Um den Wahnsinn der Epoche zu ermessen und ein wenig Abstand zu gewinnen, male ich mir manchmal aus, dass ich, auf der Bettkante sitzend, einer zukünftigen Enkelin diese Zeit beschreiben würde. Ich beginne dann mit: „Es war im …“, um mich zu zwingen, Stück für Stück, Seite für Seite einer Reihe von Ereignissen, Praktiken, aufschlussreichen Bestimmungen zusammenzufügen. Wenn ich ihr von unserem Verhältnis zum Wasser erzählte, würde ich wahrscheinlich von diesem Jahr sprechen und würde etwa so fortfahren:
Ich war frappiert von der historischen Bedeutung dieser Momente. Ich erlebte sie mit weit aufgerissenen Augen, in Gedanken Notizen machend, und war mir ziemlich sicher, dass ich eines Tages davon Zeugnis ablegen würde. An jenem Tag der Rechenschaft, an dem man sagen würde, dass man von nichts gewusst hatte. Diese Periode brachte mich aus der Fassung. Ich fühlte, wie eine unterschwellige Katastrophe in der Luft lag, die nur die Industriegesellschaft hervorbringen konnte. Manchmal suchte ich in den Augen der anderen nach einem Anzeichen von Bestürzung als Beweis, dass auch sie das Absurde daran sähen. Die Verbesserung unserer Situation verlangte derartig tief greifende Veränderungen, dass man sich immer noch auf die Ungewissheit unserer Voraussagen versteifte. Dermaßen weit hatten wir uns schon entfernt von dem, was wir einmal waren und was wir sein könnten. Wir hatten unsere Menschlichkeit verschleudert.
Kostbares Nass Das Betrachten unserer Bindung ans Wasser offenbarte die Ausmaße des Verlusts. Unser Körper besteht zu 70 Prozent aus diesem Wasser. Trinken, Urinieren, Weinen, Baden bestimmen den Rhythmus unseres Lebens. Seine Qualität, seine natürliche Eigenschaft beeinflussen die Natur unserer Körper, unsere Stimmungen und Gedanken. Ein Guss frischen Wassers macht uns glücklich, ein Glas durchströmt uns, ein Bad in klarem Wasser erleichtert, erfrischt und verbindet uns manchmal. Die Geschichte meiner Wasserbäder und die meiner Mutter, mit meinen Brüdern, mit meinen Freunden und meinen Kindern ist die Geschichte meiner Beziehungen. 70 Prozent unserer Körper sind Ozeane, Flüsse, Bäche und Quellen. Dieses Wasser hat einen Geschmack, einen Duft, einen Lauf und eine Geschichte. Diese Geschichte erzählt auch von uns. Wie konnten wir das vergessen?
Als Anupam Mishra beschrieb, wie durchdacht die alten Systeme zur Nutzung von Regenwasser in den Wüstengebieten von Rajahstan waren, zeigte er die enge Verbindung mit der Art dieses Volkes, das Wasser und sich selbst wahrzunehmen. „Die Leute von hier maßen das Wasser weder in Zoll noch in Zentimetern, auch nicht in Finger- oder Handbreit, sondern in Tropfen. Für sie galten die einzelnen Tropfen immer als Teil einer Milliardenmenge kostbarer Tropfen, und sie haben, mit viel Sorgfalt über dieses flüssige Gold in Tropfenform nach dem Prinzip des voj (1) verfügend, eine Tradition zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse begründet, die als leuchtendes Band bis hinauf in die Vergangenheit und hinab in die Gegenwart reicht, die die Gegenwart in der Vergangenheit aufleben lässt durch dieses voj, das Kompetenz heißt.“ (2) Wir haben vergessen, dass eine solche Bindung an das Wasser existiert.
Unser Wasser wurde als chemische Ware und nicht mehr als Naturprodukt begriffen. Es ergoss sich über die Bevölkerungen, deren Reise- und andere Gewohnheiten bestimmt wurden vom Bedarf und den Riten der Industrie, immer im Hinblick darauf, den technischen Erfordernissen der Industrie (Wasserwirtschaft, industrielle Landwirtschaft, industrielle Produktion) zu genügen. Unsere Beziehung zum Wasser war also selbst industrialisiert. Industrialisiert wie man von Industrieproduktion, Industriepolitik, Industriestadt sprechen konnte oder von der Industrialisierung des Tourismus, von Kulturindustrie, Sexindustrie … „life.com“. Man beschrieb die Industriegesellschaft als einen „sozialen Organismus, dessen Aussehen vollständig durch die Art und Weise der industriellen Produktion hervorgebracht und bestimmt ist: von Ernährung über gesellschaftliche Beziehungen bis hin zur Kultur, nichts scheint vor ihr sicher zu sein …..“ (3). Die möglichen und vorstellbaren Auswege selbst waren von den „Realitäten“ einer Produktionsweise bestimmt.
