Im Zuge der Krise in Europa kehrt der Nationalismus mit erneuter Macht wieder auf die Bühne der Politik zurück. Besonders bedrohlich ist das deshalb, weil nicht nur die Rechte, sondern auch die Linke ihre Liebe zur Nation wiederentdeckt hat.
Rechter und linker Nationalismus sind zwar nicht unmittelbar identisch, doch phantasieren beide von einer Wiederherstellung der «nationalen Souveränität» gegenüber den Zwängen der Globalisierung, insbesondere gegenüber den transnationalen Finanzmärkten, der Weltmarktkonkurrenz und den damit zusammenhängenden Migrationsbewegungen.
Der letzte Aspekt steht insbe-sondere beim rechten Nationalismus im Vordergrund, der sich bekanntlich offen rassistisch oder kulturalistisch artikuliert und aggressiv gegen Einwanderer und Flüchtlinge agitiert, insbesondere gegen solche aus muslimisch geprägten Ländern. Dabei kann er sich auf eine gesellschaftliche Stimmung stützen, die sich seit den 1990er Jahren aufgebaut hat und in starkem Masse die öffentliche Meinung bestimmt, bis weit hinein in die liberalen und links-liberalen Medien, die in «dem Islam» eine massgebliche Bedrohung der sogenannten westlichen Kultur und der Aufklärung sehen.
Im Unterschied dazu gibt sich der linke Nationalismus antirassistisch und versteht sich als radikal antikapitalistisch. Seine Hauptfeinde sind nicht die Einwanderer oder «der Islam», sondern die transnationalen, globalen Eliten, die er verantwortlich macht für die sozialen und ökonomischen Verwerfungen und Krisen, für die Prekarisierung breiter Bevölkerungsteile, die Zerschlagung der Sozial- und Gesundheitssysteme etc. Die Globalisierung und die Europäische Union sieht er als Instrumente eben dieser globalen Eliten zur Durchsetzung der neoliberalen Politik, zur Schwächung der organisierten Lohnarbeiterschaft und zur Aushebelung der Demokratie. Die Wiederherstellung der nationalstaatlichen Souveränität erscheint ihm daher als antikapitalistische Gegenstrategie, um Demokratie und Sozialstaat wieder herzustellen.
Regressive Kapitalismuskritik
Was an dieser sogenannten Strategie zunächst auffällt, ist, dass so getan wird, als könne es ein Zurück zum keynesianisch regulierten und sozialstaatlich abgesicherten Kapitalismus der 1960er Jahre geben. Das ist zwar vollkommen illusorisch, doch entspricht es einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Stimmungslage. Angesichts der bedrohlichen Krisenentwicklung auf allen gesellschaftlichen Ebenen flüchtet sich ein immer grösserer Teil der Bevölkerung in nostalgische Vorstellungen über die Nachkriegszeit, die im Nachhinein als eine Art goldenes Zeitalter verklärt wird. Sowohl der rechte wie der linke Nationalismus bedienen diese Stimmungslage und schöpfen daraus ihre relative Popularität. Das aber ist alles andere als harmloser Eskapismus, sondern politisch gefährlich, weil es sich mit einer sogenannten Kapitalismuskritik verbindet, die zutiefst regressiven Charakter hat.
Exemplarisch dafür ist die Position der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Deutschen Bundestag, Sahra Wagenknecht. Für sie ist «Kapitalismus» nicht etwa eine allumfassende gesellschaftliche Produktions- und Lebensweise, sondern steht für die Herrschaft einer kleinen transnationalen Elite, die getrieben wird von blanker Gier und die ihre Interessen auf Kosten der übergrossen Bevölkerungsmehrheit durchsetzt. Diesem «Kapitalismus» stellt Wagenknecht die Marktwirtschaft gegenüber, die sie als sehr vernünftige Gesellschaftsordnung beschreibt. In einer gut funktionierenden Marktwirtschaft, so Wagenknecht, produzieren die Menschen Waren für den wechselseitigen Austausch, es herrscht fairer Wettbewerb und jeder wird an seiner Leistung gemessen. Um aber das zu gewährleisten, bedarf es eines souveränen Staates, der die Spielregeln vorgibt und die Rahmenbedingungen setzt und ausserdem für den sozialen Ausgleich sorgt. Diese an sich gut funktionierende Ordnung sei nun aber von jener geldgierigen transnationalen Elite systematisch zerstört worden. Im Zuge der Globalisierung und mithilfe der Durchsetzung von supranationalen Strukturen wie der EU sei nicht nur die Souveränität der Nationalstaaten untergraben worden, sondern damit auch die marktwirtschaftliche Ordnung und die Demokratie. Es existiere jetzt, so Wagenknecht, kein «echter Wettbewerb» mehr, weil wenige Unternehmen den Weltmarkt beherrschen und das Finanzkapital seine Regeln diktiert. Deshalb sei die Rückkehr in den Nationalstaat gleichbedeutend mit der vorgeblichen Wiederherstellung der Marktwirtschaft und der Demokratie.
