Sechzig lange Jahre sollten vergehen, bevor es eine ernsthafte Erwähnung der Repression gegen Aufständische in Algerien durch die französische Kolonialmacht am «Tag der Befreiung Frankreichs», dem 8. Mai 1945, gab.
Warum spricht man soviel davon dieses Jahr? Frankreich möchte zweifelsohne dieses Kapitel erledigt wissen zum Zeitpunkt, da sich neue Abkommen mit Algerien anbahnen, aber auch, weil in der jetzigen Periode der «Globalisierung» die bisher kaschierte Eigenart des Gedenkens wieder entdeckt wird. Hinzu kommt die Arbeit von hartnäckigen Historikern, von Aktivisten und Zeugen, die sich für das Eingeständnis dieser «Geschichtsverleugnung» stark gemacht haben.
Da hat in dem ersten französischen Film, der sich diesem Drama widmet, «Les massacres de Sétif, un certain 8 mai 45» (Die Massaker von Setif an einem gewissen 8. Mai 45) von Mehdi Lalaoui und Bernard Langlois, der alte Lounes Hanouz Tränen in den Augen. Er, der stolz war, in der französischen Armee gegen die Nazis zu dienen, er, der einer der profranzösischen Algerier war, einer von denen, die mit der Kolonisation auch Zugang zu einer großen Kultur erhielten, er, der glücklich war, in sein Douar zurückzukehren, stößt auf ein zerstörtes Haus, die Bibliothek mit den gesammelten Werken von Rousseau, Voltaire, Montaigne, Hugo ist geplündert und gebrandschatzt. Auch von der Ermordung seines Vaters und seiner vier Brüder durch die Kolonialsoldaten und -milizen sollte er dort erfahren. Man hatte sie aus der Höhe lebendig in die Schlucht von Kherrata gestürzt.
Da weint der alte Lounes und sagt: «Mein einziger Trost ist, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht kommt und Frankreich zugibt, uns Böses getan zu haben.»
Frankreich beginnt, dieses Böse einzugestehen; sein Botschafter in Algier hat von einer «unentschuldbaren Tragödie» gesprochen. Die Repräsentanten Frankreichs streben eine Wiederannäherung mit Algerien an, das nach wie vor über große Energiereserven verfügt und mit dem sie sich über den Versuch verständigen wollen, die Einwanderung «in den Griff» zu bekommen. Die Bindungen zwischen beiden Ländern sind immer noch sehr stark und teilweise undurchsichtig. Obwohl Frankreich dieses Verhältnis in bestimmter Hinsicht dominiert, so in der Diplomatie oder der Wirtschaft, kann doch auch Algier ernsthaft Druck ausüben. In der französischen Regierung weiß man, dass der militärische Sicherheitsdienst Algeriens hinter gewissen Attentaten steht, die sich 1995 in Paris ereigneten und den Islamisten zugeschrieben wurden. Selbst öffentlich kann daran gezweifelt werden dank der Einzelheiten, die Rivoire und Aggoun in ihrem 2004 publizierten Buch «Françalgérie» darlegten. In dem Fall ging es um das Ausüben von Druck auf Paris, um die Regierung zu zwingen, mit dem Regime der algerischen Generäle auf einer Linie zu bleiben in dem Moment, da der «schmutzige Krieg» in Algerien in aller Munde war.**
Frankreich und Algerien sind also bereit, die Vergangenheit zu bemühen - für ein besseres Arrangement in der Gegenwart. Aber - die Bemühung ist beschränkt.
