Der Anthropologe und Balkanspezialist Claude Karnoouh, der Historiker Bruno Drweski, ein Kenner Polens und Weißrusslands, der belgische Wirtschaftswissenschaftler ungarischer Herkunft Nicolas Bardos-Feltórony, der ungarische Soziologe Gabor Támas und andere haben gemeinsam ein Buch über den „Transit“ der Länder Mittel- und Osteuropas und des Balkans vom „Kommunismus“ zur Marktdemokratie herausgegeben.
Der Titel ist bezeichnend: „Großer Ausverkauf im Osten“. Leser, die an den Diskurs vom erfolgreichen „Übergang“ der mittel- und osteuropäischen Länder und ihrem bereits erfolgten oder kurz bevorstehenden Beitritt zur Europäischen Union oder zur NATO gewöhnt sind, werden sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Der so genannte Erfolg dieser Länder wird ja oft dem Scheitern Russlands und der Ukraine gegenübergestellt. Die ehemalige UdSSR und die DDR werden übrigens in diesem Buch, das sich auf Osteuropa und den Balkan konzentriert, ganz ausgeklammert.
Die offiziellen „Transitologen“, denen die global negative Bilanz dieses Buches sicher nicht gefallen wird, rühmen regelmäßig in den Medien und Fachzeitschriften die Vorzüge des „Transits“, der im allgemeinen als Übergang von einem bekannten, teuflischen Ort („Kommunismus“) zu einem bekannten, wunderbaren Ort („Demokratie“) präsentiert wird. Diese dogmatische Art, den „Transit“ darzustellen, übersieht geflissentlich dessen „Ausscheidungen“, man spricht nur von „vorübergehenden Schmerzen beim Durchgang“.
Die Herausgeber des Buches verabreichen der „Transitologie“ ein unbarmherziges, semantisches Abführmittel: „Der verbale Durchfall bei Seminaren, Kolloquien, Konferenzen, nationalen und internationalen Kongressen“ ist in ihren Augen übel riechendes Wasser, das nur schlecht seine politische, von den Auftraggebern vorgeschriebene Couleur verbirgt. Der „universitäre Tourismus“ und das „Monitoring“ der Menschenrechte und der Demokratie seien eine Korruptionsmaschinerie, welche die auf den „Subventionsmarkt“ vorgeladenen Eliten Osteuropas zu „Unterwerfung, Dienstbarkeit und Niedertracht“ treibe. Tatsächlich gibt es ein großes Netzwerk von Stiftungen (vor allem amerikanische), die in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR eine Fülle von NGOs, Journalisten und Entscheidungsträger unterstützt, welche sich dem „Übergang zur Demokratie“ in diesen Ländern widmen. Wir kennen alle die „Stimmen aus dem Osten“, welche die westlichen Ohren hören lassen, was diese hören wollen…, wofür auch die Experten bezahlt werden.
Der „real existierende Sozialismus“
Aber woher kommen die Transitreisenden? Wissen wir denn genau, wie man den Abfahrtsbahnhof nennen soll?
Über den Ausgangspunkt der Reise, den so genannten „real existierende Sozialismus“* vor dem Mauerfall, sind sich die Autoren nicht einig. Für Gabor Támas handelte es sich um einen Staatskapitalismus mit einer kollektiven Besitzerklasse, die Veränderungen betreffen daher nur das politische Regime und die Art des Besitztums. Er beschreibt dennoch „die reellen Zerstörungen, den Abbau von Tausenden Arbeitsplätzen, den Rückfall ganzer Provinzen in das vorindustrielle Zeitalter (…), unglaubliche Profite aufgrund von Schwindel erregender Kapitalspekulation“.
