GESTERN - HEUTE - MORGEN: Prag: Ein anderer Frühling

de Jean-Marie Chauvier (Brüssel, 8. 6. 2008), 9 août 2008, publié à Archipel 162

Das andere 68, der andere «Frühling» vor 40 Jahren in Prag. Was hatte er gemeinsam mit unserem «Mai 68»? Auf das Risiko hin, den französisch-zentrierten Leser über «die Revolution von Mai 68» zu enttäuschen, muss gesagt werden, dass Prag sich nicht in den Vororten von Paris befand und dass diese auch schon 1968 nicht der Nabel der Welt waren

Der tschechoslowakische Frühling hatte nur einen entfernten Bezug zu den westlichen Protestbewegungen, welche sich in der Opposition zum US-imperialistischen Krieg in Vietnam und in der Ablehnung der westlichen Gesellschaft ausdrückten. Sie wurden inspiriert von Georges Perec, Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, den Feministinnen und den Situationisten. Die Proteste im Osten stimmten schon gar nicht mit den Linksextremen, den Maoisten oder Trotzkisten überein, die in Frankreich, Italien und Deutschland den Ton angaben. Im Osten ergab es keinen Sinn, die «Konsumgesellschaft» oder die «Vorherrschaft des Marktes» zu bekämpfen, da man in Mangelgesellschaften mit geplanter Produktion und Verteilung lebte, wo die Marktmechanismen und das Geld im sozialen und wirtschaftlichen Leben auf eine passive Rolle reduziert waren. Das kulturelle Leben war hier nicht mit dem Druck der Werbung konfrontiert, sondern mit der ideologischen Zensur. Die kritischen Stimmen im Osten konnten von der Meinungsfreiheit nur träumen, die für die Westler schon vor dem Mai 68 selbstverständlich war. Der Protest gegen den US-amerikanischen Vietnam-Krieg fand unter den Völkern, die unter sowjetischer Vorherrschaft litten, kaum Widerhall. Die «chinesische Kulturrevolution» wurde in Paris als Synonym für den Aufstand gegen die Bürokratie gewertet, in Prag und Moskau hingegen als «Rückkehr zum Kasernen-Kommunismus», als die Entstalinisierung gerade die Völker des Ostens befreite. Diese Unterschiede der Situationen und Sichtweisen wurden 1968 von den westlichen Linken kaum oder schlecht verstanden. Sie projizierten ihre «revolutionären» Erwartungen auf den Osten. Nicht wenige Kommunisten und andere Linke im Westen sahen die Bastion des Sozialismus und Anti-Imperialismus immer noch in der UdSSR. Diese galt gegenüber den USA als «Friedenslager». Nicht ohne Grund: Washington bombardierte Vietnam und überschüttete das Land mit Napalm und Agent Orange, während Moskau vermehrt Vorschläge zur generellen Abrüstung und zur «friedlichen Koexistenz» vorlegte. Der (gut bewaffnete) «Pazifismus» der UdSSR wurde von unserer extremen Linken als Schwäche und Zeichen der Kapitulation denunziert. Für die Mao-Stalinisten offenbarte die «Ablehnung Stalins» durch die sowjetische KP «revisionistischen Verrat» und «Degenerationserscheinungen» ihrer Führer. Ah! wie schön war doch das Zeitalter des Gulags! Man kann sich heute nur schwer vorstellen, dass die französische KP mit ihrer späten Entstalinisierung war sie im Rückstand gegenüber der UdSSR oder der italienischen KP - für ihre Ablehnung Stalins von Maoisten kritisiert wurde, welche sich anschließend zu mustergültigen Antikommunisten der extremen Sorte mauserten. Was die «antistalinistischen» Linken, vor allem die Trotzkisten, angeht, lehnten sie die «bürokratischen» Regime des Ostens ab, hofften jedoch, dass sich die Völker, wie sie selbst, mit der roten Fahne in der Faust und solidarisch mit dem «Weltproletariat» erheben würden. Die Maoisten forderten übrigens von der UdSSR, dass sie ihre Reichtümer mit den Armen der Dritten Welt teilen sollten. Ich erinnere mich an Pariser Linke, welche die Verbürgerlichung der Sowjets kritisierten: Jene sehnten sich nach wundersamen Lieferungen von marokkanischen Orangen oder italienischen Schuhen, anstatt den Kämpfern in Vietnam oder Lateinamerika zu Hilfe zu eilen. Die Pariser mit ihren überfüllten Läden waren «angeekelt vom Konsumieren» und hatten natürlich keine Ahnung, was es bedeutet, im Mangel zu leben und auch nicht, was seit der Revolution von 1917 ein Sowjet-Leben ausmachte! Wer konnte das im Westen denn wirklich nachfühlen: Jahrzehnte der Revolution, der Kriege, der Hungersnöte, der Repression, der Entbehrung, von denen sich die Bevölkerung der UdSSR gerade erst befreite? Wer konnte die Erregung nachvollziehen, welche die Aussicht auf ein freieres und bequemeres Leben verursachte?

