Interview mit Ivana Spasic, Institut für Sozialtheorie und Philosophie, Belgrad
J. L.: Der Sturz Milosevic‘s liegt jetzt fast eineinhalb Jahre zurück. Neue Männer haben die Macht in der serbischen und Bundespolitik übernommen, was in den westeuropäischen Ländern als eine einschneidende Veränderung wahrgenommen wird. Hat sich tatsächlich etwas geändert, beispielsweise im Stil der Regierenden? I.S.: Ja, ich denke, wir können definitiv von einer Veränderung reden. Wenn solche Veränderungen auftreten, fällt es schwer, klar zwischen der objektiven Wirklichkeit und der zu unterscheiden, die in den Medien, in der Öffentlichkeit und in den Köpfen ganz normaler Menschen konstruiert wird. Die Einstellungen gegenüber der neuen Regierung sind ziemlich breit gestreut. Es gibt sehr scharfe Kritiker und Skeptiker, die weiterhin behaupten, dass die neuen Politiker sich wie die alten verhalten – dass sie korrumpierbar seien, dass sie Geld lieben und sehr gerne an der Macht seien. Ich denke, dass diese Gruppe eine Minderheit ist.
Die breite Öffentlichkeit – und diese Sichtweise teile ich – hat eher gemischte Gefühle. Gleichzeitig betont sie jedoch, dass es substantielle Veränderungen gibt; das bezieht sich vor allem auf das Verhältnis der neuen Machthaber zu den Problemen, mit denen sie konfrontiert sind. Das ist wohl die wichtigste Sache. Die Milosevic-Regierung hat vor allem Probleme geschaffen, die es nicht unbedingt hätte geben müssen. Andererseits waren sie unfähig, die wirklichen Probleme in Staat und Gesellschaft zu lösen. Damals wurden solche Problem einfach unter den Teppich gekehrt oder noch verschärft. Das deutlichste Beispiel ist die Situation im Kosovo, die bereits in den späten Achtzigern kompliziert war, als Milosevic an die Macht kam – und sie war eine der Grundlagen der nationalistischen Mobilisierung, mit der er die Führung in Serbien übernahm. Die feindliche Stimmung zwischen Serben und Albanern im Kosovo und die Einstellung der albanischen Minderheit zum serbischen Staat – da gibt es soviel Spannungen, die es vorher nicht gab und jede Regierung mit einem Minimum an Verantwortungsgefühl würde dieses Problem sehr ernst nehmen. Milosevic und seine Clique wählten jedoch an jedem Punkt die schlechteste Möglichkeit. Sie trieben die Krise beständig voran und die zwei Ethnien immer weiter auseinander. Das endete dann mit einem Krieg.
Ich möchte das als die wichtigste Sache hervorheben, dass diese Regierung sich den Problemen stellt und – bis zu einem gewissen Grade – der Öffentlichkeit ganz offen mitteilt, wie schwierig die Lage ist und dass die Lösungen Opfer von uns allen verlangen werden. Zum andern jedoch sind sie selbst nicht wirklich ausreichend opferbereit.
Es gibt einen Aspekt, der zumindest auf einige der neuen Leute an der Spitze zutrifft. Das sind solche, die weiterhin darauf bestehen, schöne Autos, teure Uhren zu haben und ihre eigenen Geschäfte zu machen und so weiter. Ich würde das aber nicht zu sehr betonen, denn das ist irgendwie Teil der politischen Folklore in Serbien, einer immer noch sehr patriarchalischen Gesellschaft, zu der gehört, dass jeder, der "oben" oder "Jemand" ist, von denen "unten" beneidet wird.
Ich möchte auch die Bereitschaft der neuen Regierung betonen, sich friedlicher Mittel zu bedienen. Besonders deutlich und erfolgreich umgesetzt wurde das in Südserbien, als der Ausbruch eines weiteren Krieges drohte. Die Leute, die beauftragt wurden, dort die Gespräche zu führen, waren sehr geschickt und geduldig. Gerade auch Nebojsa Eovic, der einmal zu Milosevic’s Mannen gehörte aber seine Fähigkeiten wesentlich besser einsetzt.
J.L.: Wie wird diese Art von Politik – die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal, der Versuch einer friedlichen Lösung des Konflikts im Presevo-Tal – in der Öffentlichkeit wahrgenommen? I.S.: Es ist schwierig verallgemeinert zu sagen, was die Menschen denken, was ihre Haltung ist. In der Öffentlichkeit sind nur einige namhafte Personen wahrzunehmen, beispielsweise Intellektuelle, Professoren, Schriftsteller und so weiter; die sind weitaus lauter als gewöhnliche Leute. Bei diesen Intellektuellen gab es ein starkes nationalistisches Moment, das auch heute noch recht lebendig ist und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Stützt man sich auf diese Stimmen, müßte man sagen, dass sich das Ausnüchtern vom Nationalismus sehr langsam und unvollständig vollzieht – auf der eher "unsichtbaren" Ebene der normalen Leute, die nicht in Zeitungen oder bei Podiumsdiskussionen im Fernsehen erscheinen, ist die vorherrschende Stimmung so, dass sie einfach genug vom Krieg haben. Es gibt eine höhere Schwelle als früher, was ihre Aufnahmebereitschaft in punkto Verletzung der Souveränität oder nationaler Interessen betrifft. Die Leute sind viel mehr vorbereitet, Kompromissen zuzustimmen, wenn sich damit ein weiterer Krieg verhindern lassen sollte.