Für Bruno Drweski war das alte System ein Hybrid aus para- und postfeudalen Beziehungen, Sklaverei (Gulag) und Elementen kapitalistischer Modernität. Er unterscheidet jedoch zwischen sozialistischem Erbe in Bewusstsein und Verhalten, einem „Sockel von Erinnerungen“ und „neuen sozialen Prinzipien“, welche den Übergang zum „echten“ Kapitalismus erschweren. Die Beobachter dieser Länder sprechen von einer anhaltenden „Kultur der Arbeit“, von nichtkommerziellen, informellen Beziehungen, die nicht in das Profit- und Konkurrenzdenken passen, zu dem man die ehemaligen „Ostbürger“ auffordert. Wenn diese dann einer gewissen Vergangenheit nachtrauern, wird das oft von oberflächlichen Stimmen als „Ostalgie“ abgetan.
Wer sind die Hauptakteure des Übergangs? Für Darius Ciepelo, Vizepräsident von ATTAC-Polen, wurde die Restauration des Kapitalismus in einer „theoretischen Leere“ gegenüber den neoliberalen Ideen vollzogen, und die Akteure sind sowohl die „kommunistische“ Nomenklatura, als auch die neuen „demokratischen“ Geschäftskreise. Der berühmte Dissident und „linke“ Berater von Solidarnosc, Jacek Kuron, sagte 1989: „Die Kommunisten sind die eifrigsten Verfechter des Kapitalismus in Polen. Sie sind unsere Verbündeten (der Liberalen) und stellen keineswegs Hindernisse oder Gefahren für die Verwirklichung unserer Ziele dar.“ Der Übergang ehemaliger „Linker“ zum Neoliberalismus ist ein anderer Aspekt dieser Umstellung, es gibt dafür auch zahlreiche Beispiele in den USA und in Frankreich.
Wir wissen, dass das Szenario in der ehemaligen UdSSR das gleiche ist: Verschiedene Clans rivalisieren um die Neuaufteilung der Reichtümer. Nicht so hingegen in der ehemaligen DDR, die vom westdeutschen Kapitalismus regelrecht annektiert und „privatisiert“ wurde. In Polen will die harte Rechte, die kürzlich an die Macht gekommen ist, den liberal-postkommunistischen Konsens von 1989 in Frage stellen und eine politische „Ausradierung“ des Kommunismus vornehmen. Ist dieser politische Umschwung ein Vorbote der Rückkehr reaktionärer und faschistoider Kräfte in Zentraleuropa und auf dem Balkan, welche vor 1940 unter den autoritären und faschistischen Regimes im Osten dominierten– Tschechoslowakei ausgenommen?
Zentrum – Peripherie
Nicolas Bardos seine-rseits beschreibt das Eindringen des (westlichen) Kapitals in Zentraleuropa. Die durchschnittliche Produktivität der in die Europäische Union integrierten Länder Mittel- und Osteuropas liegt bei 41 Prozent, die Höhe der Gehälter bei 20 Prozent im Verhältnis zur EU. Der Mehrwert läge beim Doppelten oder Dreifachen. Ungefähr 80 Prozent der EU-Investitionen konzentrieren sich auf drei Länder: Polen, Ungarn und die Tschechische Republik. Doch „der Großteil (dieser Investitionen) kommt den Privatisierungen zugute und nicht der Schaffung von Arbeitsplätzen oder dem Technologietransfer“. Der ausländische Anteil an den Privatisierungen bis 1998 beträgt 48 Prozent in Ungarn, 20 Prozent in Polen, 10 Prozent in der Tschechischen Republik. Im Ganzen werden „zwischen 50 und 75 Prozent“ der mittel- und osteuropäischen Wirtschaft direkt oder indirekt von westlichen Firmen kontrolliert, im Bankensektor sogar 90 bis 100 Prozent.