Wasserindustrie Wenn man diese Situation kritisierte, sah man, um sich sorglos zu halten, Bedrohung von bestimmten Personen ausgehen, verteufelte diese oder jene Institution, die fortdauernde Liberalisierung, den Ultra-Liberalismus …. das war sehr praktisch. Es erlaubte, den Feind weit weg von uns zu situieren und selbst auf der Seite der Guten zu bleiben, gleichzeitig weigerten wir uns, die politischen und sozialen Grundlagen wahrzunehmen, die Zusammenhänge zwischen Hauptakteuren, Kräfteverhältnissen, Technologien und Praktiken, die zu diesen Entwicklungen führten. Um einer einseitig auf multinationale Unternehmen gerichteten und den Staat, den öffentlichen Sektor idealisierenden Kritik zu entkommen, hatte ich versucht, das Auftauchen dieser „Wasserindustrie“ zu beschreiben (4). Es schien mir nicht möglich, Staat und Unternehmen getrennt zu behandeln, die objektiv bei der Industrialisierung des Wassers alte Verbündete sind. Absehend von seinen Akteuren muss man versuchen, einen uns alle verbindenden Prozess zu beschreiben, der uns nicht nur bis zur Untätigkeit fesselt, sondern uns auch zu aktiven Kollaborateuren macht.
Sieht man die Sache rein technisch, war die Versorgung mit chemisch einheitlichem Wasser über individuelle Anschlüsse alles andere als neutral. So betrachtet, konnte das Wasser zu einer technischen, komplexen Frage werden. Die Angst vor dem Wasser, vor den „Krankheiten aus dem Wasser“ (5) hat es zu einer Angelegenheit der Ingenieure und Chemiker gemacht. Seine Zuleitung in Städte wurde zur Sache der Unternehmen, der großen Beträge und der Politik. In einer globalisierten Welt diesen Fortschritt mit anderen teilen hieße, der städtischen Bevölkerung des Südens den Zugang zu ermöglichen. Die Debatten drehten sich nur um diese Ausdehnung um jeden Preis. Wasseranschlüsse sollten sich nach Art des Kolonisierens in den Städten des Südens, in deren Armenvierteln ausbreiten. Den Märkten und der Privatisierung folgend, sollte die „französische Schule der Wasserwirtschaft“, um dem Allgemeinwohl zu dienen, ihren Machtbereich erweitern. Und alle Mittel waren recht. Die „Schlacht ums Wasser“ war die um den Anschluss ans Netz. Die gleiche Logik lag in dem Überschwang, mit dem der Anschluss ländlicher Gebiete ans Internet betrieben wurde, man konnte die das Scheitern beschreienden Stimmen gut und gern überhören, konnte lachen und die vergangen Erfahrungen missachten. Die Fortschrittsgesellschaft hatte keine Geschichte nötig. In Frankreich begnügte man sich damit, die ausufernden Tarife anzuprangern oder die vielen Wege der Einflussnahme von Unternehmen auf Abgeordnete, die verschwundene Geldbeträge … Anderswo, in Bolivien, in Südafrika, in Indien oder Ghana wollte die Bevölkerung die Bindung ans Wasser und die damit einhergehende Macht nicht verlieren. Selbst auf die Gefahr hin, auf der Straße zu krepieren. „Agua es nostra, carajo“, hatten die Bolivianer hinausgeschrieen, bis dass die Unternehmen Bechtel und Suez aus ihren Städten verschwanden.
Diese Kämpfe wurden mit Schweigen übergangen, der Funke sprang nur ausnahmsweise nach hier über - inmitten all dem anderen Lärm waren sie nicht wahrnehmbar. Unsere Kämpfe waren anders. Zudem konnte man hier gar nicht von Kämpfen sprechen. Demonstrationen waren dünngesät, Eingaben, Prozesse, Foren, öffentliche Erklärungen und Pressekonferenzen fanden nie wirklich Resonanz. Sie waren Teil des allgemeinen Getöses, in dem das Aufblitzen von Revolte toleriert wurde. Wir waren richtig gut gezähmt.
