Man sollte glauben, über den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg wurde schon alles gesagt. Die jetzt zugänglichen ostdeutschen Archive ermöglichen den Historikern jedoch nun, die Geschichte zu aktualisieren, unbeschriebene Seiten zu füllen und bereits abgeschlossene Auseinandersetzungen wieder aufzunehmen, sofern sie nicht durch die kürzlich aufgekommenen ideologischen Schlammschlachten beeinträchtigt sind: Verleugnung oder religiöse Verbrämung des Völkermords an den Juden, Banalisierung oder Rechtfertigung des Nazikrieges durch die „bolschewistische Barbarei", Rehabilitierung der Kollaborateure in den baltischen Ländern, in Weißrussland, in der Ukraine oder in Kroatien durch nationalistische Kreise, die angesichts der NATO- und EU-Osterweiterung von westlicher Milde profitieren. Man könnte noch die Rolle der Kirchen hinzufügen, z. B. des Vatikans, wiederbelebt durch den Film „Amen" von Costa-Gavras, ebenso wie der katholischen Kirche in Kroatien und der uniatischen Kirche in der Ukraine. Doch das ist nicht das Anliegen von Christian Gerlach.
Nun zum Inhalt des Buches: Wenig bekannt sind die näheren Umstände der Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941, die von deutschen und auch russischen Revisionisten als „präventive Maßnahme" Adolf Hitlers gegen die expansionistischen Bestrebungen Stalins dargestellt wird. Die ältesten nationalsozialistischen Dokumente (beginnend 1923 mit „Mein Kampf") und die kürzlich eröffneten Archive zeigen ohne den geringsten Zweifel die Invasions- und Kolonialisierungspläne des Ostens durch die Nazis auf. Die UdSSR sollte zerstört und ihre Bevölkerungen – ob jüdisch oder nicht – ausgerottet werden. Darüber schreibt Gerlach.
Wie viele Schüler oder aufgeklärte Leser wissen, dass 1941, also vor der Entscheidung der „Endlösung der Judenfrage", drei Millionen Menschen getötet worden waren – davon 900.000 Juden und 2.000.000 sowjetische Kriegsgefangene, ohne die vielen im Kampf gefallenen Soldaten der Roten Armee zu zählen? Unter den Opfern befanden sich auch die „Kommunisten" und die „Kommissare" (Politikommissare der Roten Armee). Juden und Kommunisten waren übrigens auch schon vor der Invasion den Übergriffen nationalsozialistischer Einsatztruppen und ihrer Alliierten im Baltikum und der Ukraine ausgesetzt, welche systematisch Pogrome organisierten. Später griffen die Besatzungstruppen die Partisanen an und organisierten die Blockade von Leningrad. Die Vernichtungspolitik zielte ebenfalls auf die Serben ab und zwar mit Unterstützung der kroatischen Ustaschi. Aber wer spricht heute noch vom Völkermord an den slawischen „Untermenschen"?
Der Tod von zwei Millionen sowjetischen Gefangenen innerhalb weniger Monate war die Folge einer geplanten Hungersnot, ausgelöst durch die Plünderung der landwirtschaftlichen Ressourcen in den besetzten Gebieten der UdSSR. Ein Großteil der Nahrungsmittel und später auch des Viehbestandes wurde nach Deutschland transportiert. Im Juni 1941, also vor der Invasion, prognostizierte Himmler, dass der Krieg ungefähr 30 Millionen sowjetische Opfer fordern werde. Das Prinzip der organisierten Hungersnot wurde anschließend an den Juden angewendet. Gerlach verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dieser Vernichtungsmethode und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den besetzten Gebieten. Im Januar 1942 wurde auf der Wannseekonferenz die Endlösung beschlossen. Neben der Hungersnot und den Massenexekutionen in der UdSSR wurde die Gaskammer zum effizientesten Liquidationsinstrument. Das Werk Gerlachs bringt neue Erkenntnisse über die Technologie der Vergasung und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers sowohl auf die Intentionen als auch die wirtschaftliche Funktion des Völkermordes an den Juden.
Christian Gerlach
Krieg, Ernährung, Völkermord
Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg
Pendo Verlag GmbH Zürich 2001