Überlegungen zu den Anfängen der Perestroika 1, zwanzig Jahre nach 1985
Russland, die Russinnen und Russen, die Einwohnerinnen und Einwohner der ehemaligen Sowjetunion, suchen nach einem Jahrhundert revolutionärer und sowjetischer Erfahrungen ihre Identität und ihren Platz in dem Übergang zu einer globalisierten Welt.
Ebenso versucht die neue globalisierte Weltordnung, diesen Platz zu definieren, denn der Westen hat ein spezielles Interesse daran, das ehemalige «Reich des Bösen» zu erfassen. Seit dem Ende der UdSSR ist dieses nämlich dazu berufen, Partner zu werden, ein neuer Markt und eine Reserve für Rohstoffe und Energie. Diese Entwicklung hat im Jahr 1985 begonnen, als Mikhail Gorba-tschow 2 an die Macht kam und das System des «Realsozialismus» 3 auflöste oder präziser gesagt: im Februar und März 1986, als der neue und letzte Generalsekretär der kommunistischen Partei der UdSSR die Glasnost 4 ausrief und damit den Weg für eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Tabus der sowjetischen Gesellschaft freigab. Diese Auseinandersetzung wurde durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vom 26. April 1986 verstärkt. Eine Flut von Enthüllungen über die bitteren Wahrheiten der Gegenwart und der stalinistischen Vergangenheit brach los.
Einzig «das Tabu der Tabus», nämlich Lenin und die Oktoberrevolution von 1917, blieben bis 1988 unangetastet. In dieser Periode hatte die Sowjetunion nur noch wenige Jahre Existenz vor sich. Dabei pflegten sowohl die Befürworter als auch der Großteil der Gegner der UdSSR dieser ein ewiges Leben zu bescheinigen. Fast einhellig stellten die westlichen Medien die UdSSR der Jahre 1984, 1985 und 1986 noch als sehr mächtig, bedrohend und totalitär dar – als ein im ewigen Eis des Kommunismus erstarrtes Land.
Wer aber näher hinsah, konnte erkennen, dass sie durch ihre inneren Widersprüche zweifellos im Zerfall begriffen war und von der einzigen Supermacht der Welt, die damals die USA schon waren, in Schach gehalten wurde. Die sowjetische Gesellschaft war bereits in Umwälzung begriffen. Sie war mit einer wachsenden Wirtschaftskrise konfrontiert, gepaart mit Spannungen unterschiedlicher sozialer Interessen, Ideen, Ästhetiken und auseinanderstrebenden Empfindungen. Ein schwerfälliger Konformismus im Westen verbot es, diese Tatsachen einer sich in Bewegung befindlichen Gesellschaft zu erkennen. Auch gewisse Dissidenten weigerten sich, diese Änderungen zur Kenntnis zu nehmen, weil sie überzeugt waren, dass sie allein - in ihrer mutigen, aber randständigen Opposition - die richtige «Bewegung» verkörperten. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist der Prozess vorbei, wie der amüsante Versprecher von Gorbatschow besagt: «protsess poschol». Dies heißt mit anderen Worten: Die Bewegung war nicht mehr zu stoppen. Dieser von vielen Unsicherheiten gekennzeichnete Reformprozess, der verschiedenste Möglichkeiten offen ließ, war durchaus vorhersehbar. Doch wer hätte sich vorstellen können, anfangs 1986, dass dieser Prozess innerhalb von wenigen Jahren zur Auflösung der Union führen würde und zum Aufstieg einer neuen besitzenden Klasse, sowohl innerhalb der führenden Nomenklatura als auch im Milieu der Geschäftsleute. Wer konnte erahnen, dass sich diese beiden Gruppen unter der Führung von Boris Jelzin, der damals als kommunistischer Linksabweichler galt, für den brutalsten Liberalismus eines mafiösen Finanzkapitals entscheiden würden? Russland sollte zur Lokomotive eines Wandels werden, der inzwischen in den baltischen Staaten schon weiter vorangeschritten ist als in Russland, der in der Ukraine mit der «Orangenen Revolution» von 2004 verspätet eintrat und der sich in den islamischen Regionen von Zentralasien wegen der autoritären Clan-Regime verkompliziert. Dieser Wandel wird von den US-amerikanischen und euroatlantischen Mächten hofiert und gefördert.
