Das «Mouvement Jurassien de Soutien aux Sans-papiers» (MJSSP, Jurassische Bewegung zur Unterstützung von Sans-Papiers) existiert seit 15 Jahren. Zurzeit steht die Initiative einer syrischen Familie bei, die aus der Schweiz abgeschoben werden soll.
Wie das MJSSP entstand
Im Jahr 1998 kamen in der Folge des Bosnienkrieges (1992–1995) viele bosnische Flüchtlinge in die Schweiz. Die Rechtsberatungsstelle der Caritas des Kantons Jura, deren Verantwortliche Margrit Salzmann war, eine frühere Aktivistin von Amnesty International, war überlaufen. Ich hatte Margrit anlässlich einer Referendumskampagne gegen die x-te Verschärfung des Asylrechts in der Schweiz kennen gelernt. Die Mitglieder dieses Referendumskomitees – mehrere davon aus politischen Parteien wie den Grünen, der Partei der Arbeit «POP» und den Jungsozialisten – waren davon überzeugt, dass es nicht genüge, Referenden zu ergreifen, sondern dass man auch gegen die weit verbreiteten Fehlinformationen im Zusammenhang mit Asylfragen und Migration vorgehen musste. Und dies war nur möglich, wenn man die Wirklichkeit «im Feld» kannte, also die Praxis im Migrations- und Asylbereich. Als wir nach dem Ende der Kampagne eine Fortsetzung unserer Aktivitäten ins Auge fassten, schlug uns Margrit vor, sie in der Beratungsstelle zu unterstützen, um so weiterhin aktiv zu bleiben. Wir waren damals etwa zu zehnt. So fing ich an, als Freiwillige bei der Caritas des Kantons Jura in der Rechtsberatung für Asylsuchende zu arbeiten.
Eines Tages alarmierte uns ein Gewerkschafter des Pflegedienstes eines Spitals. Ein Mann aus dem Kosovo, der wegen eines Arbeitsunfalls dort war, sollte ausgeschafft werden. Wir konnten die Ausschaffung verhindern. Margrit schlug daraufhin vor, wir sollten ein Komitee zur Unterstützung von Sans-Papiers gründen: «Genau solchen Menschen müssen wir beistehen.» Zudem engagierten wir uns für die «Nothilfe» im Jura. Die so genannte Nothilfe ist ein in der Verfassung garantiertes Recht, das allen in der Schweiz lebenden Personen zusteht und eine minimale Ernährung und medizinische Hilfe gewährt. Die jurassischen Behörden knüpften die Gewährung dieser Nothilfe an die Bereitschaft der Flüchtlinge in ihre Heimat zurück zu kehren. Wir konnten mit der Hilfe von sympatisierenden Parlamentarier_innen und durch Pressearbeit diese illegale Praxis unterbinden.
Um das Jahr 2000 wurden mehrere Kirchen in der Schweiz durch Sans-Papiers und ihre Unter-stützer_innen besetzt, so in Freiburg, Bern und Basel. Der Flüchtlingspfarrer Cornelius Koch und mehrere EBF-Mitglieder hatten die Sans-Papiers und ihre Unterstützungskomitees, insbesondere in Freiburg und Basel, intensiv beraten und begleitet.
Unterstützungsfeste
Im Dezember 2001 gründeten wir das «Mouvement Jurassien de Soutien aux Sans-papiers». Wir nahmen an den Sitzungen teil, zu denen sich die landesweiten Kollektive der Sans-Papiers und ihrer Unterstützer_innen mehrmals jährlich trafen, um sich zu organisieren. Wir veranstalteten mehrere Weihnachtsfeste mitten in der Stadt, um an die Öffentlichkeit zu treten, Debatten anzustossen und das Feld nicht den Populisten und Fremdenfeind_innen, etwa der rechten SVP, zu überlassen, die damals wie heute versuchen, im Jura Fuss zu fassen. Diese Feste waren ein grosser Erfolg: Die Sans-Papiers kamen zu Wort und die Politiker_innen hörten ihnen zu. Landwirt_innen aus dem Jura begegneten Vertreter_innen der andalusischen Landarbeiter_in-nengewerkschaft SOC. Asylsuchende oder Sans-Papiers, die von der Ausschaffung bedroht waren, konnten sich mit Hilfe der Unterstützungskomitees Gehör verschaffen und fanden weitere Solidarität. Die Abende waren sehr stimmungsvoll und gut besucht. Auch die lokalen Medien zogen mit. Der «Quotidien Jurassien» titelte im Januar 2006 anlässlich einer Debatte zur Lancierung der beiden Referenden gegen eine weitere Verschärfung des Asyl- und des Ausländerrechts: «Mit zivilem Ungehorsam Sans-Papiers unterstützen». Bei den regionalen Radios waren wir regelmässig zu Gast, ebenso unsere papierlosen Freund_innen, die dort selber zu Wort kamen.