Gegen den Strom des «Linksradikalismus»

Zwischen der Sehnsucht dauernd «mobilisierter» Völker nach mehr Ruhe und der protestierenden Jugend übersättigter Gesellschaften, die auf die Barrikaden ging, bestand eine enorme Kluft. Die Kluft bleibt mir in Erinnerung, weil ich 1969 nach fünfjährigem Aufenthalt in der UdSSR zurückkehrte und größte Schwierigkeiten hatte, meine Erfahrung den Kommunisten, den linken und linksextremen französischen oder belgischen Genossen zu vermitteln. Diese Erfahrung desorientierte sie. Die Prager Revolte und die östliche Dissidenz wurden mit einer Mischung aus Überraschung und Argwohn beäugt. Der Linksradikale (!) Bernard-Henri Lévy begrüßte, genauso wie Fidel Castro, die sowjetische Militärintervention vom August 1968, die von vielen Linken und KPlern abgelehnt wurde. In Belgrad wie in Peking.

Vor allem die inhaltlichen Forderungen der Dissidenten warfen Fragen auf: Waren sie korrekt «marxistisch»? Standen sie nicht allzu sehr unter dem Einfluss des westlichen «bürgerlich-liberalen» Modells? Die Sorge der westlichen Kommunisten oder Linksradikalen war nicht, das reale Leben im Osten zu verstehen, sondern die Worte, die angewendet wurden und die oft den Denkgewohnheiten der westlichen Linken fremd und entgegengesetzt waren, zu ermessen und zu beurteilen. Auch die westlichen Protestbewegungen waren aus Sicht des Ostens unverständlich: Wie konnten sich diese Studenten gegen den Überfluss und die Freiheit auflehnen, die ihnen gehörten? Und diesen guten General de Gaulle in Frage stellen, der es gewagt hatte, Washington zu kritisieren, gute Beziehungen zu knüpfen zu dem, was er «Russland» nannte, und die «nationalen Bestrebungen» in Europa und Quebec zu ermutigen? Die offizielle Presse (vor allem die sowjetische) berichtete über die Arbeiterstreiks in Frankreich als Bewegung, die Forderungen stellte, mehr nicht. Die kulturelle Tragweite der Bewegung wurde ignoriert. Und natürlich auch ihre anti-autoritären Inhalte und ihre Kritiken an der KPF! Gab es denn überhaupt Gemeinsamkeiten zwischen östlichen und westlichen Protestbewegungen, außer dass sie etablierte Ordnungen in Frage stellten? «Ja eben, genau, das Antiautoritäre». Aber von welcher «Autorität» sprach man? Sicher, die Prager Hippies von 68 (es gab ein paar!) lachten die Bürokraten mit ihrer Phrasendrescherei aus. Aber die westliche Gesellschaft, wie die französische, so verzopft und verstockt in Konventionen und Puritanismus sie auch war, ließ doch Raum für freie Meinungsäußerung, für Organisation unabhängig von den Machtstrukturen, für Pluralismus, was in den östlichen Gesellschaften undenkbar war. Dort regierte das ideologische und politische Monopol der kommunistischen Staats-Partei. Es stimmt auch, dass man in einem «sozialistischen» Kontext von Arbeitsplatz- und Existenzsicherheit den Fabrikdirektor weniger fürchtete und dass man es mit der «Arbeitsdisziplin» nicht so genau nahm. Zumindest seit die stalinistischen Zwänge Mitte der 1950er Jahre verschwunden waren, konnte man es sich wieder erlauben, der Arbeit fern zu bleiben oder dort zu faulenzen, ohne schwere Sanktionen zu befürchten. Sozialer Friede und Passivität waren die Regel. Es gab keine, oder nur sehr selten, kollektive Entlassungen, und die Unternehmen beschäftigten viel mehr Personal als vergleichbare westliche Firmen. Direktoren und Ökonomisten beklagten sich: Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, die Arbeit «wissenschaftlich» zu organisieren und den wünschenswerten Ertrag zu erzielen. Die liberal-radikalen Reformer des Ostens wünschten sich eine Wirtschaft «so effizient wie im Westen», stimuliert durch Profit, Wettbewerb, ungleiche Einkommen und Rationalisierung in den Fabriken, wo eine reduzierte Anzahl von Arbeitern durch Konsumwünsche und die Angst um den Arbeitsplatz motiviert wurde.