Wir haben es hier mit einem typischen Muster regressiver Kapitalismuskritik zu tun. Diese erklärt nämlich ausgerechnet das, was das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft ausmacht, nämlich dass sie eine Gesellschaft allgemeiner Warenproduktion ist, zu einer vernünftigen gesellschaftlichen Ordnung. Dass die Menschen gesellschaftliche Beziehungen über den Kauf und Verkauf von Waren herstellen und vor allem permanent sich selbst, genauer gesagt ihre Arbeitskraft, verkaufen müssen, erscheint als unproblematisch. Mehr noch: dieses Grundmuster gesellschaftlicher Beziehungen soll gegen «den Kapitalismus» verteidigt werden, der als ein äusserlicher Feind dieser vorgeblich vernünftigen Ordnung der Dinge erscheint. Dazu wird der Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Warenproduktion letztlich immer nur Mittel zum Zweck für die Akkumulation von Kapital ist, auseinander gerissen. Auf der einen Seite steht dann die gute Ordnung der Marktwirtschaft, in der die Menschen friedlich zum allseitigen Nutzen Waren produzieren und auf der anderen Seite das Profitprinzip, das diese Harmonie untergräbt.
Keine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus
Wagenknecht vertritt dieses ideologische Muster in aller Konsequenz. Sie unterscheidet sogar zwischen «Unternehmern» und «Kapitalisten», wobei sie den Unternehmer durchaus positiv bewertet. Er sei nämlich produktiv, weil er «ein Unternehmen aufbaut und führt, mit eigenen Ideen, Power und Kreativität». Dagegen gelten ihr die Kapitalisten als blosse Schmarotzer. Für sie sei «ein Unternehmen nur ein Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung und der Erzielung von Rendite». Deshalb, so Wagenknecht, seien die Kapitalisten überflüssig und sollten beseitigt werden: «Jede vernünftige Wirtschaft braucht gute Unternehmer, aber sie braucht keine Kapitalisten». Was Wagenknecht hier sagt, entspricht ganz genau der klassischen Entgegensetzung von «raffendem» und «schaffendem Kapital», die zu den Grundmustern des antisemitischen Denkens gehört. Damit will ich wohlgemerkt nicht sagen, dass Frau Wagenknecht eine Antisemitin ist. Aber sie propagiert genau dieses ideologische Grundmuster in Reinkultur.
Tatsächlich kann es keine marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft geben, die nicht kapitalistisch ist, weil die Verwandlung aller gesellschaftlichen Beziehungen in Warenbeziehungen immer schon die Selbstzweckdynamik der Kapitalakkumulation voraussetzt und in diese eingebunden ist. Allerdings ist diese gesellschaftliche Organisationsform in ihren Grundlagen erschüttert, seit die Arbeitskraft im Zuge der dritten industriellen Revolution massenhaft aus den produktiven Kernsektoren der Warenproduktion verdrängt worden ist. Und nachdem jetzt auch die Akkumulation des fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten, welche die Weltwirtschaft in den letzten drei bis vier Jahrzehnten in Gang gehalten hat, an ihre Grenzen stösst, verlieren die kapitalistisch formatierten Menschen buchstäblich den Boden unter den Füssen und die latente Verunsicherung wird zur akuten Angst. Daher wünschen sie sich zurück in eine Zeit, in der der Kapitalismus noch auf seiner eigenen Grundlage funktioniert hat und die im Nachhinein als Idylle ausgemalt wird.
Linker und rechter Nationalismus bedienen gleichermassen diesen regressiven Wunsch, auch wenn beide niemals in der Lage sein würden, ihn tatsächlich zu erfüllen. Denn die historische Dynamik des Kapitalismus hat den Nationalstaat als Verwertungsraum des Kapitals längst ausser Kraft gesetzt. Hinzu kommt, dass kein politischer Wille der Welt die Produktivkraftentwicklung zurückdrehen kann, die die Arbeitskraft in breitem Massstab überflüssig gemacht hat. Es würde daher zu kurz greifen, die rückwirkende Verklärung des keynesianischen Regulations- und Sozialstaats als «Reformismus» zu kritisieren. Denn der Reformismus hatte eine reale historische Perspektive, ein politisches Programm, das sich zumindest ansatzweise durchsetzen liess, weil die ökonomischen Bedingungen dafür gegeben waren. Diese historische Perspektive existiert heute jedoch nicht mehr. Die Grundlage dafür ist längst vom Krisenprozess untergraben worden, auch wenn Wagenknecht und Konsorten das nicht sehen wollen. Daher ist der Linksnationalismus nicht etwa reformistisch, sondern reaktionär, eben weil er die regressiven Wünsche grosser Bevölkerungsteile nach einer Rückkehr in eine romantisierte Vergangenheit, in die Geborgenheit einer imaginierten Gemeinschaft, bedient. Faktisch aber läuft jeder Nationalismus heute auf die Etablierung eines autoritären Krisenregimes mit Kriegsführung nach innen und aussen hinaus, wie es in Putins Russland bereits besichtigt werden kann und wie Erdogan es gerade herstellt.
So gesehen ist also der linke Nationalismus nicht einfach nur die falsche Antwort auf den rechten Nationalismus, sondern keinen Deut besser als dieser und selber Teil des Problems. Es darf nicht vergessen werden, dass auch die Neue Rechte schon längst die sogenannte Kapitalismuskritik für sich entdeckt hat – eine sogenannte Kapitalismuskritik, die im Kern genau dem gleichem Muster folgt wie die der gesamten nationalistischen Linken quer durch Europa. Deshalb kann es nicht verwundern, dass die Grenzen zwischen den beiden Spielarten des Nationalismus immer mehr verwischen oder durch Querfrontbildungen offensiv verwischt werden.
*Es handelt sich um einen stark gekürzten Auszug aus dem Podiumsbeitrag von Norbert Trenkle auf dem Sommertreffen des EBF (Juli/August 2016).