Regularisierungen
Wir haben viele Freund_innen und Sympathisant_innen hinzugewonnen, als wir uns ab 2002 für eine junge abgewiesene Asylbewerberin aus Nepal mit ihrem Neugeborenen einsetzten. Bus-chauffeure, Nachbar_innen, langjährige Aktivist_innen, die Konservatorin des «Musée jurassien d’art et d’histoire» (Museum für Kunst und Geschichte des Jura), die später Patin des Neugeborenen wurde: Sie alle waren vom Schicksal der jungen nepalesischen Mutter und ihrem Kind berührt und wollten helfen. Mehrere Familien fanden sich bereit, die beiden über Monate bei sich zu verstecken, da sie von der Ausschaffung bedroht waren. Am 9. Oktober 2016 haben Mutter und Kind den Schweizer Pass erhalten.
Dass die nepalesische Mutter von der jurassische Bevölkerung so sehr unterstützt wurde, hat weitere Gruppierungen zu Aktionen inspiriert. Mehrere Komitees sind entstanden, um von der Ausschaffung bedrohte Asylsuchende oder Sans-Papiers zu unterstützen. Das MJSSP beriet und unterstützte sie. In den Freibergen war ein ganzes Dorf, Les Breuleux, ab November 2002 aktiv geworden, um zu verhindern, dass eine algerische Familie ausgeschafft wurde. Schulkamerad_innen der ältesten Tochter hatten zunächst die Initiative ergriffen. Wir unterstützten sie mit Rat und Tat und organisierten im Januar 2003 in Saignelégier einen Abend zur politischen Situation in Algerien, der gut besucht war. Die algerische Familie konnte in der Schweiz bleiben, die Mutter und ihre Kinder haben mittlerweile Papiere erhalten.
Zwischen 2005 und 2011, als die Rechtsberatung für Asylsuchende der Caritas Jura geschlossen blieb, führten wir mit unseren Mitgliedern auf Freiwilligenbasis in Delémont eine Anlaufstelle für Asylsuchende und Sans-Papiers. Seit 2012 hat Caritas selbst wieder eine kostenlose Beratungsstelle eröffnet, allerdings nur für Asylsuchende. Wir stehen den Sans-Papiers und anderen Migrant_innen mit einer täglich besetzten telefonischen Auskunftsstelle und mit unserer Webseite www.sanspapiers-jura.ch zur Verfügung.
Information über Flucht-ursachen
Wir organisieren regelmässige Vorträge, um mit der jurassischen Bevölkerung über die Gründe der Zuwanderung zu diskutieren und so der vorherrschenden Desinformation entgegenzutreten, auch um den Zusammenhang zwischen Migration und wirtschaftlicher Ausbeutung des globalen Südens durch die Schweiz und die anderen reichen Länder aufzuzeigen.
Im September 2010 ist Augusta Conchigli von «Le Monde diplomatique» zu uns nach Delémont gekommen und hat von der wirtschaftlichen Plünderung Afrikas gesprochen. Viele Afrika-ner_innen mit und ohne Papiere oder solche im Asylverfahren waren anwesend. Die Diskussion war ein echter Austausch zwischen ihnen und den Jurassier_innen. Es ging um die Probleme Afrikas und die Gründe, welche die Afri-kaner_innen dazu bringen, nach Europa zu kommen. An unseren Zusammenkünften achten wir stets darauf, dass auch Betroffene anwesend sind, die aus eigener Erfahrung berichten. Das berührt die Leute und führt zu äusserst lebhaften Diskussionen. Die Geflüchteten scheinen mir die besten Botschafter zu sein. Sie berichten von jenen wirtschaftlichen und politischen Katastrophen, die der Kapitalismus des Nordens über die ganze Welt bringt. Ihr persönliches Zeugnis kann uns Europäer_innen über unser System zum Nachdenken bringen. Wir arbeiten zusammen mit dem Kurdischen Verein in Delémont und mit Kosovo-Albaner_innen, ebenso wie mit unserem Freund Jean-Patrick, einem ehemaligen Sans-Papiers aus dem Kongo. Über mehrere Jahre haben wir bei Privatleuten Unterkünfte für Sans-Papiers gefunden. Und bei Bedarf greifen wir noch heute auf dieses Netzwerk zurück. Weder unsere Bewegung noch die Personen, die aufgrund unserer Anfrage Sans-Papiers bei sich versteckt hatten, wurden je polizeilich behelligt.