Das freie Wort

Die «Macht des Wortes» im nicht-kommerziellen Kontext des Ostens hatte Auswirkungen, die im Westen unvorstellbar waren: Die geringste Änderung im Diskurs an der Spitze, die geringste Meinungsäußerung an der Basis konnten weitreichende Konsequenzen haben. Ein Zeitungsartikel, ein Roman, ein Gedicht, ein Lied oder ein Film konnten Millionen Menschen erbeben lassen. Im Osten diskutierten Politbüros, d.h. die wirklichen Regierungen dieser Länder, stundenlang, ob Qualität und Interesse ausreichten, um die Veröffentlichung eines literarischen Werkes oder eines Theaterstücks zu genehmigen.

Die Auflagen der Bücher oder Zeitschriften gehorchten übrigens nicht der Nachfrage, sondern dem Willen der Behörden, die sich häufig auf «Papiermangel» ausredeten, um nonkonformistische Veröffentlichungen zu beschränken.

Die Intellektuellen, die AutorInnen erfanden zahlreiche Tricks, um die Zensur zu täuschen. Komplizen in den obersten Gremien halfen ihnen manchmal, sich von der Zensur der Bürokraten in den unteren Rängen zu befreien. Genau das geschah 1968 in Prag und später, nach 1985, zur Zeit der Glasnost in der UdSSR: ein Bündnis zwischen der kommunistischen Führung, die plötzlich «liberal» wurde, und Intellektuellen, die darauf brannten sich auszudrücken. Sobald «die Poeten auf die Straße gingen», durchdrangen ihre subversiven Worte alle Schichten der Gesellschaft. Die zuerst nur vorsichtigen Versuche brachten eine Flutwelle hervor, die nicht mehr aufzuhalten war. In den Jahren vor dem Frühling 1968 geschah es, auch in der UdSSR, dass wir im Morgengrauen vor einem Zeitungskiosk Schlange standen, um uns eine Wochenzeitung oder eine Kultur-Revue zu beschaffen, dass Kinos oder Theater monatelang ausverkauft waren, nur weil ein «freies Wort» sich ausdrückte. Es ist sogar möglich, dass die «innere Freiheit» in diesem Kontext wirklicher war: Man konnte mit größerer Genauigkeit die Grenze zwischen freiem Wort und offizieller Propaganda erkennen, während diese Grenze im Kapitalismus mit hochkomplizierten Verhaltenstechniken viel verschwommener ist.

Jedenfalls gab es diesen außergewöhnlichen Moment in Prag 1968 und in der UdSSR am Ende der 1980er Jahre, als die Zensur der Partei sich auflöste und die des Marktes noch nicht existierte.

Der Antikommunismus, ein Wert der 68er?

Was gab es also für Gemeinsamkeiten zwischen unserer Protestbewegung und der ihren? Einige alte Stars von 1968, die sich heute auf dem Medienmarkt der «Achtundsechzigerei» sehr gut platzieren – der ehemalige Anarchist Daniel Cohn-Bendit, der ehemalige Maoist André Glucksman, der ehemalige, KPF-abtrünnige, Kommunist Bernard Kouchner – bestehen auf einer, in ihren Augen, wesentlichen Eigenschaft des Mai 68, welche die Protestler des Ostens befriedigen könnte: «der linke Antikommunismus». Effektiv waren im Westen wie im Osten die kommunistischen Parteien Ziel der Proteste. Diese Beobachtung kommt gut an, in einer Zeit, da über den Antikommunismus in allen politischen Lagern Konsens herrscht. Aber sie ist oberflächlich und anachronistisch. Sie projiziert eine Ideologie auf die Vergangenheit, die nach dem Mai 68 entstand. Diese hat im Westen, vor allem in Frankreich, die Achtundsechziger für die «neue Philosophie» gewonnen, weil sie «den Gulag entdeckt haben» (als Solschenitsin 1974 in der Fernsehsendung Apostrophe auftrat). Im Osten gingen die Dissidenten erst später zum radikalen Antikommunismus über, der nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 offiziell wurde. Eine klassische Falle der historischen Retrospektiven: Auf die Handelnden einer Epoche werden die Gedanken und Einsichten späterer Zeiten projiziert. Im Mai 1968 war der «linke Antikommunismus» entweder anarchistisch – eine Tradition, die das Verdienst der Kontinuität genießt - linksradikal oder linksextrem. Auf keinen Fall diente die Ablehnung der KP der Legitimierung liberaler oder kapitalistischer Gesellschaften, wie es heutzutage der Fall ist. Im Gegenteil: Man warf den Kommunisten vor, nicht radikal genug zu sein. Die UdSSR wurde kritisiert, nicht für ihre Machtfülle und die einfache Tatsache, dass sie existierte, sondern weil sie nicht kämpferisch genug gegenüber den USA in Vietnam auftrat. Schon 1962, anlässlich der Raketenkrise in Kuba, beschuldigten die trotzkistischen oder chinatreuen Linksextremen Moskau, vor dem «amerikanischen Diktat kapituliert» zu haben. Niemand, weder die Linksextremen, noch Kuba oder China, wünschten, dass die UdSSR das Risiko eines Weltkrieges einginge, um «mit dem Imperialismus Schluss zu machen».

