Am 1. November 2024 um 11:52 Uhr stürzte das Betonvordach des neu renovierten Bahnhofs in Novi Sad ein. Dabei kamen 14 Menschen ums Leben (das jüngste Opfer war ein sechsjähriges Mädchen) und drei wurden schwer verletzt, von denen zwei später starben: eine 24-jährige Frau und ein 19-jähriger Mann. Da die Regierung 65 Millionen Euro an Steuergeldern für die Renovierung ausgegeben hatte, wurde diese Tragödie zum Symbol für jahrelange Vernachlässigung und Korruption.
Eineinhalb Jahre zuvor waren die Bürger·innen Serbiens von zwei Tragödien erschüttert worden. Am 3. Mai 2023 tötete ein 13-jähriger Junge bei einer Schiesserei in einer Schule in Belgrad neun Schüler·innen und einen Wachmann, und in der Nacht vom 3. auf den 4. Mai tötete ein 21-Jähriger neun Menschen und verletzte 13 weitere. Die schockierten Bürger·innen gingen auf die Strasse, und die Opposition bildete eine Koalition «Serbien gegen Gewalt» und organisierte Proteste. Als die Regierung jedoch Parlamentswahlen ankündigte, zerbrach die Koalition. Einige Parteien nahmen an den Wahlen am 17. Dezember 2023 teil, während andere zum Boykott aufriefen und behaupteten, die Regierungspartei und ihr loyaler Koalitionspartner (einst gegründet und geführt von Slobodan Milosevic) würden die Wahlen manipulieren, solange keine fairen Bedingungen gewährleistet seien. Die regierende Koalition, die «Serbische Fortschrittspartei» (SNS), errang einen überzeugenden Sieg, und die verwirrten Wähler·innen der Opposition (wählen oder nicht wählen?) waren verbittert.
Die Regierung konnte nicht direkt für die Tragödien vom Mai verantwortlich gemacht werden, doch gab es viele öffentliche Diskussionen über die Art der Gesellschaft, in der wir leben. Der Einsturz der Überdachung war eine andere Sache. Sie vertiefte das bereits bestehende Bewusstsein, dass Korruption in der gesamten Gesellschaft und insbesondere im Bausektor herrscht.
Was wollen die Studierenden?#ste war die erste, die eine Fakultätsblockade organisierte, bald darauf folgten die meisten anderen Fakultäten (75 Prozent der Fakultäten in Serbien stehen unter vollständiger studentischer Kontrolle), Gymnasien und sogar Grundschulen, unterstützt von ihren Professor·innen, Lehrer·innen, Eltern und anderen Bürger·innen. Im Dezember verkündeten die vereinigten Student·innen ihre vier Forderungen, von denen die erste die wichtigste war: Die Freigabe aller Unterlagen im Zusammenhang mit dem tödlichen Unfall sowie die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen, die Identifizierung und Bestrafung der Personen, die friedlich an den Protesten teilnehmende Student·innen und Bürger·innen angegriffen und verletzt haben, die sofortige Einstellung der Verfahren gegen Studierende, die während der Proteste festgenommen wurden und viertens die Aufstockung der staatlichen Mittel für die Hochschulbildung.
Obwohl diese Forderungen im Vergleich zum Ausmass der Proteste gering erschienen, konnte die Regierung sie, vor allem die erste Forderung, nicht erfüllen, ohne dass ihre Korruptheit offen zu Tage getreten wäre. Einige Dokumente wurden veröffentlicht, die wichtigsten jedoch nicht. Ein weiteres halbherziges Zugeständnis der unter Druck geratenen Regierung war der Rücktritt des Premierministers Ende Januar 2025, der zum Sturz der Regierung führte.
Die Struktur der Student·innenproteste ist horizontal (keine Hierarchie, keine Anführer·innen). Die Organisation und Entscheidungsfindung erfolgt durch direkte Demokratie. Alle Entscheidungen werden in Plenarsitzungen getroffen, die über soziale Netzwerke miteinander kommunizieren und ihre Entscheidungen auf der Website der Studierenden und in unabhängigen privaten Medien veröffentlichen.
Schweigeminuten und ein Marsch
Die Bürger·innen Serbiens folgten massiv dem Aufruf der Studierenden, täglich die Strassen zu blockieren und der Opfer des Unglücks in Novi Sad mit 15 Minuten Schweigen zu gedenken – eine Minute für jedes Opfer (für das 16. Opfer in Novi Sad und für die Opfer des Brandes in Nordmazedonien wurden weitere Minuten hinzugefügt). In vielen Städten und Dörfern Serbiens fanden Proteste statt. Die Bürger·innen äusserten ihren Willen noch deutlicher: das Ende der dreizehnjährigen Herrschaft der regierenden «Serbischen Fortschrittspartei» (SNS) und ihres inoffiziellen, aber absoluten Führers, Aleksandar Vučić, dem aktuellen Präsidenten Serbiens(1). Die Student·innen hielten sich jedoch von allen Parteien und der Politik im engeren Sinne fern.
