RUSSLAND: Neue soziale Bewegungen

de Carine Clément*( Moskau ), 20 mars 2006, publié à Archipel 136

Trotz der zunehmend autoritären politischen Landschaft in Russland entstehen neue soziale Bewegungen, die gegen unsoziale Reformen der Regierung ankämpfen. Initiativen zur Zusammenarbeit und Koordination dieser Gruppen geben durchaus Anlass zu Optimismus für deren zukünftige Vitalität.

Nein, es besteht kein Grund dazu, weiterhin über die legendäre russische Passivität zu trauern. Schon seit über einem Jahr treten in der russischen Gesellschaft Veränderungen auf, die den Wiederbeginn einer heißen politischen Phase ankünden. Nähme man die Zukunft ein wenig voweg, könnte man vom Auftauchen neuer sozialer Bewegungen sprechen, die immer weitere Teile der Bevölkerung erreichen und vor allem mit neuen Methoden wie Vernetzung, Selbstorganisation und mit einheitlichen Kampagnen wirken. Das ist die Reaktion der Gesellschaft auf eine Regierung, deren Politik unverblümt antisozial ist und die politischen Institutionen monopolisiert. Das Wachsen der sozialen Bewegungen wurde vor allem im vergangenen Winter sichtbar, als Tausende von Menschen fast täglich in beinahe allen Städten Russlands auf die Straße gingen, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das damals die sozialen Rechte (die so genannten «Sozialvergünstigungen») verschiedenster sozialer Gruppen (von den PensionistInnen über die StudentInnen hin zu den Behinderten und LehrerInnen) in Frage stellte. Diesen Frontalangriff der Regierung auf soziale Rechte erwiderte die Bevölkerung mit Widerstand auf allen Ebenen. Daraus hat die Versammlungs- und Koordinationstätigkeit eine neue Dynamik erfahren. Dieser Artikel beabsichtigt, kurz die wichtigsten entstehenden sozialen Bewegungen im heutigen Russland vorzustellen.

Politische und soziale Neuordnungen Vorab einige Worte zur allgemeinen Situation: Das institutionelle politische System, das völlig unter der Kontrolle des Kreml steht, blockiert die demokratische Partizipation u.a. durch schwere bürokratische Hürden für Demonstrationen, die Abschaffung der Direktwahl der Regionalgouverneure und Bürgermeister, die definitive Unmöglichkeit, Volksabstimmungen durchzuführen, die Abschaffung des Persönlichkeitswahlrechts, die Erhöhung der Fünf-Prozent-Hürde für den Parlamentseinzug auf sieben Prozent, die praktisch unüberwindbaren Zulassungsnormen für neue Parteien, die Repressionen seitens der Polizei usw. Will man zur offiziell anerkannten Opposition gehören, muss man – zumindest teilweise – die Spielregeln des Kreml akzeptieren. Die wichtigsten Akteure dieser Opposition, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation unter Zjuganov sowie die Partei «Heimat» (Rodina) unter Rogozin spielen auf demselben sozialpatriotischen Feld, ziehen aber ein verschiedenes Publikum an: die KP eher traditionell Konservative, «Rodina» eher Junge und Karrieristen. Beide Parteien versuchen immer mehr, die sozialen Kämpfe für wahltaktische Zwecke zu instrumentalisieren. Wenn es aber um die Aufrechterhaltung ihrer «guten Beziehungen» zu den örtlichen Behörden geht, bemühen sie sich jedoch, die sozialen Bewegungen zu neutralisieren, anstelle diese zu unterstützen. Ein weiteres Schlüsselelement der neuen politischen Situation sind die brutalen Sozialreformen, welche die Kreml-Führung seit der Wiederwahl Putins betreibt. Dazu gehören das Infragestellen der «Sozialvergünstigungen» (genauer gesagt: der sozialen Garantien für bestimmte Berufsgruppen), die Privatisierung öffentlicher Dienste und die Liberalisierung der Preise für Dienstleistungen in den Bereichen Soziales, Bildung und Medizin. Diese Maßnahmen erregten jedoch rasch die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Schließlich schränkt die Gründung einer «Operetten-Zivilgesellschaft», d.h. die Schaffung quasi-offizieller zivilgesellschaftlicher Organisationen, die von der Regierung bestellt und kontrolliert werden, die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten der Zivilgesellschaft auf die politischen Machthaber noch mehr ein. Diese Einschränkungen haben jedoch eine heilsame Klärung unter den sozialen Bewegungen zur Folge. Die Sozialverbände, die Gewerkschaften und die politischen Parteien sind gezwungen, Farbe zu bekennen: Entweder führen sie ihre traditionelle Lobbyismus-Strategie in Loyalität zur Regierung weiter oder sie schwenken auf einen eindeutigen (und damit riskanten) Oppositionskurs ein, was sie zu einem Teil der neuen sozialen Kämpfe machen könnte.

