Am 6. September 2016, ein Jahr nach dem Refugee Convoy Budapest-Wien, übertragen in einer feierlichen Veranstaltung die Fluchthelfer_innen und gleichzeitig Preisträger_innen des Lisa Fittko Preises ihren Preis der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien als dauerhafte Leihgabe.
Im September 2015 war es zu einer der grössten Fluchtbewegungen der jüngeren Vergangenheit gekommen. Als die österreichische Regierung noch in Unschlüssigkeit verharrte, ob sie den Geflüchteten die legale und sichere Ein- und Durchreise gewähren sollte, schritt die Initiative «Refugee Convoy – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge» zur Tat.
Nur wenige Tage zuvor hatten 71 Menschen bei ihrem Fluchtversuch in einem Kühllaster, der bei Parndorf gefunden wurde, ihr Leben verloren. Nie wieder sollten sich solch schreckliche Ereignisse wiederholen. In mehreren Auto-Konvois, an denen sich manchmal über hundert Personen beteiligten, brachten sie eine Vielzahl geflüchteter Menschen aus Ungarn nach Österreich und Deutschland.
Die Fluchthelfer_innen wurden, neben dem österreichischen Ute Bock Preis für Zivilcourage, auch mit dem Lisa Fittko Preis ausgezeichnet. Lisa Fittko, eine in Wien aufgewachsene Widerstandskämpferin, brachte während des Zweiten Weltkriegs, gemeinsam mit ihrem Mann Hans Fittko, hunderte Menschen aus Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien und rettete auf diese Weise deren Leben. Unter den Flüchtenden fanden sich auch intellektuelle Grössen wie Walter Benjamin.
Die Preisträger_innen des Lisa Fittko Preises haben sich dazu entschlossen, den Preis der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien als dauerhafte Leihgabe zu übertragen. Er soll in den Räumlichkeiten der Bibliothek einen festen Platz bekommen und somit für die Öffentlichkeit frei zugänglich sein. Die Statuette wurde am 6. September in einem feierlichen Akt der Wiener Arbeiterkammer übergeben. Der Wiener Buchautor und Aktivist Kurto Wendt beschreibt im folgenden Text, wie es zu den Ereignissen im Herbst 2015 kam.
Selbstermächtigung zur Fluchthilfe
Am 31.8.2015 demonstrierten 20’000 Menschen in Wien für eine humanere Asylpolitik, viele davon hatten auch die Öffnung der Grenzen als Forderung dabei. Zur gleichen Zeit wusste sich die ungarische Regierung nicht mehr anders zu helfen, als Geflüchtete in Zügen nach Wien fahren zu lassen. Mehr als 3’000 waren es in dieser Nacht. (...) Am 1.9. liess die ungarische Regierung den Bahnhof Keleti in Budapest für Refugees wieder sperren; viele Menschen hatten gleichzeitig die Idee, selbst fluchthelfend einzugreifen.
Am Vormittag des 2.9. beschlossen drei Leute, einen Konvoi von Budapest nach Wien zu organisieren, im Laufe des Tages stiessen weitere drei dazu. Um 22:30 Uhr trafen sie zusammen, noch in derselben Nacht um 3 Uhr morgens ging die Facebook-Seite «Konvoi Wien-Budapest Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge» online. Aufgerufen wurde, am Sonntag, den 6.9., gemeinsam nach Budapest zu fahren, um Menschen gratis nach Wien zu bringen. Als Kollektivname wurde «Erszebeth Szabo» gewählt (eine weithin unbekannte ungarische Antifaschistin). Eine wahnwitzige Idee, möchte man meinen – ohne Logistik, ohne Organisation und vor dem Hintergrund, dass in allen Staaten der EU auf Schlepperei hohe Haftstrafen stehen. Die mehr als 3’000 Zusagen binnen 48 Stunden haben aber sicherlich auch bei den politisch Verantwortlichen Eindruck hinterlassen; über 3’000 Leute haben sich in den sozialen Netzen öffentlich dazu bekannt, Fluchthelfer_in-nen zu sein. Die Ankündigung bewirkte dreierlei: Erstens fühlten sich jene bestätigt, die private Fluchthilfe bereits machten, zweitens wurde Dublin III über diese öffentliche Selbstermächtigung zusätzlich in Frage gestellt und drittens wurde die partielle Ohnmacht der staatlichen Ordnung nicht nur gegenüber den neu Ankommenden, sondern auch gegenüber den eigenen Staats-bürger_innen spürbar. Am 4.9. kam es in Budapest zur Verhaftung von vier Aktivist_innen wegen Schlepperei, sicher auch ein Signal gegen den Konvoi. Die Einschüchterung wirkte, die ungarische Justiz schien unberechenbar, fortschrittliche Anwält_in-nen fühlten sich bemüssigt, öffentlich aufzurufen, den Konvoi abzusagen. Der Konvoi wurde offiziell auf einen Hilfsgüterkonvoi reduziert.