Impulse und Einflüsse
Um die wirkliche Geschichte der Perestroika schreiben zu können, müsste man den folgenden Fragen nachgehen: Wie war in der sowjetischen Gesellschaft eine solche Umwälzung herangereift, inwiefern haben die sozialdemokratischen Reformen von Gorbatschow die Sache beschleunigt? Welche Rolle spielten die inneren Faktoren und welche die äußeren Einflüsse, welche die sozialen Bewegungen innerhalb der UdSSR, und welche Rolle hatte der Internationale Währungsfonds? Welchen Einfluss hatte die schwierige materielle Situation, und was bewirkten die ideologischen Impulse der Reformatoren und deren politische Entscheidungen von 1989-91? Alle diese Fragen betreffen eine sehr kurze Zeitspanne, die sehr dicht besetzt ist mit sichtbaren und unsichtbaren Ereignissen, aus denen plötzlich die Substanz für eine historische Wende hervorging. Die selben Fragen verweisen uns zurück bis mindestens zum ersten Weltkrieg, zur Krise des Zarismus und zur Revolution von 1917, bis zu den 1920er und -30er Jahren des stalinistischen Systems, bis zu den Reformen und Modernisierungen der 1950-80er Jahre und bis zu den Jahren 1989-91 der totalen Auflösung, welche den Bruch mit dem System bedeuteten und die Metamorphose eines Teils seiner Eliten zu einer besitzenden Klasse.
Das sowjetische System
Was ist die wirkliche Geschichte des sowjetischen Systems? Während Jahrzehnten ist man dieser Frage nur mit ideologischen Filtern nachgegangen. Es gab entweder ein Dafür oder ein Dagegen. Das System hatte je nachdem verschiedene Namen wie Sozialismus, Arbeiterstaat, Staatskapitalismus oder Totalitarismus. Doch was wusste man wirklich? Ging es darum, die UdSSR wirklich kennen zu lernen oder ihr lediglich einen Platz zuzuweisen innerhalb einer ideologischen Auseinandersetzung? War die Linke, welche mit der russischen Revolution sympathisierte, bereit, Nachforschungen anzustellen, oder identifizierte sie sich einfach blind mit deren Hoffnungen und Illusionen? Oder ging es ihr im Gegenteil darum, die Revolution als eine verratene zu denunzieren? Die leidenschaftlichen Polemiken, welche durch das russische Experiment genährt wurden, waren weniger auf Kenntnis und Erkenntnis ausgerichtet als auf eine westliche Debatte um die Frage: Welche Zukunft hat der Kommunismus? Als die «Zukunft» dann in die Vergangenheit abstürzte, waren die politisch Rechtsstehenden beruhigt, und sie führten den Kalten Krieg im Nachhinein fort, indem sie die Verbrechen des Kommunismus und das Reich des Bösen weiterhin beschworen. Die Linke war indessen darüber gespalten, ob sie die alten Diskussionen über die Frage, wer recht hatte, weiterführen oder sich dem Gedächtnisverlust verschreiben sollte unter folgendem Motto: Lasst uns die Seite umblättern, lasst uns diese Vergangenheit vergessen, die nicht die unsere ist; gehen wir zu neuen Utopien über. Oder die Linke ging sogar so weit, im Schlepptau zahlreicher postlinker Intellektueller die sowjetische Vergangenheit zu verteufeln und die Rolle der UdSSR beim sozialen Fortschritt im Westen und beim Sieg über den Nazismus zu negieren. In Verbindung mit dem Liberalismus und den westlichen, demokratischen Werten vollzog sie eine Kehrtwendung, die sogar Sympathie mit den Kriegen der NATO in Jugoslawien, der Angloamerikaner im Irak oder mit dem «Kreuzzug für die Demokratie» der USA im ex-sowjetischen Raum bekundet.
Die Geschichte neu lesen
Die Aufarbeitung der Geschichte findet weiterhin in einem sehr leidenschaftlichen und ideologisierten Klima statt. Jede Tendenz schöpft aus den neu geöffneten Archiven alles, was ihre jeweilige alte Meinung bestätigt. Es ist wichtig, den sowjetischen Traum, die Mythen und Gegenmythen nicht zu vergessen, aber es braucht die Verbindung zwischen der Macht der Worte und den Kräften des Reellen . Wir müssen die Ideen über die Geschichte und sogar die Geschichte der Ideen verlassen zu Gunsten der Gesellschaft . Denn nur in den sozialen Zusammenhängen kann die Rolle der Ideen, der Mythen neu überdacht werden.
