FRANKREICH: Der neue "Front Populaire"

de Bernard Schmid, Paris, 10 sept. 2024, publié à Archipel 339

Wir sind natürlich ausgesprochen erleichtert, dass der «Nouveau Front Populaire» die Wahlen gewonnen hat. Die Mobilisierung, um eine rechtsextreme Regierung zu verhindern, war enorm. Hoffentlich ist das auch in Österreich möglich! Bernard Schmid beleuchtet das neue Bündnis und nimmt Bezug auf den historischen «Front Populaire».*

Historische Ereignisse spielen sich immer zweimal ab: einmal als Tragödie, einmal als Farce, schrieb sinngemäss ein gewisser Karl Marx in seinem Standardwerk «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte». (…) Den Hintergrund dieser Überlegungen bildete jedoch auch der Gedanke, ein wichtiges historisches Ereignis lasse sich niemals in identischer Form wiederholen: Beim zweiten Mal kennen ja die handelnden Akteure und Akteurinnen alle die Grundkonstellation beim zugrundeliegenden ersten Ereignis, können die damaligen Ursachen und Wirkungen benennen und sich entsprechend darauf einstellen. Deswegen wiederholt sich dieselbe Ereigniskette auch nie in identischer Form, ähnlich, wie (so gut wie) niemand zweimal hintereinander in dasselbe Loch fällt; zumindest, wenn es an derselben Stelle liegt oder in ähnlicher Form gekennzeichnet ist. Und zumindest, sofern die betreffende Person halbwegs mit Intelligenz begabt ist…

Zur Klarstellung: Diese historische Analyse verneint nicht, dass es auch aktuell zum Aufstieg oder Wiederaufstieg eines zeitgenössischen Neofaschismus kommt, auch wenn dieser selbstverständlich nicht identische Erscheinungsformen mit dem historischen Faschismus annimmt… Auf die Ereignisse, die uns am heutigen Tag beschäftigen, lässt sich diese ansonsten treffende Ausführung des bärtigen Geschichtsphilosophen nicht wirklich übertragen. Es geht um den «Front Populaire» und dessen Neuauflage, also den «Nouveau Front Populaire» (NFP). Denn zunächst war der historische «Front Populaire», d.h. das antifaschistische Abwehrbündnis ab 1934, das in den Jahren 1936 und 37 unter Léon Blum vorübergehend zum Regierungsbündnis wurde, keine «Tragödie». Zwar beinhaltete die Regierungsübernahme durch den «Front Populaire» auch einen Verzicht oder vorläufigen Verzicht auf die Revolution, welche ein Teil der daran beteiligten Kräfte damals durchaus anstrebte. Doch wird allgemein die Periode von 1936/37 im kollektiven Gedächtnis eher mit positiven Erinnerungen und sozialen Errungenschaften verknüpft, insbesondere mit der erstmaligen Einführung von bezahltem Urlaub (zweiwöchig pro Jahr) in Frankreich.

Beteiligt am historischen «Front Populaire» von 1934/1936 waren die «Kommunistische Partei Frankreichs» (PCF), die damalige französische Sozialdemokratie in Gestalt der SFIO sowie die Partei der «Radicaux de gauche». Diese Bezeichnung, «Radikale der Linken», führt in deutschen Presseerzeugnissen oft, wirklich oft zu der idiotischen Übersetzung «Partei der Linksradikalen». Nichts ist falscher und dümmer. Die damaligen «Radikalen» waren der antiklerikale, kleinbürgerliche, linkere Flügel der im 19. Jahrhundert gespaltenen Liberalen. Im Deutschen entspricht dem die Bezeichnung «Freisinnige». Und in der Schweiz gibt es heute noch eine Partei, die im französischsprachigen Landesteil «Parti radical», in der Deutschschweiz hingegen «Freisinnige Partei» heisst.

Der neue «Front Populaire»

Der «Nouveau Front Populaire» (NFP), am passendsten übersetzt als «Neue Front der kleinen Leute gegen die da oben», setzt sich zusammen aus: der früheren Regierungssozialdemokratie – zuletzt in den Jahren 2012 bis 2017 – in Gestalt des «Parti socialiste» (PS), den französischen Grünen in Gestalt der Partei «Les Ecologistes», der «Kommunistischen Partei Frankreichs» (PCF) sowie der heterogenen linkssozialdemokratischen, linkspopulistischen Wahlplattform «La France insoumise» (LFI, «Das unbeugsame Frankreich»). Diese vier Parteien oder parteiförmigen Strukturen sind in einem Koordinierungsausschuss zusammengeschlossen und treffen dort die wichtigsten Entscheidungen. Angeschlossen, dem Bündnis angegliedert oder assoziiert sind jedoch ferner rund 100 weitere Organisationen, unter ihnen nicht im Parlament vertretene politische Parteien wie bspw. der aus dem undogmatischen Trotzkismus kommende «Nouveau Parti anticapitaliste» (NPA); aber auch Nichtregierungsorganisationen wie bspw. die vor allem in Lyon gut verankerte Antifa-Gruppierung «Jeune Garde». (Deren Kandidat, der 29-jährige Raphaël Arnault wurde übrigens – trotz gewaltiger medialer Anfeindungen mit knapp 55 Prozent der abgegebenen Stimmen in Avignon zum Abgeordneten gewählt). Schematisch gesprochen handelt es sich bei den beiden stärksten Parteien im Bündnis NFP um eine rechtere Sozialdemokratie in Gestalt des zuletzt von 2012 bis 2017 regierenden, damals krachend gescheiterten, doch nun in der Opposition wieder aufgestiegenen «Parti Socialiste» (PS) einerseits – und andererseits um die Wahlplattform «La France insoumise» (LFI) als eine Art Linkssozialdemokratie mit populistischem Anstrich und betont keynesianischem Programm.