Refugees geben den Takt vor
Doch wieder gaben die Menschen auf der Flucht den Takt vor, indem sie sich am Samstag, 5.9. knapp nach Mittag zu Hunderten zu Fuss vom Bahnhof Keleti in Budapest Richtung Österreich auf den Weg machten. Ihre grosse Zahl, ihre Entschlossenheit und ihre Friedfertigkeit erinnerten an grosse historische Bürger_innen-rechtsbewegungen. Der Konvoi, der kurz zuvor noch vor einer möglichen Absage stand, griff das Signal auf. Die Vorbereitungsgruppe kehrte zum ursprünglichen Ziel, der unmittelbaren Fluchthilfe, zurück. In 170 Autos versammelten sich die Teilnehmer_in-nen am 6.9. schliesslich am Parkplatz des Praterstadions, darunter einige Menschen, die noch nie politisch aktiv waren. Die Polizei zeigte sich kooperativ und geleitete den Konvoi mit österreichischen, deutschen, ungarischen und italienischen Kennzeichen bis zur Stadtgrenze. Auf den ersten Blick erstaunlich war das weltweite Medieninteresse an der Aktion. Neben ungarischen und österreichischen Journalist_in-nen berichteten unter anderen auch CNN, BBC, Al Jazeera sowie deutsche, italienische und spanische Radio- und Fernsehstationen in mehreren Liveeinstiegen über das Ereignis. Für die einzelnen Beteiligten war es ein mutiges Zeichen von Zivilcourage, oder wie es eine Teilnehmerin ausdrückte, «die letzten 15 Jahre habe ich Kleider gespendet, der Konvoi gab mir die Gelegenheit, mal mehr zu tun». Die 170 Autos, die an diesem Tag 380 Menschen aus Hegyeshalom, Vámosszabadi und Budapest sicher und unbehelligt nach Wien brachten, waren keine Gruppe, sondern ein bislang unbescholtener Querschnitt der Bevölkerung, der an diesem Tag bewusst in zwei Staaten ein strafrechtliches Delikt beging, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Das war die Sensation, bei der die Medien live dabei sein wollten. Das Bestechende daran war, dass die Aktion nicht im Gestus der Rebellion inszeniert war, sondern als Selbstverständlichkeit. «Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge» hatte an diesen Tag ordnungspolitische Regeln suspendiert, die ungarische Polizei war auf Tauchstation, kümmerte sich nicht einmal darum, ob der Konvoi Verkehrsregeln einhielt. Es war so, als hätte er eine Tarnkappe aufgehabt. Die deutsche Tageszeitung «Die Welt» meinte sogar zu wissen, dass der Konvoi und dadurch ausgelöste diplomatische Verwirrungen die Grenzöffnungen erst ausgelöst hätten.1 Solche Analysen verkennen die aktive Rolle der Geflüchteten. Sie sind Opfer von grausamen Kriegen, hier in Europa wollen sie sich aber nicht auf diese Rolle beschränken lassen, oder wie es einer ausdrückte: «Ich habe es satt, dass ihr Flüchtlinge, Refugees oder Schutzsuchende zu uns sagt. Wir sind Newcomer, wir sind die Neuen bei euch.» Der Konvoi war nur das Spiegelbild dieser Haltung. Solidarische Menschen in 170 Autos, die den Neuen ein Stück ihrer Flucht angenehmer, menschlicher gestalten wollten. Die Entschlossenheit der Newcomer führte zu einer je individuell entschiedenen, aber kollektiv zur Schau gestellten Selbstermächtigung, Gesetze zu ignorieren, um sie zu verändern.
Ziviler Ungehorsam
Der Konvoi fand viele Nachfolger_innen. Aus Amsterdam, Leipzig, Berlin und Graz und zumindest vier weitere aus Wien sind organisierte Fahrten bekannt, die allesamt unbehelligt blieben. Die staatlichen Ordnungsprinzipien sind aus ihrem Taumel aber wieder erwacht. (...)
Obwohl der Verwaltungsgerichtshof schon mehrere Dublin-Abschiebungen nach Ungarn für rechtswidrig erklärt hat, finden sie im Windschatten der neuen Offenheit weiterhin statt. (...) Mobilität, offene Grenzen und sichere Fluchtrouten werden aber auch die nächsten Monate und Jahre als Themen die Diskussion prägen. Stärkere Militarisierung der Grenzkontrollen und Registrierungszentren, die fast zynisch «HotSpots» genannt werden, und die fremdbestimmende Verteilung der Schutzsuchenden auf alle EU-Länder, sind die hilflos anmutenden Versuche der EU, ein Regulierungsregime zu errichten. (...)
Selbstermächtigungen und ziviler Ungehorsam werden diskursive Prozesse beschleunigen – was nicht erst seit dem «Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge» bekannt sein dürfte, in ruhigeren Zeiten gerne aber wieder vergessen wird.
*Kurto Wendt ist Medienbeobachter, Romanautor und politischer Aktivist.
- www.welt.de/politik/ausland/article146507736/ Wer die historische Grenzöffnung wirklich auslöste.html