Wie ist also das Verhältnis zwischen den westlichen Industrienationen und den weniger entwickelten Ländern Osteuropas? So wie zwischen Zentrum und Peripherie. Die Situation ähnelt der von vor 1940 – oder vor 1914 in der ehemaligen UdSSR, außer dass wir uns heute mitten in der „Globalisierung“ der Wirtschaft befinden. Die präkommunistischen Regimes (halbfeudal, klerikal, faschistisch) wurden überdies von sozialistischen Revolutionen weggefegt, und die „nachholenden Modernisierung“, wie man schon am Ende des 19. Jahrhunderts sagte, machte unter dem staatssozialistischen Regimes gute Fortschritte. Die Reformatoren der 1990er Jahre fanden keine Wüste vor oder eine „andere Dritte Welt“, sondern solide Infrastrukturen, Industrien (mit einer Umweltverschmutzung, die jener der westeuropäischen Industriegebiete in den 1930er bis 50er Jahren entsprach), alphabetisierte Bevölkerungen, hoch qualifizierte Intellektuelle, gut ausgebildete, aber unterbezahlte Arbeitskräfte, die sich ohne die „sozialen Gehälter“ des Ostens nicht mit dem Lohnniveau des Westens messen konnten.
Die ehemaligen „Ostblockländer“ nehmen bei ihrem Wettrennen zur Globalisierung unterschiedliche Startpositionen ein: Slowenien, die Tschechische Republik, Lettland oder Estland haben höhere Trümpfe in der Hand als die Balkanländer oder die weniger entwickelten Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Nebenbei bemerkt hat Slowenien, die am weitesten entwickelte Republik des ehemaligen Jugoslawien, ihre Position verbessert und dabei eine liberale „Schocktherapie“ vermieden. Zu den Unterschieden zwischen den Ländern kommen noch die Gräben zwischen Klassen und Regionen: eine Jet Society in den Großstädten, die sich an den westlichen Megapolen orientiert, einige aufstrebende Regionen (Prag, Budapest, übrigens auch Moskau) koexistieren neben verseuchten Industriezonen und vom Fortschritt links liegen gelassener Provinzen.
Gewählte Freiheit?
Ist der „Ausverkauf des Ostens“ wirklich eine Überraschung? Glaubte wirklich jemand damals in der Euphorie der „Zerschlagung des Kommunismus“, dass die Vereinigung Europas nicht den Gesetzen der ungleichen Entwicklung und des klassischen Imperialismus gehorchen würde? Die Autoren des „Großen Ausverkaufs“ beschreiben das soziale Desaster des Übergangs und die Beschlagnahme des Ostens durch den Westen. (…)
Man darf jedoch die interne Triebkraft der „Befreiung“ im Osten nicht übersehen: Das Streben der Völker, und nicht nur der Eliten, nach einem von der ewigen Knappheit erlösten Massenkonsum, nach individuellen Freiheiten, welche die staatssozialistischen Regimes ihren Bürgern vorenthielten. Konsum und Freiheiten sind nun aber eingezwängt in das Korsett der Normen des westlichen Systems: in ein Raubtierverhalten und in eine von Werbung geprägte Ideologie. Die Öffnung dieser Gesellschaften ermöglichte jedoch, zumindest teilweise, das Zirkulieren von Ideen und Menschen, unerwartete Begegnungen, Solidarität und transnationales Engagement für eine andere Welt – undenkbar in der Zeit des Eisernen Vorhangs. Wer würde es wagen, den Bürokraten-Zensoren des Ostens nachzutrauern, die allein entschieden, was gelesen werden durfte und wer reisen konnte? Das (vorhersehbare) Unglück ist, dass nicht nur ein tyrannisches System zerstört wurde, sondern auch relativ autonome Gesellschaften und Kulturen, um sie in eine andere Form der Tyrannei zu überführen, vielleicht in eine noch totalitärere, jene, die Huxley in seinem Buch „Schöne neue Welt“ beschrieben hat.