Im Juni dieses Jahres haben wir für die Unterstützung einer syrischen Witwe und ihrer 13jährigen Tochter ein Komitee gegründet. Ihr Mann, ein politischer Oppositioneller, ist auf einer Kundgebung in Syrien von der Polizei erschossen worden. Die beiden haben in der Schweiz mit Verweis auf das Dublin-Abkommen1 einen negativen Asylbescheid bekommen. So wurden sie gegen ihren Willen, begleitet von Polizisten und in Handschellen, nach Italien zurückgebracht. Doch sie sind zurückgekehrt, da ihre ganze Familie in der Schweiz lebt. Ihr Leben im Versteckten ist äusserst schwierig. Und manchmal überlegen sie sich, trotz aller Risiken nach Syrien zurückzukehren. «Lieber dort unten sterben, umgeben von den Meinen, als alleine in Italien zu leben oder im Versteckten in der Schweiz», sagt die Mutter. Wir geben jedoch die Hoffnung nicht auf, dass sich die Frau und ihre Tochter einmal nicht mehr verstecken müssen.
Caroline Meijers, EBF Schweiz
- Die Schweiz gehört zwar nicht zu den wichtigsten europäischen Destinationen für Asylsuchende. Doch sie befand sich zwischen 2009 und 2014 an der Spitze einer anderen Rangliste: der Länder, welche die meisten Migranten an ein anderes europäisches Land überstellten. Siehe: http://www.swissinfo.ch/fre/politique-de-lasile_la-suisse-défend-l-accord-de-dublin-et-ce-n-est-pas-un-hasard/41969008. Die Asylbewegung in der Schweiz
Die Asylbewegung in der Schweiz lebt von einem Wechselspiel zwischen gesamtschweizerischen Mobilisierungen und lokalen Auseinandersetzungen für die Rechte der Geflüchteten und gegen den ständigen Abbau des Asylrechts. So gibt es auf gesamtschweizerischer Ebene immer wieder Ereignisse, die wichtig sind, um den Aktivist_innen, die oft in lokal sehr ungünstigen Kräfteverhältnissen verstrickt sind, ein Gefühl der Stärke zu geben. Ein solches Ereignis war zum Beispiel die Kundgebung vom 1. Oktober 2016 in Lausanne gegen die Dublin-Ausschaffungen mit 3‘000 Teilnehmenden aus der ganzen Schweiz. Trotz der misslichen Witterung und des nur geringen Interesses der meisten Stadtgänger_innen kam ein Gefühl der Stärke auf. Ein Gefühl der Stärke, das auf einem tiefen gemeinsamen Willen beruht, sich auf die Seite der Unterdrückten und von der Globalisierung geknechteten Menschen des Südens zu stellen. Auffällig ist die immer wieder neue Bereitschaft, zumeist jüngerer Menschen, bei den aktiven Gruppen mitzumachen.
Andere starke gesamtschweizerische Mobilisierungen sind Referenden gegen Asylgesetzverschärfungen oder die Aktion für das Kirchenasyl (siehe Archipel Nr. 250). Solche Kampagnen können jedoch nur erfolgreich sein und in der Öffentlichkeit hörbar oder sichtbar werden, wenn in den Regionen lokale Gruppen aktiv sind und sich konkret für die Belange der Geflüchteten einsetzen. Dazu gehören juristische Beratungen, Hilfe bei der Suche von Wohnungen und Arbeit, die Durchführung von Sprachkursen etc. Die Vielfalt der Tätigkeiten stellt den Kontakt mit den betroffenen Flüchtlingen her. Erst deren Einbezug kann den Interventionen auf politischer Ebene das nötige Gewicht und die erforderliche Glaubwürdigkeit verleihen.
Claude Braun, EBF