Die Regional-Sowjets Im Rahmen der Welle der sozialen Bewegungen im Winter 2004/5 tauchten Regional-Räte (regionale Sowjets) auf, um die Kämpfe der verschiedenen sozialen Schichten gegen die anti-soziale Offensive der Regierung zu koordinieren. Diese regionalen Koordinationsgruppen erkannten sehr rasch die Notwendigkeit, untereinander Verbindungen aufzubauen. Beim Russischen Sozialforum im April 2005 gründeten die Vertreter dieser Regional-Sowjets ein neues überregionales Netz: die «Union der russischen Koordinierungs-Sowjets» (SKS). Die Koordinierungs-Sowjets organisieren in jeder Region verschiedene neue Verbände, Gewerkschaften und politische Organisationen. Am Anfang umfasste diese Vereinigung neun Bündnisse, wobei jene in Iševsk und Perm (beide im Ural), Sankt Petersburg sowie in den sibirischen Metropolen Tomsk und Omsk zu den aktivsten zählten. Heute ist dieses Netzwerk in ungefähr zwanzig Regionen präsent und hat seinen Aktionsbereich bereits weit über den ursprünglichen Kampf gegen die Abschaffung der «Sozialbegünstigungen» erweitert. Es agiert nun auch auf dem Gebiet des Arbeits- und Wohnrechts und des Umweltschutzes. Die beiden wichtigsten Leiter des Netzwerks sind Andrej Konoval (ein junger Journalist einer Oppositionszeitung in Iševsk aus der sozial-demokratischen Bewegung) und Anastasja Malceva (eine junge, leidenschaftliche Trotzkistin aus Perm, die der «Revolutionären Arbeiterpartei» RRP angehört). Die Aufgaben des Sekretariats und der technischen Koordinierung werden von jungen AktivistInnen des «Instituts für kollektive Aktionen» übernommen. In Perm fand im Juli 2005 eine überregionale Konferenz statt, zu der sich rund hundert AktivistInnen versammelten. Dabei wurde beschlossen, im zukünftigen Aktionsprogramm das Augenmerk besonders auf die Kampagne zur Verteidigung der Wohnrechte zu richten.

Der Sowjet der Sozialen Solidarität (SOS) Zusätzlich zu dem oben erwähnten Netzwerk etablierte sich auch ein Bündnis von Verbänden und Gewerkschaften aus ganz Russland. Es wurde im Sommer 2004 im Rahmen des Kampfes gegen den Gesetzesentwurf zum Abbau der «Sozialvergünstigungen» gegründet. Zu diesem Bündnis zählten vor allem alternative Gewerkschaften, Gruppen zur Verteidigung der Menschenrechte, Behindertenverbände, Verbände der Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl, PensionistInnenorganisationen. Allerdings war dieses Koordinierungsnetzwerk in Moskau wesentlich besser verankert als in den Regionen, wo die erwähnte «Union der Russischen Koordinierungssowjets» (SKS) stärker präsent war. Aber die beiden Netzwerke arbeiteten problemlos zusammen. Die leitenden Personen dieses Netzwerks waren Oleg Šein (Abgeordneter der Staatsduma, Vorsitzender der «Partei der Arbeit» und der Gewerkschaft «Zašèita truda» [«Verteidigung der Arbeit»]), Lev Ponomarev (Vorsitzender der Bewegung «Für die Verteidigung der Menschenrechte») und Vjaèeslav Kitaev (führender Kopf der «Opfer von Tschernobyl» und Oppositioneller). Dieses Bündnis trug in großem Umfang zur Koordinierung der Protestkampagne im Winter 2004/5 und zur Organisation des «Russländischen Sozialforums» bei, das für russische Maßstäbe ein großer Erfolg war, da sich – fast ohne finanzielle Mittel – mehr als 1.000 VertreterInnen von ca. 100 Organisationen in Moskau trafen. Gleichzeitig verschaffte «SOS» der internen Opposition von bestimmten gesellschaftlichen Organisationen, die für ihre Loyalität zur Regierung bekannt sind (vor allem der gesamtrussische Behindertenverband), einen Solidaritätsraum, der es diesen Leuten erlaubte, der Kompromisspolitik der Führung ihrer Organisationen die Stirn zu bieten. Heute ist SOS allerdings nicht mehr selbst aktiv. Aber die Verbindungen, die zur gegenseitigen Unterstützung der Mitgliedsorganisationen geschaffen worden sind, werden aufrechterhalten, so dass das Netzwerk für eine nächste Kampagne reaktiviert werden könnte.