Die Geschichte und die Erinnerung in Russland, welche lange durch den offiziellen Dogmatismus gefesselt waren, sind wiedererweckt wie das schlafende Dornröschen durch den Prinzen. Dies ist zumindest das Bild, welches die Kreise der liberalen Demokraten in Moskau vermitteln: Die Zeit hätte 1917 angehalten, Russland und die UdSSR seien in der kommunistischen Lüge versunken, dann hätte endlich die Wahrheit gesiegt und das Land sei wieder in die Zivilisation der Welt zurückgebracht worden, von der es ausgeschlossen war. Die Geschichte und die wiedergefundene Erinnerung geben den Straßen und Plätzen ihre historischen Namen zurück, nämlich die aus der Zeit des Zarismus, sogar wenn es sich um die Metro-stationen handelt, die in den 1930er Jahren unter Stalin gebaut worden waren. So wurde die Station der Avenue Marx in Allee der Jäger umgetauft. Das Wüten der «Entkommunisierung» der Schilder hat nicht einmal den einzigen, selbst von Lenin respektierten anarchistischen Denker verschont, Piotr Kropotkin 5. Doch dieser Umtauf-Wahn wird irgendwann zum Stillstand kommen, denn der sowjetische Stempel hat die Ortsnamenkunde, die Raumplanung und die Architektur zu stark geprägt.
Dornröschen, das nicht wirklich geschlafen hat, wacht nicht in einem unveränderten Wald auf. Es genügt nicht, die Orte umzutaufen, um ihnen eine hypothetische, ursprüngliche Reinheit zu verleihen. Die Zare, die Kirche, der Markt und seine angeblichen Naturgesetze sind nicht mehr dieselben wie am Vorabend von 1917, selbst wenn dies dem Diskurs widerspricht, dass der Kommunismus lediglich eine zu vernachlässigende Klammer der Geschichte gewesen sei. Die heutigen Märchenprinzen sind Helden einer neuen Art: die Finanz-Oligarchen, die Chefs der großen ex-sowjetischen, privatisierten Unternehmen und die neuen Mieter im Kreml.
Mit anderen Worten: Die Beziehung der ehemaligen Sowjetbürger und -bürgerinnen zu ihrer Vergangenheit steht heute im Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Problematik und Herausforderung. Es geht um die Neudefinition ihrer Identität, die gestern von Kommunismus und sozialistischem Internationalismus geprägt war und sich heute der nationalen Wiedergeburt und der kapitalistischen Globalisierung widmet. Die Geschichte wird gezwungener-maßen und wie immer neu geschrieben - mit dem Ziel, die gegenwärtige Machtkonstellation zu legitimieren. In diesem Zusammenhang sind die Anprangerungen des Kommunismus nicht wertfrei: Welchen Hintergrund haben die Urheber dieser Art der «Vergangenheitsbewältigung», die Politiker und Geschäftsleute, die Ideologen, Journalisten, Historiker? Wer bezahlt wen, um was zu sagen? Diese Fragen sind nicht etwa unverschämt, sondern sogar elementar, wenn man diese nicht im Namen einer sogenannten wissenschaftlichen Objektivität mit einem Tabu belegt.
Wenn aus den Geschichtsbüchern und Schulbüchern der sozialökonomische marxistische Ansatz als veraltet verbannt und stattdessen ein «zivilisatorischer» Blickwinkel bevorzugt wird, dann handelt es sich dabei um eine politische Entscheidung und nicht nur um eine wissenschaftliche. Dies zeigt, dass man «die Weltzivilisation» und genauso die «russische Zivilisation» als intelligentere Konzeptionen ansieht, um die Geschichte zu erfassen, als die der sozialen Strömungen, der Klassen und des Klassenkampfs. Diese letzteren waren vorher innerhalb der UdSSR bevorzugt worden, wenn auch in einer sinnentleerten Form, die von den offiziellen Ideologen zur Festigung ihrer Macht missbraucht wurde. Diese nun einmal getroffene Wahl für die eine Art der Geschichtsbetrachtung ist nicht von vornherein abzulehnen, aber die Voraussetzung für eine fruchtbare Diskussion sollte zumindest sein, es auch zuzugeben, dass eine Wahl stattgefunden hat. Man sollte auch nicht verschweigen, dass diese zum Teil ideologisch bedingt ist und nicht wissenschaftlich. Und es stellt sich die Frage, ob durch diese oben beschriebene Wahl das Wissen über die Geschichte und über die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart einen reellen Fortschritt machen kann. Es ist offensichtlich, dass sich die Möglichkeiten der Forschung und des Ausdrucks in der UdSSR seit der Eröffnung der Glasnost-Jahre unter Gorbatschow immens erweitert haben. Aber bedeutet dies, dass diese Möglichkeiten auch nach bestem Wissen und Gewissen genutzt werden? Das scheint nicht immer gewährleistet zu sein.
