AKTUELL: Roma-Ausweisungen: Ein französischer Sonderfall?
Hat Nicolas Sarkozy mit der nunmehr weithin bekannten «Rede von Grenoble» die Büchse der Pandora geöffnet? In der Tat, ein Denken, von dem man glaubte, es wäre den Rechtsextremen und den Phrasendreschern der Stammtische vorbehalten, wird jetzt Regierungsprogramm und den höchsten Sphären des Staates entsprungene politische Devise. Die Jagd auf die Roma ist zum Medienereignis geworden, zur üblichen und in aller Öffentlichkeit ausgeübten Praxis, die jedermann nach Belieben kommentieren kann.
Die französische Regierung versucht verzweifelt, ihr Tief in den Umfragen zu überwinden und wieder Oberwasser zu erreichen. Verwickelt in Affären, unfähig, soziale Konflikte zu lösen und als Gefangener seines Regierungsstils, der auf ständige Effekte baut, meint Nicolas Sarkozy, das Ruder mit fremdenfeindlichen Ausfällen wieder in die Hand zu bekommen.
Der französische Präsident erkor die Frage der inneren Sicherheit und der Roma zum Ausfüllen des Sommerlochs. Die Wahl, die Roma als Sündenbock zu gebrauchen und systematisch zu stigmatisieren, ist jedoch keine französische Besonderheit. Die Regierung übernimmt lediglich ein Rezept ihrer italienischen Amtskollegen. Tatsächlich hat schon Romano Prodi, seinerzeit linkszentristischer Ministerpräsident, von Ende 2007 an Ausnahmevorschriften in Kraft gesetzt, die auf eine Vereinfachung der Abschiebung rumänischer Bürger zielten. Eine dieser Verordnungen, die am 31. Oktober 2007 verabschiedet wurde, erleichterte die Ausweisung von EU-Bürgern. Sie war vor allem dazu bestimmt, unter der rumänischen Minderheit aufzuräumen und betraf mit kaum verhüllten Formulierungen Tausende sich in Italien aufhaltende Roma. Diese Direktive wurde schamlos angewandt, trotz der Verwarnungen seitens der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments. Es war also die Prodi-Regierung, die diese Praxis kollektiver Ausweisung von EU-Bürgern einführte, die nun auch in Frankreich üblich ist. Die Parteien der französischen und anderen Linken hielten und halten sich wohlweislich zurück, einem der ihren zu widersprechen. Damals erklärte der Präfekt von Rom vor Medienvertretern: «Gegenüber Tieren kann man nur mit äußerster Härte vorgehen.» Silvio Berlusconi rieb sich die Hände und nutzte ganz offensichtlich die gegen die Roma gerichtete Offensive für seinen Wahlkampf. Roma sind eine ideale Zielscheibe, besonders seitdem sie durch die politischen Veränderungen in Osteuropa ins Exil getrieben wurden.
Während des Zweiten Weltkrieges vernichteten die Nazis in den Lagern etwa 400.000 Angehörige der Roma – ein Genozid, der bis heute keinerlei offizielle Beachtung gefunden hat, ebenso wenig wie eine Anerkennung deren Engagements im antifaschistischen Widerstand. Die Roma sind die ewig Vergessenen der Geschichte, und ihre Vernichtung durch das Hitlerregime hat auch im Nachhinein keine grossen Emotionen hervorgerufen.
Das Stalin-Regime und seine Epigonen verfolgten die Roma nicht sonderlich. Und obwohl das Ceausescu-Regime ohne Unterlass die Überlegenheit der Rasse der Daker pries, konnten die Roma als Ärmste der Armen damals die Schule besuchen, sich in auf dem Lande ansiedeln, die Erde bearbeiten oder Landarbeiter werden.
Das Ende der Ceausescu-Ära bedeutete die Rückkehr eines öffentlichen Rassenhasses. Von den neuen Machthabern wurden sie für die Verschlechterung und Unsicherheit der Lebensbedingungen, die mit dem wild gewordenen Kapitalismus Einzug hielten, verantwortlich gemacht. In einer Atmosphäre des Rassenhasses entfaltete sich ein Pogromfeldzug im ganzen Land mit in Brand gesteckten Landhäusern, Lynchattacken und Mord. Dieses Aufflammen der Gewalt, die von der neuen Regierung toleriert wurde, blieb der Öffentlichkeit völlig verborgen. Ein Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, veröffentlicht am 23. April 2002, spricht anlässlich der gewaltsamen Konfrontationen, die sich im Laufe der 1990er Jahre zwischen Bevölkerungsmehrheiten und -minderheiten ereigneten, von «Befriedung» – deren Hauptbetroffene war die Gemeinschaft der Roma.
