Im Herbst 2000, als mit der Ladung der Brennstäbe im südböhmischen AKW Temelin begonnen wurde, entstand eine Protestbewegung, die für die Öffentlichkeit völlig unerwartet war. Zwar verfolgte die österreichische Bevölkerung seit dem Unfall 1986 in Tschernobyl den Bau des in den achtziger Jahren noch vom kommunistischen Regime in Auftrag gegebenen AKWs mit Sorge. Lange Zeit aber hatte es geschienen, als würde der Bau ohnehin nie fertiggestellt werden.Im Österreich nach 1945 wurde neben der Neutralität auch die Ablehnung der Atomenergie zum Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses. Vorausgegangen war 1978 ein Referendum, bei dem die Inbetriebnahme des schon schlüsselfertigen AKWs in Zwentendorf bei Wien abgelehnt wurde. Tschernobyl war für diese Entscheidung nur mehr Bestätigung.
Anders als in Österreich hat man in Tschechien kaum ein Problem, in die Zeit vor 1945 zurückzublicken. Im Gegenteil existiert in Tschechien, beginnend mit der Verbrennung des Kirchenreformators Jan Hus 1415, ein Geschichtsbild, das die eigene Nation in einer langen Tradition des Widerstands gegen einen feindlich gesinnten großen Nachbarn sieht (Deutschland und das von ihm ähnlich wahrgenommene Österreich, das anders als Tschechien seine protestantische Vergangenheit und die gewaltsame Re-Katholisierung vergessen hat). Insbesondere die Grenzblockaden und das Gefühl, eingekreist zu werden (wie schon unter Hitler), bewirkten vor diesem historischen Hintergrund in Tschechien eine Abwehrhaltung, die von der Anti-AKW-Bewegung anfangs völlig unterschätzt wurden.
In Tschechien existiert so etwas wie eine Urangst, als Nation in der eigenen Identität bedroht zu sein; aus den historischen Erfahrungen heraus verständlich. Anfang September 2000 wurde also von der österreichischen Grenzbevölkerung bei Freistadt erstmals ein Straßengrenzübergang blockiert. Dieser Akt des zivilen Ungehorsams wurde damals auch in der tschechischen Bevölkerung als solcher gewertet und änderte vorerst nicht sehr viel an der Haltung in Tschechien zu Temelin. Grundsätzlich war es den Menschen dort bis dahin eher ein unwichtiges Thema. Sie hatten mit dem Alltag genug Sorgen und akzeptierten mehrheitlich das auch bewusst von der Atomlobby gestreute Argument, dass Temelin nun schon soviel gekostet hätte, und dass es keinen Sinn mache, dieses Projekt nun, da es fast fertig sei, zu stoppen. Die Begeisterung für das AKW hielt sich aber in Grenzen, obwohl nicht wenige Arbeitsplätze in der Region von Temelin abhingen und die Betreiberfirma CEZ massiv in Imagekampagnen investierte und als großzügiger Sponsor auftrat.
Als der Bürgerwiderstand im Land Oberösterreich aber immer stärker wurde (manchmal kamen über 10.000 Leute zu den Treffen an der Grenze), und sich die Menschen in der Peripherie zunehmend nicht mehr von ihren Politikern in Wien vertreten fühlten, bekam die ganze Bewegung eine neue Dimension. Waren ursprünglich die Aktivitäten im Widerstand gegen das AKW-Temelin hauptsächlich von der O.Ö. Landespolitik getragen (ein wesentlicher Impuls dazu war 1997 der Einzug der Grünen ins Landesparlament), begann nun rasch eine regionaleVerselbständigung der Aktivitäten. Schon lange existierte die „O.Ö. überparteiliche Plattform gegen Atomgefahren“, das Land Oberösterreich installierte dazu offiziell mit Radko Pavlovec, einem gebürtigen Tschechen und Emigranten aus der Zeit vor 1989 einen Landesbeauftragten für die grenznahen Atomanlagen. Der „Kampf gegen die Atomgefahr“ bekam in O.Ö. eine breite politische Absicherung, damit aber auch Steuerung im Sinne einer konservativ geprägten „Verteidigung der Heimat“.
