Demonstrationen nicht unbedingt, wer dabei ist. Oft sind die radikalsten Leute 13-, 14- oder 15-Jährige, die wütend sind, weil sie ihre Freunde verloren haben, aber die auch weniger Angst haben als andere. Aber generell würde ich sagen, dass die Leute, mit denen ich mich identifiziere, diejenigen sind, die immer weiter gekämpft haben, ohne Politik zu spielen, denn von denen gab es auch sehr viele.
Welche Rolle spielen deine Filme?
In der Zeit, in der ich die Kurzfilme gemacht habe, war ich Teil von einem Kollektiv. Wir waren zwischen zehn und fünfzehn Leute, wir waren alle in dieser Revolte. Ein Teil unserer Arbeit war es, diese Videos zu machen und zu verteilen. Aber wir haben das nicht als Journalisten oder Ziviljournalisten gemacht. Für uns war das eine Art von Propaganda, weil wir versucht haben, Leute dazu zu bringen, bei den Demonstrationen mitzumachen, wenn sie nicht schon dabei waren. Wir haben nie versucht, objektiv zu sein. Wir haben vielmehr versucht, unsere Politik und unsere Sicht darzustellen. Die Videos waren immer sofort im Internet. Wir haben oft innerhalb von zwei bis drei Tagen gefilmt, geschnitten und hochgeladen. Für uns war aber das Internet nicht genug. Wir haben immer versucht, Möglichkeiten zu finden, die Filme auch zu zeigen.
Im Sommer 2011 hatten wir begonnen, die Filme auf dem Tahrir-Platz zu projizieren, weil viele der Leute dort kein Internet benützten, und es gab immer sehr wichtige politische Diskussionen während dieser Vorstellungen. 2011, nachdem Mubarak abgetreten ist, waren auch Militärgeneräle für ein paar Monate an der Macht.
Einer der Gründe, warum ihre Regierung so unstabil war, war eine neue Kampagne, die hiess «Die Lügner», wo Bilder gezeigt wurden, wie die Militärs Demonstranten angegriffen haben, denn diese Bilder waren nie zuvor im Fernsehen gezeigt worden. Und diese Bilder wurden auch in der Öffentlichkeit gezeigt, ähnlich wie wir es auf dem Tahrir-Platz gemacht haben. Überall in Ägypten haben die Leute von diesen «Lügnern» gehört und wollten sehen, was diese Bilder zu zeigen hatten. Bilder haben also eine wichtige Rolle gespielt.
In Europa wurde vor allem die Bedeutung der sozialen Medien für die Revolte hervorgehoben?
Das ist als ob dir jemand sagen würde, dein Spaten oder deine Schuhe bewirtschaften dir deinen Hof. Ja, die sozialen Medien sind ein Werkzeug, das wir benützt haben und das in bestimmten Perioden sehr wichtig war, aber ohne Menschen auf der Strasse kann man nichts schaffen.
Wenn du dich weiter in Kairo engagierst, hast du dann Angst um dich oder deine Freunde und Freundinnen, die keinen zweiten Pass haben so wie du?
Ich hatte oft mit der Angst zu tun und das habe ich immer noch, aber das ist die Realität, die wir in Ägypten haben und man muss irgendwie damit umgehen. Und die zwei Pässe helfen auch nicht immer.
Du hast von den 13- bis 15-Jährigen gesprochen. Haben sich die Generationen gemischt und was heisst das für ihre Zukunft?
Ich komme nicht aus einer politisierten Familie, aber fast alle meine Freunde kommen aus solchen Familien. Während der Periode, von der ich gesprochen habe, gab es eine Differenzierung zwischen der Elterngeneration und derjenigen, der ich angehöre. Die ältere Generation hat oft empfunden, dass sie gescheitert sei. Das hat die Jüngeren natürlich unterschiedlich beeinflusst. Aber bei den Wenigsten hat das bedeutet, dass sie nicht 100 Prozent dabei sein konnten, bei dem, was die letzten paar Jahre passiert ist. Viele dieser älteren Generation haben uns kritisiert und haben gesagt, das kann nie funktionieren. Aber ich glaube, die Spaltung zwischen dieser Generation und der unsrigen ist viel kleiner als diejenige zwischen uns und den noch Jüngeren. Ich empfinde schon jetzt einen grossen Unterschied zwischen meiner Generation und denjenigen, die nur um fünf Jahre jünger sind. Ich war 29 Jahre alt im Jahr 2011. Aber es ist so viel passiert und so konzentriert innerhalb dieser paar Jahre, dass die Differenz von fünf Jahren einen grossen Unterschied ausmacht.
Was geschieht mit den Muslimbrüdern?
Sie werden sehr stark verfolgt und die bekannten politischen Symbolfiguren sind alle im Gefängnis. Heutzutage, wenn das Regime jemanden einsperren will, muss es nur sagen, dass es sich um einen Muslimbruder handelt. In Ägypten braucht es dafür keine Beweise, kein Gesetz und keinen Prozess. So ähnlich wie in Chile während Pinochet werden Leute andauernd entführt, von denen wir nichts mehr hören.