Es wäre zu weitschweifig, wollte man die Liste der Diskriminierungen zitieren, welche die Roma Rumäniens täglich erleiden: Polizeigewalt, Absonderung von Roma-Kindern in den Schulen, Diskriminierung bei der Arbeitssuche, der Gesundheitsfürsorge und bei bestimmten sozialen Hilfeleistungen. Ganz zu schweigen von den Slogans, mit denen nationalistische oder rechtsextreme Parteien um sich werfen, wie Romania Mare, deren Plakate «Tod den Zigeunern» oder «Roma raus aus Rumänien» verkünden.
In Bulgarien erreichte die nationalistische Partei Ataka mit 21,5 Prozent der Stimmen den zweiten Durchgang zur Wahl des Präsidenten am 22. Oktober 2006, nachdem sie dazu aufgerufen hatte, die «Zigeuner zu Seife zu machen».
Rumänien kann die gegen die Roma gerichtete Fremdenfeindlichkeit nicht für sich allein in Anspruch nehmen; in Ungarn, in der Ukraine, in Tschechien, in Skandinavien tritt das Phänomen der Ablehnung ständig neu auf. Deutschland hat im April letzten Jahres mit der Abschiebung von 12.000 Roma in den Kosovo begonnen. Die schwedische Regierung möchte das «Betteln in Gruppen» mit Ausweisung und drei Jahre währendem Aufenthaltsverbot bestrafen.
Man sieht, dass Nicolas Sarkozy bei weitem keine Einzelerscheinung ist. Er steht emblematisch und als Karikatur für die Machtausübenden in Europa, die ihre Unfähigkeit demonstrieren, tragfähige Lösungen für zunehmend härter werdende Lebensumstände zu finden. Dazu gibt der die Roma stigmatisierende Diskurs, nach Belieben wiederholt, dem Rassismus neue Legitimität, und es wird zunehmend schwieriger, ihn einzudämmen. Die Regierungen haben eines gut verstanden: Die Roma rufen bereits Ablehnung bei einem Grossteil der Bevölkerung hervor. Warum diese also nicht noch verstärken, um Einmütigkeit zu erreichen? Argumente, die Roma seien kriminell, sie würden mafiösen Netzwerken angehören, ihre Integration ablehnen und folglich für die Unsicherheit verantwortlich sein, sind landläufiges Gedankengut.
Abschiebungen nach Rumänien oder Bulgarien gibt es nicht erst seit gestern. Seit dem Machtantritt von Nicolas Sarkozy und der Anwendung der Quoten-Politik für die Abschiebungen – festgelegt auf 30.000 Personen pro Jahr, die abgeschoben werden müssen – wurden jährlich 10.000 rumänische und bulgarische Roma ausgewiesen, also ein Drittel der jährlichen Rückführungen. Die Roma dienen seit längerer Zeit schon als «Reserve», was den Irrwitz dieser Politik erkennen lässt: Der französische Staat schiebt im Namen des Kampfes gegen die illegale Einwanderung den Schwarzen Peter EU-Einwohnern zu, die im Prinzip das Recht auf Bewegungsfreiheit haben.
Die Tatsache, dass die Roma oft in behelfsmäßigen Elendssiedlungen zusammenleben, macht sie zur leichten Beute. Obwohl die Regierung ihre Razzien relativ diskret durchführt, kann sie sich doch damit brüsten, ihre Versprechen einzuhalten und die vorgesehene Zahl von Ausländern auszuweisen. Eine Politik, die zynisch, aber wirkungsvoll ist.
Mit seiner Rede in Grenoble vom 30. Juli diesen Jahres macht Nicolas Sarkozy die Roma geradeheraus zu Schuldigen und vergisst dabei nicht, sie mit den Gitans und anderen Fahrenden in einen Topf zu werfen. Wenn wir die Sans Papiers beiseite lassen, werden die Roma zum Staatsfeind Nummer eins, der die Landschaft mit wilden Lagerplätzen übersät. So macht die zur Schau getragene Fremdenfeindlichkeit gegenüber einer von allen Seiten zurückgestoßenen Bevölkerungsgruppe glauben, die Regierung würde handeln. Die Pseudo-Übereinstimmung zwischen den französischen und rumänischen Ministern über die Rückkehrhilfe und die «humanitäre Wiedereingliederung» der Roma in ihrem Herkunftsland ist nur Maskerade: Man hat gesehen, welche Wertschätzung die Regierenden in Rumänien und Bulgarien ihren Roma-Mitbürgern entgegenbringen. Sarkozy hat darauf spekuliert, dass eine Einmütigkeit am besten auf dem Rücken der Roma entstehen kann. Damit hofft er, von anderen Problemen ablenken zu können.
Das Niederreißen der Lager und die Rückführung von einigen Tausend Roma lässt unter anderem vergessen, dass in Frankreich 600.000 Wohnungen fehlen und dass schätzungsweise 230.000 Personen in Elendssiedlungen leben.