Und im Osten? Die retrospektive Projektion stuft Prag 1968 sogar als Aufstand «gegen den Kommunismus» ein. Wir konnten auch lesen, dass Alexander Dubcek ein «Widerstandskämpfer gegen den Kommunismus» war. Hätte er das gewusst! 1968 war er der Generalsekretär, also der Führer der tschechoslowakischen kommunistischen Partei.

Ein menschliches Antlitz

In Polen und in Ungarn 1956, sowie in Prag 1968 und in der UdSSR nach 1985 haben die Gesellschaften im Aufbruch in Begriffen gedacht oder geträumt, die heute keine Bedeutung mehr haben, die in jener Zeit aber viele Gemüter bewegten: ein «Kommunismus, der den Menschen nicht vergisst» (Imre Nagy, Budapest 1956), ein «Kommunismus mit menschlichem Antlitz» (Alexander Dubcek, Prag 1968), der «demokratische Sozialismus» (Mikhail Gorbatschow nach 1985), was manche paradoxerweise als «die Rückkehr zu Lenin» bezeichneten. Die Idee war sehr verbreitet, dass der «ursprüngliche» Kommunismus Lenins unter Stalin «degeneriert» war und dass seine Demokratisierung an den ursprünglichen Bolschewismus anknüpfen würde. Dieser Anachronismus scheint heute selbstverständlich. Aber damals, im Osten sowie unter den antistalinistischen Kommunisten, blieb das Bild vom Oktober 1917 unangetastet, auch bei denen, die das «Regime» verabscheuten. Als die Panzer im August 1968 in Prag einrollten, konnte man auf den Mauern lesen: «Lenin, wach auf, sie sind verrückt geworden». Ein anderes «Original» der russischen Revolution und der Zeit danach tauchte in den Revolten des Ostens auf: die Macht der Sowjets (Räte), der Sozialismus der «Arbeiterräte» (Budapest, Warschau 1956), die Selbstverwaltung (Prag 1968, UdSSR 1988-89). Wir können das alles «altmodisch» finden. Aber wir haben nicht das Recht, die Geschichte umzudeuten und zu behaupten, dass diese Ideen damals kein großes Ansehen genossen. Und dass sie eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Ost und West verkörperten, und zwar eine revolutionäre. Nun denn: Wir müssen feststellen, das die Anhänger der bestehende Herrschaftsverhältnisse, ob nun poststalinistisch, liberal oder sozialdemokratisch, sich anstrengen, diesen lästigen Teil der Geschichte des Prager Frühlings, nämlich die Bewegung der Arbeiterräte, auszulöschen. Die Stalinisten haben diese «anarcho-syndikalistische» Abweichung nicht geschätzt, um die Worte der Prawda aus dieser Zeit zu gebrauchen. Es war wieder das Gespenst von Kronstadt und Budapest 1956. Die Liberalen sahen und sehen darin immer nur eine Behinderung des guten Managements. Die liberal-libertäre Ideologie hat vom Mai 68 nur den Aufruf zu mehr Individualismus und zu mehr Initiative zurückbehalten, zu «weniger Staat» und zum «Aufstand gegen den Apparat», aber nicht den zu kollektiver Emanzipation und Selbstverwaltung. Dieses Bestreben fand in der Zeit der Destabilisierung der Systeme jedoch stets seinen Ausdruck.

Es sollte aber mittelfristig noch eine weitere Ost-West Übereinstimmung geben: Seit dem «Fall des Kommunismus» 1989, verschmelzen die europäischen Gesellschaften im Osten und Westen im gemeinsamen Markt, im globalisierten Kapitalismus, im Neoliberalismus, der die soziale Deregulierung betreibt, im Entstehen des wettbewerbsfähigen und serienmäßigen «Individuums» der «Markt-Demokratie». Man sagt dem Mai 68 nun also nach, er habe das Räderwerk des Kapitalismus geölt, genauso wie Prag 68 den Geist für den triumphierenden Liberalismus der Jahre 1990-2000 vorbereitet habe.

Doch hinter diesen bekannten Bildern sollten wir weiter suchen, was sich wirklich 1968-69 in der Tschechoslowakei abgespielt hat.

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