Gefährliches Wasser? Zum Beispiel dachten wir als umweltbewusste Bürger immer noch, dass das, was wir tranken, Wasser wäre. Aber klar war: Unser H2O, dieses „flüssige Desinfektionsmittel“, diese „chemische Lösung“, von der Illich sprach, hatte wenig zu tun mit Wasser. Man trank es ohne zu wissen, woher es kam, wo es hinfloss und was es beinhaltete. Das konnte ja nur einige Verbraucherschutzvereine und staatlich bestallte Wissenschaftler interessieren. Wie auch immer, im Zenit der Marktwirtschaft, am Tag nach den Attentaten auf das World Trade Center, wurde in Frankreich für den Plan Vigipirate (etwa: Piratenwacht) die Phase Orange ausgerufen. Aus Angst vor einer „Kontamination des Versorgungssystems mit Lebensmittelgiften durch Bio-Terroristen“ beinhaltete dieser Plan eine Vervielfachung der Chlordosis. Dieses chemische Schutzschild funktionierte schlecht: Zwei Jahre danach stellte ein Bericht des Parlaments über den Bioterrorismus fest: „Der Generaldirektor für Gesundheit selbst hat darauf hingewiesen, dass ihm eine Anreicherung des Wassers mit 0,3 mg Chlor pro Liter notwendig erscheint, um Lebensmittelgifte komplett zu vernichten. Aber zurzeit beinhaltet das Wasser, das aus dem Hahn fließt, nicht mehr als 0,1 mg pro Liter und nur 60 Prozent des Territoriums von Frankreich sind erfasst.“ Überdies „hat die Umsetzung der im Rundschreiben von Oktober 2001 geforderten Maßnahmen erkennen lassen, dass bestimmte Körperschaften nur zögernd in die Sicherheit der Trinkwasserversorgung investierten, die größten Schwierigkeiten gab es mit einigen kleinen Gemeindeverwaltungen.“ (6)
Um dieses Wasser trinken zu können, präzisierte die Regierung, dass „die Erhöhung des Chlorgehalts bei bestimmten Verbrauchern Unwohlsein bewirken kann, das man durch die Aufbewahrung des zum Trinken bestimmten Wassers für einige Stunden im Kühlschrank einschränken kann“. (7) Ganz einfach. Ich habe es ausprobiert. Es reicht, eine Flasche mit Wasser zu füllen und diese „einige Stunden“ offen stehen zu lassen. Ich muss nur jeglichen Wasserverbrauch voraussehen, in der Küche verteilte Flaschen auffüllen und diese dann im Kühlschrank zwischenlagern. Sehr praktisch! Welch ein Fortschritt! Das Ergebnis war aber nicht befriedigend: Das Wasser hatte immer noch einen scheußlichen Geschmack. Untersuchungen haben ergeben, dass 58 Prozent der Bevölkerung sich darauf verlegt haben, nur noch in Flaschen gefülltes Wasser zu verbrauchen. (8) 62 Prozent gaben an, dass „es einen schlechten Geschmack hat“, für 52 Prozent „riecht es schlecht, riecht es nach Chlor“ . Im Jahre 2003, als das Wasser aus allen Hähnen der Privathaushalte floss und die öffentlichen Brunnen mehr und mehr verschwanden, transportierte man per Hand 1491 Wasserflaschen pro Einwohner, mehr als 6 Milliarden Liter im Jahr, doppelt soviel als zwei Jahre zuvor. In manchen Fällen konnte dieses Wasser das Vierfache im Vergleich zum Diesel an der Tankstelle kosten.
Da war man also hingelangt. Diese „französische Schule“, die sich rühmte, uns aus der Epoche der Wasserträger befreit zu haben, hat uns dahin zurückgeworfen und kein Protest wurde laut. Man bezahlte das Wasser und obendrein trug man es wieder. Alle diese Kanalsysteme, Technologien und Investitionen zielten auf ein als trinkbar bezeichnetes Wasser, welches schließlich weniger als eine Person von zweien trank.
Nach vier Jahren Vigipirate war immer noch kein Attentat in Sicht. Aber eine Studie des Nationalmuseums für Naturkunde (9) enthüllte, dass 50 bis 75 Prozent der Wassermassen hochgradig verschmutzt waren und 100 Prozent des Wassers im Bassin Artois-Picardie als riskant eingestuft wurde. Die Autoren merkten zudem an, dass diese Bilanz der Qualität des Wassers noch weit von der Realität entfernt war, weil sie eine Anzahl Substanzen unberücksichtigt ließ, wie Schadstoffe in Kleinstmengen (Dioxine, Antibiotika, Phtalate aus Plasterzeugnissen) oder Schadstoffe, die aus Mikroorganismen stammen, wie Kleinstalgen oder Cyanobakterien. Die Liste mit festgestellten Auswirkungen der entdeckten Kleinstmengen von Schadstoffen muss einem Angst machen: Beeinträchtigungen von Drüsenfunktionen, erhöhtes Krebs- und Mutationsrisiko, multiple Vergiftungseffekte, toxische Beeinträchtigung der Nervenfunktion, Begünstigung der Missbildungen bei Embryos … Über die Studie wurde der Mantel des Schweigens gebreitet.