Die «Linksfront» Wie beim Russischen Sozialforum angekündigt, wurde im Juni 2005 die so genannte Linksfront bei einer nationalen Konferenz in die Wege geleitet, aus der ein Initiativ-Komitee hervorging, das den Gründungskongress vorbereitete. Die Idee besteht darin, eine breite Linksbewegung mit (beinahe) revolutionärer (der Aufruf spricht vom «Bruch mit dem kapitalistischen System») und deutlich internationalistischer Ideologie zu gründen, welche die bereits bestehenden Links-Organisationen, noch nicht organisierte Linke und die vor kurzem aufgetauchten Sowjets vereinigen soll. Die wegbereitenden Personen dieses Projekts sind Ilja Ponomarev (kritisches Mitglied der KPRF und ehemaliger Geschäftsmann) sowie Boris Kagarlitski (Direktor des «Instituts für Globalisierungsprobleme», IPROG). Das Projekt scheint insofern attraktiv, als es eine Antwort auf das Bedürfnis darstellt, die russische Linke auf der Basis einer klaren Absage an das herrschende politische und das neoliberal-kapitalistische System zu erneuern. Es handelt sich somit nicht um die Vorbereitung eines Regimewechsels nach dem Muster der «orangenen Revolution» in der Ukraine. Die «Linksfront» sucht auch die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen, was insofern problematisch ist, als dass dies ein wenig zu früh kommt, da sich die sozialen Bewegungen noch nicht klar politisch definiert haben. Darüber hinaus sind die großen politischen Organisationen der traditionellen Linken noch nicht ausreichend geschwächt, dass massive Übertritte ihrer Mitglieder hin zur neuen «Linksfront» erwartet werden könnten. Dies erklärt, warum sich diese Organisation im Moment vor allem aus Einzelpersonen zusammensetzt und warum die Regionalsowjets sowie linke politische Parteien nicht geschlossen beigetreten sind. Doch die Bemühungen von Ilja Ponomarev, der sich im Sommer 2005 in allen Jugendlagern der Linken aufgehalten hat, um vorrangig die kommunistischen Jugendlichen zum Beitritt zur «Linksfront» zu überzeugen, könnten bald Früchte tragen.

Basisinitiativen Man kann in letzter Zeit ebenfalls eine vermehrte Anzahl örtlicher Initiativen beobachten, die sich anlässlich sehr konkreter Probleme formiert haben, wie gegen den Bau eines Gebäudes oder Parkplatzes in einem Erholungsviertel, gegen die Delogierung von BewohnerInnen von Arbeitersiedlungen, gegen konkrete Fälle von Übergriffen durch die Polizei. Diese Initiativen, die oft in die örtlichen Sowjets eingebunden sind, beginnen sich untereinander zu koordinieren. Beispielsweise sind die Koordinierungsgruppen der BewohnerInnen von Arbeitersiedlungen dabei, sich zu organisieren, zuerst einmal auf der Ebene der Stadt Moskau, dann zwischen den Städten. Diese Netzwerkarbeit wird von den BewohnerInnen selbst ausgeführt, aber oft mit aktiver Hilfe der Links- oder Mitte-Links-AktivistInnen. Dadurch kommen viele von ihnen, vor allem die jungen AktivistInnen zu einem Engagement für konkrete soziale Kämpfe.

