Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf (vorletzter Teil).
Letztes Kapitel
In dem Wahn, die ganze Welt kontrollieren und ihre schrankenlose Macht auf die Menschen ausüben zu wollen, haben die mächtigen Handelsunternehmen, «Multis» genannt, die Nationalstaaten als solche erheblich geschwächt. Diese sind nicht mehr im Stande, ihre Rolle als Regulatoren des gesellschaftlichen Lebens zu spielen. Die Nationalstaaten sind nichts mehr als korrumpierte juristische Gebilde, welche die Länder der kapitalistischen Barbarei ausliefern. Sie bemühen sich – und dies ist Teil der Forderungen des großen Kapitals – die Länder unter Kontrolle und die Ordnung aufrecht zu erhalten, aber ohne reelle Autorität.
Die Militärdiktaturen, die in den 1970er und 80er Jahren von den USA in Lateinamerika tatkräftig unterstützt wurden, um die Sozialbewegungen zu unterdrücken, haben ihre Drecksarbeit getan und gleichzeitig die Staaten geschwächt. In Argentinien, Chile, Uruguay, Bolivien, Peru usw. ist der Staat heute nur noch eine Filiale europäischer oder nordamerikanischer Banken; verstaatlichte Unternehmen werden zu Schleuderpreisen verkauft.
Es entwickelten sich viele Widerstandsbewegungen. Meines Wissens nach scheint es nach der Auflösung des Sendero Luminoso in Peru nur in Kolumbien weiter zu gehen mit den kommunistischen Kolumbianischen Revolutionären Streitkräften (FARC), die eine große bäuerliche und indigene Sozialbewegung in ihr Fahrwasser zu lenken wussten. Dies liefert den USA den Vorwand, in die inneren Angelegenheiten des Landes einzugreifen, und das nicht nur in Kolumbien, sondern auch in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas.
Wenn die Sozialbewegungen nicht diese «marxistisch-leninistische» Färbung haben und nicht mit Waffengewalt nach der Macht im Staat streben, so findet das Imperium der Händler, dass sie keine unmittelbare Gefahr darstellen und hofft, sie mit der Zeit klein zu kriegen. Vorläufig bedeuten die geschwächten Nationalstaaten, die ihre Länder den Zwängen des internationalen Marktes und den Forderungen der Multis ausliefern, einen Vorteil für das Händlerimperium. Es begnügt sich also damit, wachsam zu bleiben und ist bereit, für die Staaten einzuspringen, um nötigenfalls die kapitalistische Ordnung wieder herzustellen.
Zur Zeit ist es damit beschäftigt, die heilige Zeit des Kalten Krieges wieder auferstehen zu lassen, als es überall in der Welt bewaffnete Konflikte gab. Schlussendlich war das ein gutes Geschäft, sowohl vom finanziellen Standpunkt aus gesehen als auch im Hinblick auf die Kontrolle der verängstigten Bevölkerungen. Es war auch die Gelegenheit, ganze Länder zu zerstören, unendlich viele lokale Konflikte vom Zaun zu brechen, welche die Bevölkerungen ausbluten ließen.
Der Staat hat schon immer Terror ausgeübt. Man könnte sagen, das ist eine Definition des Staates, er existiert, wenn eine Minderheit die übrige Bevölkerung terrorisiert. Dieser Terror der Minderheit wird dann ausgeübt, wenn ihre Macht in Gefahr ist. Wenn die USA vom Kampf gegen den Terrorismus sprechen, so ist das eine Umkehrung der Realität, und das macht die Schlagkraft eines solchen Slogans aus: Je terroristischer das Imperium, desto mehr kämpft es gegen den Terrorismus wie z.B. Israel. Hier haben wir es mit einer totalitären Situation zu tun, die Umkehrung ist vollkommen.