Zu den Hintergründen: Der harte Kern von LFI ging im Winter 2008/09 aus einer durch die deutsche «Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit» (WASG) inspirierten Linksabspaltung vom «Parti Socialiste» hervor. Später gruppierte die in sukzessiven Erweiterungsbewegungen entstehende Wahlbewegung unter Jean-Luc Mélenchon weitere Strömungen und Wählergruppen hinzu, etwa von der stark geschrumpften PCF übernommene, eher gewerkschaftsnahe Wählergruppen, ökologische Strömungen – denen LFI, im scharfen Gegensatz zur französischen KP, eine Abkehr von der Atomenergie und eine Infragestellung des Wachstumsbegriffs anbietet. Zeitweilig gab es in LFI auch Linksnationalisten; deren fragwürdigste Strömungen wurden allerdings wieder abgestossen.

Durch den Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom April 2022, bei denen LFI-Gründer Mélenchon über zwanzig Prozent, die rechtssozialdemokratische Kandidatin Anne Hidalgo jedoch nur 1,7 Prozent der Stimmen erhielt, musste sich der «Parti Socialiste» an die neuen Kräfteverhältnisse in der Linken anpassen. Und trat in das vergleichsweise lose strukturierte, de facto durch LFI angeführte parteienübergreifende Linksbündnis NUPES1 der Jahre 2022 bis 24 ein, wo der PS sich jedoch tendenziell der faktischen Dominanz von LFI unterordnen musste. Jedenfalls so lange, bis die vom «Parti socialiste» unterstützte Liste bei den Europaparlamentswahlen im Juni 2024 mit 13,8 Prozent der Stimmen wieder stärker abschnitt als LFI mit 9,9 Prozent. Die aktuellen Unterschiede liegen darin begründet, dass – auch wenn dies von beiden Seiten nicht offen und explizit so ausgesprochen wird – die PS-Führung gerne eine mehr oder minder stabile Regierungsführung und -fähigkeit über längere Zeiträume herstellen würde, und dafür auch zu notwendigen Kompromissen etwa mit dem Macron-Lager oder Teilen desselben bereit wäre. Die Wahlplattform LFI lehnt hingegen ein solches Bestreben ab. Auch bei LFI ist man sich natürlich dessen bewusst, dass die «Neue Front der kleinen Leute» mit knapp 32 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung – obwohl stärkste politische Kraft – auf Dauer nicht allein regierungsfähig ist. Dies ist übrigens ebenfalls einer der historischen Unterschiede zu 1936, denn damals erhielt das historische Front-Populaire-Bündnis mit 57,78 Prozent der abgegebenen Stimmen auch eine deutliche Mehrheit der Sitze im seinerzeitigen Parlament. Doch die Strategie von LFI dazu ist eine doppelte: Entweder, bestimmte Massnahmen gehen auch bei fehlender Mehrheit der Sitze (für den NFP allein) im Parlament durch, weil aufgrund sozialer Mehrheiten im Land andere politische Kräfte es nicht wagen, dagegen zu stimmen, oder aber eine vom NFP gestellte Regierung stürzt innerhalb kürzerer Zeit über eine Abstimmung, dann am liebsten zu einer besonders symbolträchtigen Massnahme. Dadurch würde man der Bevölkerung konkret aufgezeigt haben, dass es so nicht geht und dass dieselbe dazu beitragen muss, andere Wege zu suchen.

Aber nun ist da eine Frage aufgeworfen: Obwohl der historische «Front populaire» sicherlich (trotz aller damaligen strategischen Diskussionen über Revolutionsverzicht oder nicht, über Waffenlieferungen an die bedrohte spanische Republik oder nicht) sicherlich keine «Tragödie» darstellt, wurde darüber diskutiert, ob nicht aktuell eine Farce stattfindet. Im Laufe der Tage und Wochen seit dem Wahltag vom 7. Juli 2024 wuchs dieser Eindruck stetig, oder zumindest wurde er in den Leitmedien herbeigeschrieben, nachdem notorische Spannungen in dem Linksbündnis dafür sorgten, dass es circa zweieinhalb Wochen lang nicht möglich war, eine·n gemeinsame·n Anwärter·in für das Amt des Premierministers der Premierministerin zu benennen.