Die Stellung der Gewerkschaften Die Gewerkschaften haben Mühe, die neuen sozialen Bewegungen zu integrieren, größtenteils aus leicht verständlichen Gründen. Heben wir nur als ein Beispiel unter anderen die traditionelle Gewerkschaftskonföderation FNPR hervor, deren Führung gänzlich im Bannkreis der Regierung steht. Mit der einzigen Ausnahme der LehrerInnengewerkschaft verhalten sich ihre anderen Gewerkschaften sehr passiv. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung erhöht den Druck der Arbeitgeber und zwingt die alternativen Gewerkschaften, sich auf die Arbeitskonflikte im engeren Sinn im Rahmen des Unternehmens zu konzentrieren. So haben mehrere alternative Gewerkschaften eine Kraftprobe mit dem Management in ihren Firmen bei den Verhandlungen um Unternehmensvereinbarungen begonnen. Dies war zum Beispiel bei den Fluglotsen der Fall oder bei den Hafenarbeitern in St. Petersburg, die seit Anfang August Dienst nach Vorschrift machten und danach zu Schwerpunktsstreiks übergingen. Bei den unabhängigen Eisenbahnergewerkschaften sind ebenfalls bald solche Aktionen zu erwarten. Trotz allem kann man auch im Gewerkschaftsbereich Veränderungen wahrnehmen. Es gibt neue Initiativen, wie zum Beispiel die Gründung des «Verbands der Gewerkschaften Russlands (FPR)» und Bemühungen, sich zusammen mit anderen sozialen Akteuren in gemeinsame Kampagnen einzubringen (zum Beispiel in die Kampagne zum Thema «Sozialvergünstigungen»). Das Projekt der «Partei der Arbeit», das im Wesentlichen auf den alternativen Gewerkschaften basierte, ist allerdings leider gescheitert, da ihm die offizielle Registrierung verweigert wurde. Aber das Netzwerk der «Partei der Arbeit» bleibt bestehen, worauf bei gemeinsamen Aktionen zurückgegriffen werden kann. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass die Gewerkschaftsführer, die an geregelte Verhandlungen, streng verfahrensrechtliche Aktionspläne und an eine sehr formale Organisation gewöhnt sind, den weniger geregelten Mobilisierungsformen der sozialen Bewegungen ziemlich befremdet gegenüberstehen. Doch in manchen Regionen geht die Begegnung zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der sozialen Bewegung schon recht effizient vor sich.

Die künftigen Kampagnen Schon jetzt wird eine Kampagne vorbereitet, die sich für die Mehrzahl der vorgestellten Netzwerke als vorrangig erweist: die Verteidigung des Wohnrechts und anderer mit dem Wohnen verbundener Rechte. Diese Schwerpunktsetzung wird verständlich durch die Reform des Wohngesetzes und der laufenden Reformen der Hausverwaltungen sowie der kommunalen Dienstleistungen und ihrer Tarife, die auf der Logik der Privatisierung und der Liberalisierung der Preise beruhen. Sowjets und regionale Bündnisse starteten die Kampagne bereits im Sommer 2005 mit Versammlungen in Stadtvierteln. EinwohnerInnenkomitees wurden gegründet und schlossen sich zum Teil mit Hilfe von AktivistInnen zusammen. Die «Komitees der BewohnerInnen von Arbeitersiedlungen gegen die Delogierung» organisierten mehrere Aktionen und führten im Herbst eine große gemeinsame Initiative durch. Die Dokumentationszentren in Moskau (IPROG und IKS) versorgen dabei sowohl die Bevölkerung als auch die AktivistInnen mit Ausbildungs- und Informationsmaterial. Anfang Oktober 2005 wurde in Iševsk ein überregionales Seminar zum Problemkreis «Wohnen» abgehalten, um die Ausbildung der AktivistInnen sicherzustellen und die weiteren Schritte der gemeinsamen Aktionen zu fixieren. Diese Kampagne wird vielleicht nicht an die soziale Explosion des Winters 2004/2005 heranreichen, aber sie wird sicherlich ermöglichen, das bestehende Netzwerk zu erweitern. Unter den vielen anderen Themen der Kampagne muss man die Bildungsreform erwähnen, gegen die sich ein Teil der Gewerkschaften, der Rektoren, der LehrerInnen und der Studierenden organisiert. Erwähnenswert sind insbesondere das Bündnis «Bildung für alle!», das vom kommunistischen Abgeordneten Oleg Smolin geleitet wird, sowie das «Netzwerk des studentischen Protests», das neue und bestimmte traditionelle Studierendengewerkschaften sowie Gruppen junger AktivistInnen miteinander verbindet. Auch wenn die Effizienz und der Fortbestand dieser Bewegungen weit davon entfernt ist, gesichert zu sein, so ist eines gewiss: Die Akteure und die Formen der sozialen Bewegungen verändern sich tatsächlich und scheinen den neuen Bedingungen der sozialen Kämpfe besser angepasst, was mittelfristig nur zu einer Verstärkung der sozialen Bewegungen führen kann. Und sie müssen sich immer wieder auf zusätzliche Schwierigkeiten einstellen. So verabschiedete das russische Parlament Ende Dezember 2005 auch noch das umstrittene neue Gesetz über die Registrierung aller NGOs, das jede Tätigkeit verbietet, welche «die Souveränität, politische Unabhängigkeit, territoriale Integrität, nationale Einheit und Eigenart, das Kulturerbe und die nationalen Interessen Russlands» bedroht (zitiert nach: dpa).

Carine Clément*,

Moskau

* Soziologin und Direktorin des «Instituts für kollektive Aktionen» in Russland ( www.ikd.ru )

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift Ost/West-Gegeninformationen Nr. 3, 2005 veröffentlicht. Aus dem Französischen von Gerald Schreiner