Das Land der netten Monster Verstehst Du? 2005 bekam man ein verchlortes Wasser zu trinken, ein „flüssiges Desinfektionsmittel“, um sich vor einer eventuellen biologischen Verseuchung zu schützen, aber die Art und Weise unseres täglichen Lebens, das was unsere Gesellschaft produzierte, unser Komfort, unsere Gewohnheiten brachten Tag für Tag diese Verseuchung hervor. In dieser Welt waren wir zugleich Terroristen und Opfer. Und das Lied meiner Kindheit bekam seinen vollen Sinn:
„Dies ist das fröhliche Land der glücklichen Kinder und der netten Monster, ja es ist das Paradies“.
„Für die Zukunft scheint es kaum noch Möglichkeiten zu geben: entweder das System funktioniert weiter auf denselben Grundlagen und erzeugt neue Katastrophen, Unglücke und Umweltschäden, fährt fort, dem menschlichen Leben die Basis zu entziehen, treibt die Verkümmerung des gesellschaftlichen Lebens voran und die Vernichtung der Natur zugunsten einer schon zwei Jahrhunderte währenden Prosperität; oder, aufgrund der vielfältigen Widersprüche, die zu bewältigen es sich als unfähig erweist, bricht es zusammen – wie kürzlich in Argentinien im Zusammenhang mit dem Finanzsystem - und der Entzug der Lebensgrundlagen für die Menschen wird ergänzt durch deren materielle Not. Denn zeitgleich mit dem konfusen Gefühl, dass „das nicht von Dauer sein kann“, verspürt jeder, wie sehr ein plötzliches und unvermitteltes Ende des Systems gleichermaßen eine weitere Katastrophe wäre und macht sich unersetzlich, indem er seine gesellschaftlichen Beziehungen und individuellen Fähigkeiten durch Waren ersetzt.“ ( 10)
Jean-Philippe Joseph
Bemerkung des Autors:
Dieser - unvollendete - Text ist die Basis für ein Projekt, das Erfahrungen mit der Beziehung zum Wasser sammelt. Bitte senden Sie Ihre Reaktionen, Überlegungen und Tatsachenberichte an:
jeanphi@no-log.org.
(1) „Voj“ bedeutet „Zusammensetzung, System, Gliederung“, aber man gebraucht es auch, um Kompetenz und Intelligenz als die Fähigkeit zum Unterscheiden, zu bescheidener Ergebenheit zu benennen. „Les gouttes de lumière du Rajahstan“ Anapam Mishra und Annie Montaut, L’Harmattan, 2005
(2) A.Mishra und A, Montaut, s. oben
(3)„Quelques éléments d’une critique de la societé industrielle“, B. Louart, Juni 2003, zugänglich über:
http://netmc.9online.fr/index.html(4)„Le modèle industriel de l’eau“ l’Ecologiste No. 8, Okt. 2002,
http://www.planetebleue.info(5) „Durchfallkrankheiten haben in den vergangen zehn Jahren mehr Kinder getötet als es Opfer von bewaffneten Konflikten seit dem Zweiten Weltkrieg gab. Mehr als 1,1 Milliarden Personen haben keinen Zugang zu Trinkwasser und 2,4 Milliarden fehlt es an hygienischer Grundversorgung. Die Zahl der Kinder, die jeden Tag aus Mangel an Trinkwasser und Hygiene sterben, ist gleich der Zahl von Opfern, die ein gleichzeitiger Absturz von dreißig Boeing 747 zur Folge hätte.“ M. Gorbatschow, Präsident des Internationalen Grünen Kreuzes vor der Kommission der UNO für nachhaltige Entwicklung am 21. April 2005.
(6) Auszug aus dem parlamentarischen Informationsbericht zum Bioterrorismus (Pierre Lang, 2003)
(7) Antwort von Marie-Thérèse Boisseau auf eine mündliche Anfrage ohne Debatte von Gilles Meyer, französische Nationalversammlung, 16. Dezember 2003
(8) Untersuchung Ipsos, April 2001
(9) „La qualité de l’eau en France“, Studie des Nationalmuseums für Naturgeschichte, Juni 2005
(10) Bertrand Louart, siehe oben