Als der algerische Präsident Bouteflika am vergangenen 8. Mai übers Ziel hinausschoss, indem er die koloniale Unterdrückung mit dem Nazi-Regime verglich, indem er von Völkermord an Algeriern sprach und von KZ-Krematorien, als er die Kalköfen meinte, die zur Einäscherung der Leichen von Aufständischen dienten, hat die französische Regierung beschwichtigt. Sie berief sich auf den Bedarf an «gegenseitigem Respekt» . Frankreich hat, wegen offizieller Schwierigkeiten, immer noch nicht alle Greueltaten der Kolonialzeit zugegeben, die in Algerien und anderswo begangen wurden, weil ein Staat sich eben schwer tut, Fehler einzugestehen und weil die Nostalgiker eines französischen Algerien im Land immer noch zahlreich sind. Sie haben Abgeordnete, die ihnen dermaßen wohlgesonnen sind, dass sie kürzlich gar für einen Paragraphen stimmten, der Bildungseinrichtungen per Gesetz vorschreiben könnte, die Kolonisation zu rühmen, «besonders der im Maghreb» . Auch sie bemühen sich also um ihr Gedächtnis, selbst wenn sie Kultur und Entwicklung dort sehen, wo es vor allem Ausbeutung und soziale Ausgrenzung gab…
Die Repräsentanten Algeriens bestehen nicht so nachdrücklich auf voller geschichtlicher Wahrheit.
Präsident Bouteflika hat kürzlich seinem Ministerrat das Buch von Pierre Péan über die Eroberung Algeriens im Jahr 1830 empfohlen, welches aufzeigt, «wie Frankreich sich auf Kosten Algeriens bereichert hat» , er geht jedoch umsichtig vor in Bezug auf den 8. Mai 45. Obwohl seine Rede gegenüber Frankreich sehr harte Äußerungen enthielt, hat er es nicht für nötig gefunden, der Gedenkfeier von Sétif am selben Tag beizuwohnen. Wie auch immer, der 8. Mai 45 ist der wahre Beginn des Befreiungskrieges, und nur aus politischen Gründen halten die algerischen Machthaber am Datum des 1. November 1954 fest.
Der 8. Mai brachte für zahlreiche Algerier das Wanken der Unterdrückung und den Beginn der Unabhängigkeit, seitdem gaben sie sich nicht mehr mit Hypothesen von Autonomie oder sonst einer föderativen Verbindung mit Frankreich ab. So wie der große Poet Kateb Yacine es auf seine Weise ausdrückt: «Ich bin von einer wahnsinnigen Mutter geboren. Sie war genial, edelmütig und schlicht. Und Perlen flossen von ihren Lippen. Ich habe sie aufgelesen ohne ihren Wert zu kennen. Nach den Massakern von 1945 habe ich gesehen, wie sie wahnsinnig wurde. Sie ist die Quelle von allem.»
Wenn die algerischen Generäle auch daran festhalten, dass die Attentate des 1. November 1954 als Auslöser des Unabhängigkeitskampfes gelten, bleibt doch einer der Gründe, die jene «Ereignisse» provozierten, dass die Aktivisten der Nationalen Befreiungsfront FLN den Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Messali Hadj, damals ignorieren wollten. Der aber war die Schlüsselfigur für die Demonstranten des 8. Mai 1945.
Von 1954 an sollte der Befreiungskrieg gegen Frankreich begleitet werden von einem Krieg zwischen der Hadj-Partei und der FLN, ebenso blutig, geführt aus Machtgründen, wegen strategischer Uneinigkeit und Streit um die politische Kultur; es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen. Noch heute wird der Name Hadj in Algerien nur widerstrebend ausgesprochen. Den derzeitigen Machthabern bereitet es Schwierigkeiten, den Befreiungskrieg* umfassend * zur Sprache zu bringen, denn die vielen Opportunisten unter ihnen wollen die Geschichte für sich zurechtbiegen.
Am 8. Mai 45 war eine der wesentlichen Forderungen der Demonstranten die nach der Befreiung von Messali Hadj aus dem Gefängnis.