Unsere Vergangenheit ist unvorhersehbar
Der in den Medien vorherrschende Ton, welcher die alte Propaganda ersetzt hat, verspricht eher das Gegenteil: Diskussionen, die fruchtbar am Ende der 1980er Jahre waren, haben sich zu einschlägigen Anklagen gegen die sowjetische Vergangenheit gewandelt. Dies entspricht wiederum mehr einem magischen Denken oder einem religiösen als einem wissenschaftlichen. Auf die Gefahr hin zu schokkieren, könnte man sogar sagen, dass die Zensur etwas Gutes gehabt hat: Sie zwang die ehrlich bemühten Forscher, ihre Argumentationen zu verfeinern und nicht Hypothesen zu verbreiten, die nicht seriös untermauert waren. Die neue Freiheit erlaubt alle Tollkühnheiten, nachdem sie die Verbote eines anderen Zeitalters hinwegfegt hat. Die «Marktgesetze» fordern «Enthüllungen» aller Art und Bücher, die sich am besten verkaufen, für ein sensationslüsternes Publikum. Die Kommanditeure aus der Politik und den Medien und gewisse Mäzene oder Stiftungen made in USA wenden das gute alte Rezept an, nach dem derjenige, der bezahlt, auch den Ton angibt. Es ist deshalb natürlich, dass die Produktion der Geschichte des neuen Russland, vor allem seit 1991, in die Richtung einer Denunzierung der sowjetischen Vergangenheit geht, die zuweilen sehr radikal ist, so dass sie die Sensibilität eines großen Teils der Bevölkerung verletzt, der überhaupt nicht diese herrschende Sichtweise über die Zeit der UdSSR teilt.
Ist es also erstaunlich, dass die sowjetische Nostalgie so weit verbreitet ist? Es handelt sich dabei um eine Reaktion auf die Verleumdung der Vergangenheit und um das Verlustgefühl einer verarmten Bevölkerung, der von den Gewinnern des neuen Zeitalters vorgehalten wird, dass sie zu sehr «sowjetisch» bleibt. Womöglich ist es nicht nur Nostalgie, sondern eine ziemlich autonome Bewertung der Vergangenheit, die auf persönlichen Erfahrungen und auf gereiften Überlegungen basiert, welche vor allem die alte Generation betreffen.
Die Standpunkte, von denen ausgegangen wird, sind sehr unterschiedlich und entwickeln sich: Die Medien und die ideologischen Zentren, welche die Geschichte in den 1990er Jahren neu schrieben, kamen aus einer intellektuellen Welt, welche für die liberalen Ideen und einen radikalen Antikommunismus eingenommen und mit den neuen Finanzimperien und den westlichen, vor allem amerikanischen Stiftungen (von Ford bis Soros) verbunden war. Die politische Macht unter Boris Jelzin war diesen Kreisen nahe; nach 1999 ging sie aber unter Wladimir Putin auf Distanz zu ihnen. Die «identitären» Ziele der Macht sind dabei, sich zu entwickeln: Die Vergangenheit liegt in der Zukunft. Der alte Scherz aus der sowjetischen Epoche ist immer noch aktuell: «Man weiß nie, was gestern passieren kann.»