Diesen Wandel hin zu friedlichen Lösung vom Problemen, zu Gesprächen und Verhandlungen, ist überall zu spüren. Nicht in den führenden Zeitungen oder theoretischen Abhandlungen, sondern in vertraulichen Gesprächen, auf den Märkten oder in den Bussen.
J.L.: Sie arbeiten derzeit an einer Untersuchung, deren Grundlage mehr als 300 Interviews sind, die im vergangenen Herbst in ganz Serbien geführt wurden. Wie nehmen die Leute die politischen Veränderungen in ihrem persönlichen Leben wahr? I.S.: Die meisten sagen zuerst, dass sie dachten, die Veränderungen würden einen schnelleren Anstieg ihres materiellen Lebensstandards bedeuten. Dazu ist es, objektiv gesehen, nicht gekommen. Die Währung ist stabiler geworden, das heißt auch etwas Gutes – aber andererseits werden die Preise nicht mehr von der Regierung kontrolliert, was höhere Preise für die Grundnahrungsmittel bedeutet. Aber nie, wenn jemand seine eigenen enttäuschten Erwartungen benennt, geht diese Enttäuschung soweit, dass es ihn oder sie zu möglichen Alliierten einer Anti-Reform-Bewegung machen würde.
Die meisten der von uns interviewten Leute sind sich über ihren Anteil an diesem serbischen Desaster im klaren. Bewusst oder unbewusst wissen sie, dass viele von ihnen Milosevic und seine nationalistischen Aufmärsche unterstützten. Und sie stellen eine Verbindung her zwischen ihrer politischen Entscheidung als Staatsbürger und den Ereignissen der neunziger Jahre, wie katastrophal diese Politik allein schon für die Serben war. Sie machen diese Verbindung und versuchen, ihr Gewissen jetzt zu bereinigen und zu sagen "Vergiss es einfach!" Und Milosevic stecken sie dann auch in dieses Paket, auf dem "Böse" steht, was wir also vergessen wollen. Das ist aus ethischer Sicht nicht korrekt, weil wir eben über die Verbrechen reden müssen, die Serben an anderen verübt haben. Die Bereitschaft der Menschen dazu ist jedoch gering, das ist wahr. Es hat aber auch eine gute Seite, die auf die Zukunft ausgerichtet ist; sich zu erinnern, was es bedeutet, für einen vernünftigen Lohn zu arbeiten; was es bedeutet, eine Bank zu haben, zu der man sein Geld bringen kann anstelle es in einer Matratze oder im Fußboden verstecken zu müssen.
J.L.: Hat der Sturz von Milosevic auch in die Richtung gewirkt, dass sich die Menschen im Land wieder mehr als Bürger, als "citizens" definieren? I.S.: Die Menschen hier haben in einem recht entwickelten, ausgefeilten repressiven Regime gelebt. Es gab keinerlei Verbesserungen auf materieller Ebene und zugleich konnten die Leute nicht reden oder zu anderen Parteien als denen des Regimes gehören. So war es doch eigentlich – es gab zwar formell Oppositionsparteien, sie wurden jedoch ständig verfolgt, vor allem in den kleinen Städten außerhalb Belgrads, wo jeder jeden kennt. Nach diesen Erfahrungen bewerten die Menschen ihre Freiheiten wesentlich mehr als früher. Sie wissen jetzt was es bedeutet, Polizei zu haben, die dazu da ist dir zu helfen anstatt dich zu verprügeln, weil du Plakate der Opposition geklebt hast. Ich denke, das ist ein wesentlicher Kern, aus dem die serbische Zivilgesellschaft wachsen kann. Auch unter Tito gab es nicht die institutionellen Voraussetzungen, um ein "citizen" zu werden. Zuerst gab es das Ein-Parteien-System und dann dies unechte, gefälschte Mehrparteien-System unter Milosevic mit mehr Unterdrückung als während des "Realsozialismus".
Eine unsere Hypothesen am Beginn dieser aktuellen Untersuchung war, dass sich aus der Schuld der Wählerschaft beinah spontan eine demokratische Schwelle gebildet hat – nicht von oben verordnet, nicht von den Spitzen der Oppositionsparteien. Es gibt jetzt eine Linie, die keine Regierung mehr übertreten kann. Es wird Widerstand geben, um allzu großen Machtmissbrauch zu verhindern, weil sich die Menschen schon so oft die Finger verbrannt haben. Sie wissen aus eigener Erfahrung, wohin es führen kann. Wenn man eine Regierung auch unrechte Dinge tun läßt, dann will sie mehr und mehr und zertrampelt dein Privatleben, deine eigene Existenz. Ich denke, dass es nach diesen Erfahrungen irgendwo in den Menschen diese Linie gibt.
(Das Interview wurde im Januar 2002 geführt)