Die Demonstration artete aus, als ein Polizist den Träger der Unabhängigkeitsfahne umbrachte. Die Fahne, die er trug, war die der Hadj-Partei, die Frau von Hadj, eine Französin, hatte sie entworfen. Später wurde sie die Fahne Algeriens. Nach diesem Mord und der ins Chaos entglittenen Demonstration wurden an die Hundert Europäer von Algeriern mit einem unbeschreiblichen Sadismus massakriert. Resultat einer enorm gesteigerten Verbitterung, aber auch der Hoffnung auf einen über die Region Kabylei hinausgehenden allgemeinen Aufstand. Doch vergeblich.
Im November 1954 sollte Messali Hadj Opfer der von der FLN-Jugend verfolgten Strategie werden; diese stellte auch seine Autorität in Frage. Sie spekulierte auf die Repression, die ihren Taten dann auch folgte,* um sich «dubioser Politiker»* zu entledigen, jener nämlich der Generation von Hadj, wie der Führer des FLN und erster Präsident Algeriens, Ben Bella, meinte.
Ist eine Provokation geeignet, die Geschichte voranzutreiben? Eine große Frage, die mitten im Geschehen viel schwieriger zu beantworten ist, als vom Schreibtisch aus, also hüte ich mich, sie anzuschneiden…
Zurück zum 8. Mai 45: Nach dem Gemetzel an den Europäern war der Rachefeldzug der Franzosen entsetzlich. Die französische Armee nahm daran teil, der Historiker Jean Charles Jauffret macht jedoch deutlich, dass die Bürgermilizen am grausamsten vorgingen. Besonders die von Guelma unter Führung des Unterpräfekten Achiary. Die Zahl der Toten ist unbekannt. Gewöhnlicherweise liegen die Angaben zwischen 3.000 und 15.000; da es jedoch keine Standesämter gab, ist es nicht möglich, etwas zu belegen außer der von Jauffret und anderen gezählten 3.000 Leichen. Zudem versteckten die Familien ihre Verletzten und die Körper der «Vermissten», um sich nicht zu verraten. In seiner Rede sprach Bouteflika von 45.000 Toten. In Wahrheit ist das die Zahl der Aufständischen. Der algerische Präsident machte sich nicht einmal die Mühe, dies bei dem algerischen Historiker nachzuprüfen, der sich intensiv mit der Materie auseinandergesetzt hat: Boussif Mekhaled.
Einen weiterer Grund, warum dieses Drama der Kolonialzeit so lange vertuscht wurde: Achiary war in der Résistance. Es ging also darum, nichts Schlechtes über die Résistance laut werden zu lassen,* zumal in jener Zeit, wo man glauben sollte, Frankreich habe weitgehend der Okkupation widerstanden. Man muss sich vorstellen, dass damals in politischen Kreisen die Überzeugung herrschte, die algerischen Aufrührer wären «Hitler-Freunde»* gewesen, wirkliche oder manipulierte.
Glücklicherweise sollte einer der Großen der Résistance, der bei der Landung der Amerikaner in Algier 1942 eine entscheidende Rolle spielte, zu den Wenigen gehören, die zur Ehrenrettung beitrugen: José Aboulker. Im Juli 1945 zum Abgeordneten der Französischen Beratenden Versammlung gewählt, erhob er lauten Protest und forderte schließlich, den Algeriern das Wahlrecht zu gewähren. Daraufhin fragte ihn ein angesehener Vertreter der Kommunisten, Jacques Duclos, ob das nicht etwas zu früh und etwas zu viel wäre. Aboulker sollte später, in dem Film von Lallaoui, entgegnen, dass es vermutlich zu wenig und zu spät gewesen ist.
Über die Frage nach «Entschuldigung» und «Reue» hinaus, die heutzutage die Rituale des Frei-Von-Schuld-Machens in unseren Gesellschaften bestimmen, geht der Versuch zu verstehen, wie es dazu kommt, dass meist zu wenig und zu spät eingestanden wird, wenn Lektionen aus der Geschichte zu ziehen sind.
Alex Robin
Radion Zinzine