Um an diesen Punkt zu gelangen, d.h. zur totalen Macht des Händlerimperiums, war es der Mühe wert, zwei symbolische Türme zu Fall zu bringen und einige Tausend Menschen zu töten, die Militär- und Erdöllobbies haben schon ärgere Sachen gesehen. Denn wer profitiert schlussendlich von diesem Verbrechen? Zum Beispiel Multis wie Halliburton, die nicht nur Millionen Dollar Steuergelder erhalten, um die Infrastrukturen für die Okkupation des Irak aufzubauen, sondern auch noch das irakische Erdöl bekommen. Wie auch immer, Bush hat die Arbeit getan, für die er eingesetzt wurde.
Die terroristische Bedrohung hat es dem Händlerimperium erlaubt, in der westlichen Welt einen kleinen Staatsstreich durchzuführen und endgültig die Zügel der supranationalen Instanzen wie Weltbank, Welthandelsorganisation, Währungsfonds, UNO etc. in die Hand zu nehmen, die einen Staat oberhalb der Nationalstaaten bildeten. Seine Macht war bereits gefestigt innerhalb dieser Instanzen, doch das Imperium war es leid, sich verstellen zu müssen, um die Aufmerksamkeit des «Fußvolks» von sich abzulenken. Es hat absichtlich die UNO sabotiert und die Verhandlungen der WTO in Cancun, jetzt wird nicht mehr diskutiert, die Stunde der Offensive hat geschlagen.
Natürlich wehrten sich einige Länder gegen diesen Streich, bevor sie sich dem wahren Meister endgültig unterworfen haben.
«Es ist weder das erste noch das letzte Mal, dass sich jene, die sich für die Beherrscher der Welt halten, hinter hohen Mauern und ihren pathetischen Sicherheitskräften verstecken müssen, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
Wie in einem Krieg versammelt sich das Oberkommando dieser transnationalen Armee, welche die Welt auf die einzig mögliche Art, nämlich durch Zerstörung, erobern will, unter einem Sicherheitssystem, das seiner Angst entspricht.»
Ich bin nicht ganz einverstanden mit dem, was Marcos schreibt: Nicht die Beherrscher der Welt haben sich in Cancun getroffen sondern ihre Lakaien. Die Mächtigen haben keine Angst vor einigen Demonstrationen der Armen, es genügt, andere Arme zu bezahlen und ihnen Waffen zu geben, um diese Rebellionsgelüste zurückzudrängen. Sie fürchten viel mehr, Geld zu verlieren. Die Befehlszentrale ist woanders, es herrscht das unerbittliche Gebot der Zwanges für die Unternehmen, entweder Geld zu verdienen oder zu verschwinden. Und hier bin ich mit Marcos einverstanden, wenn er schreibt:
«Die Globalisierung derjenigen, die oben sind, ist nicht mehr als eine weltweite Maschine, die sich von Blut ernährt und Dollars scheißt.» (Brief vom 13.9.2003 für die Mobilisierung gegen den Neoliberalismus in Cancun)
Das Oberkommando des Geldes als Zwang, das ist das Oberkommando des schrecklichen Gottes der protestantischen Sekten, der vor apokalyptischem Hintergrund blinde Unterwerfung unter sein Gesetz fordert. Die Sekten sind die Konzerne Gottes und funktionieren normalerweise nach dem selben Schema wie die multinationalen Handelsunternehmen. Wir verstehen, warum Bush gut schläft, er schläft den Schlaf des Gerechten: Wenn viel Geld verdienen ein Gebot Gottes ist, gibt es keinen Grund mehr zur Kritik, zu irgendeiner Form von Infragestellung. Was gut ist für das Unternehmen, ist gut für Amerika, Punkt.
Was haben die Kulturen für Chancen, unter diesen Voraussetzungen zu überleben?
Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Voraussetzungen werden jeden Tag schwerer. Wir können wohl daran glauben, dass die Händlerwelt ihren eigenen Untergang in sich trägt wie eine unendliche Leere im Zentrum eines verheerenden Maelströms, der gewissermaßen den Motor darstellt und dessen Wege von Ruinen gesäumt sind.
Wieder aufbauen.
Geoges Lapierre
Oaxaca, 22. September 2003