Ende Januar begannen Studierende aus ganz Serbien, quer durch das Land zu marschieren, um an lokalen Protesten teilzunehmen, möglichst viele Menschen zu treffen und unterwegs «Liebe zu verbreiten». Studierende und Schüler·innen legten zu Fuss die Strecke von Belgrad nach Novi Sad (95 Kilometer) zurück, dann von Novi Sad und Belgrad nach Kragujevac (239 Kilometer bzw. 139 Kilometer) und von Novi Sad und Belgrad nach Niš (328 Kilometer bzw. 240 Kilometer). Scheinbar endlose Kolonnen junger Menschen mit Fahnen und Transparenten wurden zum alltäglichen Bild. Die Anwohner·innen begrüssten sie herzlich, selbst die Ärmsten boten ihnen Brot, Obst und uneingeschränkte Unterstützung an. Bei längeren Pausen kümmerten sich örtliche Ärzt·innen und Medizinstudent·innen um ihre Füsse. Die Student·innen bedankten sich dafür, dass die Unterstützung der Menschen ihnen Kraft zum Durchhalten gebe, und säuberten jeweils alle Bereiche gründlich, in denen die Proteste stattgefunden hatten. Gerne würde ich über verschiedene Beispiele für diese Solidarität berichten, wie z.B. über Hunderte von Taxifahrer·innen, die zu all diesen Orten fuhren, um die Student·innen nach ihren Demonstrationen zurückzufahren – natürlich kostenlos. Doch die Liste der unterstützenden Aktionen wäre zu lang.
Einsatz einer Schallkanone
Am 15. März kamen dann Studierende aus ganz Serbien zu Fuss nach Belgrad, um an einer Massenprotestaktion teilzunehmen. Ihnen folgten viele Bürger·innen, die grösstenteils mit dem Auto gekommen waren. (Der öffentliche Nahverkehr war an diesem Tag eingestellt worden.) Über 300.000 Menschen versammelten sich in den Strassen rund um das Parlament. Abgesehen von viel Lärm verlief die Demonstration sehr ruhig. Um 19:15 Uhr begann die fünfzehnminütige Schweigeminute für die Opfer, die jedoch zwölf Minuten später durch etwas unterbrochen wurde, das Panik auslöste. Tausende Bürger·innen beschrieben die Situation, wie sie sich in diesem Moment fühlten und welche gesundheitlichen Folgen sie davongetragen hatten (Gehörschäden, Fehlfunktionen von Herzgeräten, psychische Traumata). Militärexpert·innen behaupteten, es habe sich um eine Schallwaffe gehandelt, und die Studierenden fügten eine fünfte Forderung hinzu: die Untersuchung des Vorfalls und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen. Der Präsident erklärte, dass Schallwaffen in Serbien nicht legal seien und weder die Polizei noch die Armee über solche Waffen verfügten. Als die Opposition Beweise für das Gegenteil vorlegte, gab der Polizeiminister zu, dass mehrere solcher Waffen gekauft worden seien, «aber wir haben sie noch nicht einmal ausgepackt». Neue Beweise und eine neue offizielle Erklärung: «Ja, die Geräte waren am 15. auf der Strasse, aber wir haben sie nicht eingesetzt.» Die Schlussfolgerung der Regierung: Entweder handelte es sich um eine kollektive Hysterie von Tausenden von Menschen, oder ihr Verhalten wurde von den Organisator·innen der Proteste choreografiert. Unterdessen kam der russische Geheimdienst, der von der Regierungspartei als Expertengremium hinzugezogen worden war, zu dem Schluss, dass «keine Schallwaffen eingesetzt worden seien». Die Aktion der Demonstrant·innen sei eine «sorgfältig choreografierte Inszenierung» gewesen.
Lügen und schlechte Kopien
Es gab noch viele andere grosse Lügen. Beispielsweise behauptete der Präsident nach dem Einsturz des Vordachs, dass dies der einzige Teil des Bahnhofs sei, der nicht renoviert worden war. Der Präsident beharrte auch darauf, die Proteste als «bunte Revolution» zu bezeichnen, die aus dem Ausland bezahlt und organisiert worden sei, ohne jedoch zu verraten, von wem. Offensichtlich nicht von der EU, die den amtierenden Präsidenten (der Lithium und eine Lösung für den Kosovo versprochen hat) offiziell unterstützt, und auch nicht von China, Russland oder den USA, die mit den serbischen Autoritäten befreundet sind.