Die „Ossis“, welche beim Mauerfall mit Bananen und Koffern voller D-Mark empfangen wurden, stehen nun vor den neuen Mauern der „Festung Europa“. Je nach Armutsgrad, Hautfarbe und Religion und den Bedürfnissen der reichen Länder entsprechend sind diese Mauern für die Neuankömmlinge mehr oder weniger leicht zu bewältigen. Die Einwohner des „neuen Osteuropa“ entdecken auch, dass die Wiedervereinigung des Kontinents die Zerstörung ihrer Industrie und Landwirtschaft nach sich zieht, ganz zu schweigen von den neuen Formen der Sklaverei: Die Autoren erwähnen die Prostitution (500.000 osteuropäische Frauen jedes Jahr im westlichen Sexhandel), man könnte auch das Beispiel der neuen Sklaven im Gemüsebau in Südspanien hinzufügen. Eine bereits banale Feststellung: Die so genannte „offene Gesellschaft“, welche einem Georges Soros so lieb und teuer ist, ist es vor allem für Kapital und Waren, für die NATO, mit welcher der berühmte Milliardär-Spekulant-Philanthrop seine Aktionen abspricht, für die nützlichen Migranten, die nach Belieben zu Frondienst verpflichtet werden können. Offene Grenzen also, für neue Formen von Ausbeutung, Repression und Militarisierung. Daher auch immer weniger Begeisterung bei den zur „Öffnung“ aufgeforderten Völkern: An den Europawahlen am 13. Juni 2004 beteiligten sich nur 20 Prozent der Polen und Slowenen, 25 Prozent der Tschechen, 16 Prozent der Slowaken.
Nebenbei bemerkt: Manch post-linker Intellektueller rühmt das „Neue Europa“ für seine Amerikanophilie und den Willen, sich in EU und NATO zu integrieren, für sein Engagement im Irak usw.: „Sie wenigstens haben verstanden, was das alte Europa nicht wahrhaben will. Sie nämlich kennen den Preis der Freiheit“. Einziger Fehler bei dieser Überlegung: Sie verwechselt den Diskurs der Eliten (wie zum Beispiel von einem Vaclav Havel) mit den Gefühlen der Bevölkerung. Diese scheint nicht so begeistert von „Lateinamerikanisierung“, Beteiligung an Kriegen im Mittleren Osten oder der Einrichtung von US-Militärbasen.
Werden die Bumerangeffekte der Liberalisierung im Osten nationalistisch oder souveränistisch sein, oder werden sie einen neuen Internationalismus des Widerstands hervorbringen? Politisch stellt sich die Frage, ob man sich auf die Nationalstaaten stützt gegen den „globalisierten Imperialismus“, oder ob man transnationale Bewegungen der „Zivilgesellschaft“ vorzieht. Die Frage stellt sich auch in Russland und in Lateinamerika und wird innerhalb der altermondialistischen und antiglobalistischen Bewegung diskutiert.
Bleibt auch noch zu sehen, was die EU bringen wird: Die „Heimkehr“ der osteuropäischen Länder ist nicht einfach eine Kolonisierung, sie ist in einen kontinentalen Integrationsprozess im Rahmen der globalisierten Weltwirtschaft eingeschrieben. Es ist also keine „Rückkehr“ zum Ausgangspunkt von 1914 oder 1940!
Neben „Internationalisten“ und „Souveränisten“ gibt es auch die „Europäisten“, die darauf hoffen, dass ein gut integrierter europäischer Block „unsere Zivilisation und unsere Kultur“ vor den verheerenden Auswirkungen der Globalisierung à l’américaine bewahren könnte.
Jean-Marie Chauvier
Brüssel
* Konvention zwischen den Autoren, welche auf die üblichen ideologischen Bezeichnungen verzichtet haben (Kommunismus, Sozialismus, Staatskapitalismus, Totalitarismus etc.) Einige sprechen auch von „Staatssozialismus“ oder „feudalem Sozialismus“. Die Bezeichnung „real existierender Sozialismus“ stammt unfreiwillig aus dem Vokabular Breschnews, welcher den angeblich idealen Sozialismus vom „real existierenden Sozialismus“ unterscheiden wollte, nämlich dem der UdSSR und den so genannten „sozialistischen“ Ländern. Diese bezeichneten sich übrigens nicht als „kommunistisch“. Sie waren dabei, den „Kommunismus aufzubauen“, ein weit entfernter Planet, wo Überfluss und Gleichheit, die klassenlose Gesellschaft ohne Staat (in Selbstverwaltung) herrschen.