Die neuen Schulbücher versuchen, eine Mittellinie zu halten zwischen den Anforderungen der «Ent-Kommunistisierung» der Gehirne und der Sorge, nicht den Bürgerkrieg neu zu entfachen. Diese Haltung entspricht einer politischen Entwicklung: Die demokratische Ära unter Boris Jelzin war die einer Schocktherapie und die von reellen oder simulierten Konfrontationen mit den «Kommunisten». Diese Periode ging von der Machtübernahme 1991 bis zum Finanz-Krach von 1998; dazwischen fand «der bewaffnete Kampf» mit dem Parlament Ende 1993 statt, und es kam zu einer extremen Spannungssituation während der Präsidentschaftswahlen im Jahr 1996. Die Putin-Jahre scheinen von der Sorge bestimmt zu sein, einen nationalen Konsens wiederherzustellen, gleichzeitig den Liberalismus fest zu schreiben, eine russische Großmacht wieder aufzubauen und gleichzeitig die USA zu schonen, die ihrerseits versuchen, Hindernisse in den Weg zu legen. Dabei geht es um entscheidende Dinge: Besitz und Macht auf einem eurasischen Kontinent, der für Veränderungen offen steht; die Herrschaft über die Rohstoffe, vor allem über das Erdöl, vom Kaspischen Meer bis nach Sibirien. Gleichzeitig wird Russland von den prowestlichen «Revolutionen», die in letzter Zeit stattfanden, umzingelt.
Was die Bevölkerung angeht, so hängt vieles von ihrer materiellen und psychologischen Situation ab, von der Altersstufe, ihrer persönlichen Erfahrung mit der sowjetischen Vergangenheit, von dem Erbe, das in der Politik und in den Verhaltensweisen seine Fortsetzung findet oder sich neu bildet. Dabei haben natürlicherweise die Unterdreißigjährigen der neuen Generation kaum Erfahrungen mit der Sowjetzeit, die das Leben ihrer Eltern bestimmte. Sicher ist vor allem eines: Das Bild der Vergangenheit wird so lange mit einem zarten Heiligenschein versehen, je mehr die Gegenwart durch Härte geprägt ist – und umgekehrt. Der Groß-teil der Russinnen und Russen, viele ehemaligen Sowjetbürgerinnen- und bürger, waren mit der großen moralischen Prüfung konfrontiert, alle Orientierungspunkte verloren zu haben. Dies ist eine Binsenweisheit, aber es gilt, sie in Erinnerung zu rufen. Es gibt das Beispiel des Kosmonauten, der von der UdSSR in den Weltraum geschickt wurde, und der, als er wieder auf der Erde landete, sein Land nicht mehr finden konnte. Viele Menschen haben noch nicht den Zustand der Schwerelosigkeit überwunden, der durch den Zusammenbruch der alten Lebensgrundlagen und Vorstellungen hervorgerufen wurde. Währenddessen leben die Jungen in der Ukraine, in Zentralasien und in Russland bereits auf einem anderen Planeten.
Jean-Marie Chauvier
Jourmalist, Brüssel**
Kropotkin, anarchistischer Theoretiker, der vergeblich versuchte, Lenin zu überzeugen. Als Kropotkin im Jahr 1921 starb, wollte ihm das Regime ein Staatsbegräbnis zuteil werden lassen. Seine Familie wies diese Idee zurück und schlug stattdessen vor, dass man die Anarchisten, die im Gefängnis saßen, freilassen sollte. Dies tat Lenin, jedoch nur für die Zeit, die sie brauchten, um die Bestattung zu organisieren, und mit ihrem Versprechen, danach wieder ins Gefängnis zurückzugehen.
Perestroika bezeichnet die Reformen unter Gorbatschow (1985-1991) und manchmal auch diejenigen, welche auf 1991 folgten. Wörtlich «Wiederaufbau» – gemäss Gorbatschow – «des ganzen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens.» De facto sollte es zu einem «Abbau», einer «Katastroika» kommen, wie böse Zungen behaupten.
Die Zeitung Le Monde Diplomatique publiziert in ihrer Ausgabe vom Juni 2005 einen Artikel von Jean-Marie Chauvier über die Gründe, welche die Krise und den Umschwung der Gorbatschow-Jahre unvermeidbar machten.
Realsozialismus oder real existierender Sozialismus: Bezeichnungen, die unter Breschnjew erfunden wurden, um die Unterscheidung zwischen der Realität und den erträumten Sozialismen zu machen. Die westlichen Forscher übernahmen diese Begriffe ungefragt, ohne den Anspruch, damit den Inhalt des sowjetischen Systems definieren zu können.
Glasnost kommt von «glas», alt-Slawisch: Stimme, und «glasit»: öffentlich machen, übersetzt mit «Transparenz». De facto ein Aufdecken versteckter Realitäten und ein zu Wort melden in der Öffentlichkeit, das zuerst beschränkt war, dann immer weniger kontrolliert wurde und schließlich in «die freie Meinungsäußerung» im neuen Rahmen des Marktes und der Macht der Medien mündete.