Das war 1936 noch anders, denn damals war allen Beteiligten klar, dass der sozialdemokratische (SFIO-)Spitzenpolitiker Léon Blum der gemeinsame Anwärter auf den Posten des Premierministers war. Blum war zugleich ein hochrangiger Richter und seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unbestrittener Anführer jenes Teils der historischen französischen Sozialdemokratie, welcher nicht in der KP aufging. Anders als in Deutschland zur Zeit der Spaltung SPD / USPD / KPD war in Frankreich innerhalb der Sozialdemokratie derjenige Flügel, welcher für einen Anschluss an die «Dritte Internationale» und eine Umbenennung in «kommunistisch» optierte, erheblich stärker als der andere. Deswegen wurde die Mehrheitsfraktion der Sozialdemokratie auf dem «Congrès de Tours» (Parteitag in Tours im Dezember 1920) zur SFIC oder «Französischen Sektion der kommunistischen Internationalen», später dann zur KP Frankreichs oder KP in Frankreich, der Vorläuferin der heutigen Französischen Kommunistischen Partei. Blum jedoch leitete die verbliebene Rest-Sozialdemokratie, die sich weiterhin SFIO oder «Französische Sektion der Arbeiter-Internationalen» nannte. Sein intellektuelles Niveau und seine ehrlichen Überzeugungen sind historisch wohl unbestritten. Deswegen ist es übrigens auch überaus peinlich, wenn Jean-Luc Mélenchon, der Gründer und faktische Boss der Wahlplattform LFI, im Vorfeld der jüngsten Regierungsbildungsgespräche – dick auftragend – betonte, einige seiner Leute wie die LFI-Fraktionsvorsitzende Mathilde Panot oder Parteikoordinator Manuel Bompard hätten nicht nur das Zeug zum Premierminister oder zur Premierministerin, sondern seien höher und besser qualifiziert als weiland Léon Blum.

Welche Regierung?

Nach einigem Hin und Her konnte sich das NFP-Bündnis auf eine gemeinsame Kandidatur für die Ministerpräsidentin einigen. Es handelt sich um die 37jährige Lucie Castets. Die Ökonomin und hohe Beamtin, angestellt im Finanzwesen der – von der «Parti Socialiste», den Grünen und dem PCF regierten – Stadt Paris, zählte auch zu den Anleiterinnen von Kollektiven zur Verteidigung der von Sparpolitik bedrohten öffentlichen Dienste sowie gegen die Renten«reform» von 2023. Macron hingegen möchte sich erst Mitte August entscheiden, um den «Olympischen Frieden» zu gewährleisten. Wenn Sie diesen Artikel im Archipel lesen, wird die Regierungschefin oder der Regierungschef wohl bereits nominiert sein.

LFI und die französischen Grünen wurden unterdessen bereits zum Gegenstand von massiven Gegenkampagnen von verschiedenen Seiten. Mélenchon und LFI sind für viele Rechte unterschiedlicher Schattierungen ohnehin Hassfiguren. Die antirassistischen Positionen von LFI, zu denen seit Oktober 2023 auch eine dick aufgetragene, doch auch in den eigenen Reihen kontrovers diskutierte pro-palästinensische Kampagne im Zusammenhang mit dem Gazakrieg kommt, tun ein Übriges. Im letzteren Falle kommt die Ablehnung nicht nur von rechts, sondern auch aus der bürgerlichen Mitte und aus Teilen der Linken. Neben der echten Kontroverse zu aussenpolitischen Stellungnahmen kam dabei jedoch auch eine unbestreitbare Hetzkampagne hinzu. Diese verläuft im Sinne eines Art Pendants zur deutschen «Extremismusdoktrin», wonach Linke ein Spiegelbild der Rechtsextremen seien und mindestens so schlimm wie diese; eine solche war in Frankreich aufgrund des historischen Gewichts der Kommunistischen Partei nach 1944 Jahrzehnte hindurch undenkbar, setzt sich jedoch seit dem Amtsantritt Macrons zunehmend durch.

Macron und der bürgerliche Mittelblock setzen unterdessen auf Abwarten, vor allem aber darauf, dass der bisher als Block auftretende NFP sich spalten möge. Dabei sollen vor allem der «Parti Socialiste» oder Teile von ihm, möglicherweise auch Grüne, für eine Einheitsregierung der Mitte gewonnen werden. Allerdings steht dem ein wichtiger Faktor entgegen: Räumen PS und Grüne die bisherigen Positionen des «Nouveau Front Populaire» und geben dabei wichtige Programmteile auf, so dürfte daraus LFI als verbliebene Linksopposition im Hinblick auf künftige Wahlen wichtige Vorteile ziehen…

Bernard Schmid, Paris

  1. Der Name bedeutet so viel wie «Neue soziale und ökologische Union der kleinen Leute», mit U für Union und p für populaire, aber bitte nicht «Volksunion» – so hiess in Deutschland ab 1971 eine Nazipartei!
  • Dies ist eine für den Archipel gekürzte Fassung. Der ungekürzte Artikel wurde am 24. Juli 2024 auf Labournet.de publiziert.