In den österreichischen Medien wurde zunehmend vom „Schrottreaktor“ Temelin gesprochen, in Tschechien hingegen immer wieder betont, dass das Kraftwerk durch den Einbau westlicher Technologie internationalem Höchststandard entspreche. Solange der Reaktor nicht gestartet war, schenkte der überwiegende Teil der Bevölkerung in Tschechien dieser Argumentation Glauben, u.a. auch deshalb, weil bei vielen österreichischen Aktivitäten kaum Wert darauf gelegt wurde, wie sie in der tschechischen Öffentlichkeit aufgefasst wurden. In Österreich wurde gefordert, dass Tschechien technische Dokumente zur Verfügung stellen müsse. Das wurde von Prag teilweise abgelehnt, wobei das Verhalten des sozialdemokratischen Premiers Zeman an Arroganz tatsächlich kaum zu überbieten war. In der eigenen Bevölkerung wurde diese Arroganz aber lange als adäquate Reaktion auf ein als ähnlich arrogant empfundenes Österreichbild angesehen. In beiden Ländern kam durch die Protestaktionen die politische Elite zunehmend unter Druck. In Österreich bewirkte das eine schroffe Haltung der konservativ-reaktionären Regierung gegen Prag. Die momentane Auseinandersetzung eignete sich ja hervorragend als Revanche dafür, dass Prag die Sanktionen der EU gegen die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ unterstützt hatte. Die Wiener Regierung hatte aber unterschätzt, daß es in Oberösterreich den Leuten primär doch um Temelin ging, nicht m politische Spiele in Wien. Ganz wesentlich war in dieser Phase Josef Neumüller, der es, mit einer Tschechin verheiratet und etwas tschechisch sprechend, schaffte, als unabhängiger Sprecher der Bewegung bis tief in konservative Kreise hinein anerkannt zu werden, ohne dadurch Grüne und linke Ökologen völlig zu verschrecken. Als dann nach mehreren tage- und wochenlangen Grenzblockaden, u.a. über die komplette Linie zwischen Österreich und Tschechien hinweg, in der tschechischen Grenzregion ein absoluter Stimmungsbruch eintrat, die anfängliche Sympathie mit dem österreichischen Protest umschlug in eine echte Empörung, begannen auf beiden Seiten der Grenze Denkmuster zu greifen, wie sie aus der Diktion, die am Ende der Donaumonarchie vorherrschte, bekannt sind. Mit Globalbegriffen wie „die Österreicher“ und „die Tschechen“ schaukelten sich historische Vorurteile auf und führten zu einem Schulterschluss hinter den jeweiligen nationalen „Leithammeln“. Nicht nur, dass sich zunehmend der Ton über die Medien verschärfte, kam es auch zu echten Zwischenfällen. So gab es z.B. Bombendrohungen gegen die Organisatoren der Grenzblockaden, die in dieser Phase bis auf wenige Ausnahmen eine reine Sache der österreichischen Seite blieben und anfangs auch von den Behörden unterstützt wurden. In Tschechien organisierten die Kommunisten im Wahlkampf eine symbolische Blockade einer österreichischen ÖMV-Tankstelle und hatten damit politisch Erfolg. Tschechische Krankenschwestern, die im österreichischen Linz arbeiteten, mussten feststellen, dass ihr Auto kaputt gemacht worden war. Es erschienen Schilder in tschechischen Geschäften mit der Aufschrift „Eintritt für Österreicher verboten“.
Teil zwei wird sich mit dem politischen Mißbrauch der Anti-AKW-Bewegung durch europafeindliche Kräfte beschäftigen, und damit, welchen Ausweg aus dieser Umklammerung die Bewegung gefunden hat. Aufbauend darauf ist eine Vernetzung nach Frankreich durchaus erwünscht. Eine kleine Vorschau finden Sie unter www.energiepartnerschaft.org
Bernhard Riepl ist Mitglied der Grünen O.Ö. und Gründer von „Gemeinsam für Sonne und Freiheit“.