Seit Beginn der Proteste hat die Regierung in ihren loyalen Medien Ziele festgelegt. Während einiger der ersten Verkehrsblockaden fuhren mehrere Autos in die Menge. In Novi Sad wurden mehrere Student·innen geschlagen. Einem Mädchen wurde der Kiefer gebrochen und vier Zähne ausgeschlagen (von SNS-Mitgliedern und Anhänger·innen). Kürzlich wurde der Dekan der Philosophischen Fakultät von Niš in die Hand gestochen. Journalist·innen der oppositionellen Medien wurden mehrfach verbal und körperlich angegriffen. Es wäre schwierig, alle aufzuzählen, die festgenommen oder zu einem «informativen Gespräch» eingeladen wurden. Die Behörden versuchen ausserdem, die Studierenden zu kopieren. Vor dem 15. März organisierten sie das Camp der «Studenten, die lernen wollen» im Park gegenüber dem Parlament. Unter ihnen erkannten die Bürger·innen mehrere Reality-TV-Teilnehmer·innen, einen Pornodarsteller und Mitglieder der «Roten Barette», einer Spezialeinheit, die 2003 die Ermordung von Premierminister Zoran Đinđić organisiert und durchgeführt hatte. Es waren nicht viele Studierende zu sehen. Die protestierenden Student·innen reagierten auf alle Nachahmungsversuche mit den Worten: «Es tut uns nicht leid, dass sie unsere Ideen stehlen, sondern dass sie keine eigenen haben.»
Das Ende?
«Es ist vorbei, wenn wir sagen, dass es vorbei ist», wiederholen die Student·innen als Antwort auf den Präsidenten, der immer wieder ein anderes Datum für das Ende der Proteste nennt. Nach fünf Monaten scheint niemand zu wissen, wann und wie oder wann es wirklich enden wird. Eines ist sicher: Die Bürger·innen sind erschöpft, körperlich und finanziell. Die Lehrer·innen, eine bedeutende Bevölkerungsgruppe, erhielten mehrere Monate lang statt ihres Gehalts eine Beleidigung – zwischen zwei und hundert Euro. Universitätsprofessor·innen sind in einer etwas besseren Lage, da sie erst seit März ohne Gehalt sind. Der Präsident versprach ihnen Kartoffeln, lieferte aber keine. Auch Eltern von Schulkindern tragen eine schwere Last. Die meisten von ihnen arbeiten (viele im Bildungswesen). Wenn sie von der Arbeit kommen, gehen sie auf die Strasse (Blockaden, Versammlungen, Treffen in der Schule ihrer Kinder). Ausserdem erhalten sie täglich Hunderte von Nachrichten auf ihren Handys von der Schule und anderen Eltern, die sie nicht ignorieren können. Und wie geht es den Schüler·innen? Sind sie müde? Einige von ihnen haben an allen grossen «Märschen» teilgenommen. Diejenigen, die sich derzeit mit Fahrrädern Strassburg nähern (sie sind am 3. April in Novi Sad zu ihrer 1400 km langen Reise aufgebrochen), haben ebenfalls mehrere Monate lang Serbien zu Fuss durchquert. Auf die Frage, ob sie müde seien, antworteten sie jedoch stets mit einem gemeinsamen Sprechchor: «Niemand ist müde! Wir wissen nicht, was Müdigkeit ist!» Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen zurzeit 80 Prozent der Bürger·innen die Student·innenproteste. Die Demonstrationen dauern in etwas kleinerem Umfang an. Heute (19. April, Anm. d. Red.) ist der sechste Tag der Blockade des öffentlich-rechtlichen Rundfunks («Radio-Fernsehen von Serbien») durch hunderte, gegen die einseitige, diffamierende Berichterstattung protestierende Bürger·innen. Oppositionsparteien und -bewegungen, politische Analyst·innen und unabhängige Journalist·innen fordern die Studierenden als derzeit stärkste Kraft in der Gesellschaft auf, nicht länger puristisch zu sein, d. h. sich nicht länger von Oppositionsparteien und Politik im engeren Sinne zu distanzieren und zu sagen, was sie wollen: eine Übergangsregierung, die Gründung einer Student·innenbewegung oder eine andere Lösung für die Krise? Die Studierenden wiederholen weiterhin, dass sie nur die Erfüllung ihrer Forderungen wollen. Vielleicht erfahren wir heute mehr, wenn achtzig von ihnen das Ziel ihrer Radtour in Strassburg erreichen, die organisiert wurde, um die EU-Institutionen über ihre Forderungen und ihre Situation in Serbien zu informieren. Während wir auf die Ergebnisse in Strassburg warten2, möchte ich mit einem etwas entspannteren, wenn auch nicht optimistischeren Ton schliessen. Im Dezember 2024 fassten die FDU-Studierenden (Fakultät der darstellenden Künste) die Ergebnisse ihrer Proteste wie folgt zusammen: Frisch verliebte Studierende: viele Proteste abgehalten: viele Die Universitätskatze: hat etwas zugenommen Forderungen erfüllt: null Einladungen für uns in den öffentlichen Medien zu sprechen: null
Slavica Miletic, literarische Übersetzerin, Belgrad*
*Slavica, mit der wir seit vielen Jahrzehnten befreundet sind und zusammenarbeiten, hat diesen Artikel am 18. April für Archipel geschrieben.
Ehemaliges Mitglied der Radikalen Partei, deren Vorsitzender und Freund Vojislav Šešelj ist, der seine Strafe vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verbüsste. Ausserdem ehemaliger Minister in der Regierung von Slobodan Milošević.
Von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments erhielten die Studierenden die Zusage, dass sie ihre Botschaft an das EU-Parlament weiterleiten werden – aber auch den Hinweis, dass sie nicht zu hohe Erwartungen haben sollten.