Es gibt aber immer noch Gebiete, die der Staat noch nicht völlig kontrolliert. Aber das sind auch Orte, an die ich nicht so einfach hin kann. Es gibt immer noch, wenn auch seltener, kurze spontane Demonstrationen. Das sind sehr lokale Demonstrationen, wo die Leute kurz und schnell auf die Strasse gehen, um ihre Botschaft publik zu machen, aber das hält nie sehr lange. Die Repression ist immer sehr schnell und extrem gewalttätig.
Geniessen die Muslimbrüder in den ländlichen Regionen nicht immer noch viel Sympathie und lässt sich diese wichtige Strömung in der Gesellschaft dauerhaft unterdrücken?
Ich glaube nicht, dass das für immer haltbar ist, aber für den Moment funktioniert das. Eine andere Sache muss man dazu sagen, dass das nicht immer Demonstrationen der Muslimbrüder sind. Es ist nicht schwarz und weiss. Wenn die Muslimbrüder die einzigen sind, die im Moment Demonstrationen organisieren, dann gehen diejenigen Menschen, die demonstrieren wollen, da hin. Das sind oft Leute, die in ärmeren Vierteln leben, aber Geschwister haben, die im Gefängnis sind oder erschossen worden sind. Sie sind aber deshalb nicht unbedingt Mitglieder der Muslimbrüder.
Hat die Repression eine Radikalisierung der Jugendlichen zur Folge? Du und deine Mitstreiter·innen, wie könnt ihr euch euer Engagement für die Zukunft vorstellen?
Ich glaube, die starke Radikalisierungsphase war bis 2013, weil eine solche eher dann stattfindet, wenn es den Konflikt auf der Strasse gibt; das ist nicht nur eine Sache der Repression. Sie kommt dann, wenn man politische Erfahrungen macht.
Die Antwort auf die zweite Frage: In den letzten Jahren gibt es nicht viel, was man in Ägypten politisch machen kann. Die letzte Demonstration, auf der ich war, war im November 2013. Am Tag davor hatte der Staat ein neues Gesetz angesagt, dass wir nicht mehr demonstrieren dürften. Am nächsten Tag haben wir dagegen protestiert und alle Leute, die bei dieser Demonstration festgenommen worden sind, haben zwei bis drei Jahre Gefängnis bekommen. Einige von ihnen sind immer noch im Gefängnis. Und danach hat sich viel geändert. Es gab noch ein paar Demonstrationen für die Leute, die bei jenem Anlass fest genommen worden sind, aber das Risiko ist so gross, dass wir jedes Mal mehr Leute verlieren. Es kamen auch immer weniger Leute zu den Demonstrationen. Ich würde sagen, wir sind in einer Phase, wo wir Kraft schöpfen und auf den nächsten Knall warten. Denn schlussendlich sind meine Freunde und ich Leute aus der Mittelschicht, und es sind nicht wir, die diese Bewegungen anführen oder anleiten.
Hast du nicht Angst, dass die nächste Revolte wieder von den Muslimbrüdern vereinnahmt wird, weil sie sich als die gesellschaftliche Kraft darstellen, die am ehesten den Unmut gegen dieses Regime kanalisieren kann?
Wie ich gerade gesagt habe: Es sind nicht wir, die die Momente der Revolten bestimmen. Es ist ein mögliches Szenario, dass die Muslimbrüder wieder an die Macht kommen. Aber es ist eigentlich egal, weil es bedeutet, dass der Kampf dann einfach weiter geht. Ich bin der Meinung, dass das Regime, wie es jetzt da steht, in einer ziemlich schwachen Position ist. Wenn es wieder zu einem Konflikt kommt, wird es voraussichtlich nicht so einfach sein, diese Situation wieder zu etablieren.
Tonaufnahme: Nicholas Bell Transkription: Gabi Peissl
Ein Hinweis der Archipel-Redaktion: In seinem Text «Ein Affront gegen die Etikette», Ausgangspunkt eines neues Filmprojekts, schreibt der Schriftsteller und Filmemacher Philip Rizk über seine Reise von Berlin bis an die Grenze Syriens im Sommer 2017, inspiriert von Alexander Berkman (1870–1936), Anarchist und wichtige Figur des damaligen Widerstandes gegen den US-amerikanischen und russischen Imperialismus, der vor fast 100 Jahren auf den Schienen der Bagdad-Bahn reiste. Rizks Performance To Go Visiting, mit der sich der Text auseinandersetzt, wurde zuletzt im SALT Istanbul und im Künstlerhaus Bethanien in Berlin gezeigt und kommt am 20. Oktober bei der Kiew Biennale zur Aufführung.
Der Text auf Englisch ist zu finden unter: