In einer soziologischen Studie des Centrum pro vyzkum verejného mineni (Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung, CVVM) in Tschechien antworteten im Jahr 2009 77 Prozent der Befragten, dass ihnen Roma «unsympathisch» seien; auf einer Beliebtheitsskala von eins (sehr sympathisch) bis sieben (sehr unsympathisch) erhielten Roma mit 5,7 den mit Abstand schlechtesten Wert aller ethnischen Minderheiten.
Die etwa 200.000 Roma, unge-fähr drei Prozent der Gesamtbevölkerung, leben in Tschechien überwiegend ghettoisiert. Mehrere hundert von ihnen wohnen in den Kleinstädten des tschechisch-deutschen Grenzgebietes, dem so genannten Schluckenauer Zipfel. In dieser Region mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittlichen Löhnen sind Roma in den letzten Wochen verstärkt zum Sündenbock für eine allgemeine Unzufriedenheit geworden.
Pogromstimmung in Nordböhmen
Mit dem als Facebook-Gruppe organisierten «Bürgerlichen Widerstand» um Josef Masin in Rumburk und dem als Trickbetrüger ziemlich populär gewordenen Lukas Kohout in Varnsdorf fanden sich zwei Organisatoren, die bei einem guten Dutzend teilweise unangemeldeter Aufmärsche Tausende Bürgerinnen und Bürger «gegen den schwarzen Rassismus» auf die Straße bringen konnten. Ausdrücklich waren in einem der ersten Aufrufe (Titel: «Der Topf läuft über») in Varnsdorf auch die «Vietnamesischen Bürger» zu den Aktionen gegen Roma eingeladen worden.
Zu den «Argumenten» für die Teilnahme an den aktuellen rassistischen Umtrieben gehören Gerüchte über angeblich «rassistisch» motivierte Übergriffe von «schwarzen» auf «weiße» Tschechinnen und Tschechen. Ebenso ist die kontrafaktische Behauptung beliebt, die Neuansiedlung von Roma im vergangenen Jahr habe die Kriminalitätsrate in der deutsch-tschechischen Grenzregion deutlich gesteigert.
Am 10. September sorgte in Varnsdorf schließlich eine bruchlose Allianz aus bürgerlichem Mob, so genannten Autonomen Nationalisten und anderen VertreterInnen der extremen Rechten für eine Dynamik, die eine ernste pogromartige Situation schaffte: Tausende BürgerInnen skandierten Cechy cechum («Tschechien den Tschechen») und Cikani do plynu («Zigeuner ins Gas»). Lautstark feuerten sie zudem aus dem ganzen Land angereiste Neonazis und Hooligans an, als diese mit massiver Gewalt die zum Schutz der Roma aufgezogenen Polizeiketten zu durchbrechen versuchten.
Antiziganistische Ausschreitungen und Übergriffe sind in der Region Ústí jedoch nichts Neues. In Litvinov waren im Herbst 2008 mehrfach die Ochrane sbory (Schutzkorps) aufmarschiert, ein militanter Arm der extrem rechten Delnicka strana (Arbeiterpartei, DS). Am 17. November 2008 zogen dann Neonazis in das Romaviertel im Litvinover Stadtteil Janov und lieferten sich stundenlange Straßenschlachten mit der zum Schutz der Roma aufgezogenen Polizei. Damals hatten Bürgerinnen und Bürger den Nazis begeistert applaudiert. Den offensichtlichen Schulterschluss zwischen Bevölkerung und extremer Rechter bezeichnete das tschechische Innenministerium anschließend als «das größte Sicherheitsrisiko». In Mobilisierungsvideos und mit T-Shirt-Aufdrucken kokettieren die tschechischen Neonazis seither gerne mit der Chiffre «Litvinov».
Der rechte Terror blieb jedoch nicht auf Nordböhmen beschränkt: Kein halbes Jahr nach der Straßenschlacht in Litvinov-Janov griffen am 18. April 2009 Neonazis im mährischen Vitkov mit Molotowcocktails das Haus einer Romafamilie an, wobei ein zweijähriges Mädchen schwerste Verbrennungen erlitt.
Mit Antiziganismus auf dem Weg zum Erfolg
Politisch organisierten sich Neonazis in der Tschechischen Republik damals vor allem im Narodni odpor (Nationaler Widerstand, NO) und bei den Autonomní nacionalisté (Autonome Nationalisten, AN). Der Odpor ging um den Jahreswechsel 1998/1999 in Anlehnung an die so genannten Freien Kameradschaften in Deutschland aus der Prager Blood’amp-Honour-Sektion hervor. Die tschechischen AN formierten sich ab 2004 ebenfalls nach deutschem Vorbild und bilden seither eine Plattform für die Zusammenarbeit von jungen Neonazis und Ultranationalisten.
Die von Tomas Vandas angeführte Delnicka strana war vor 2008 weitgehend unbedeutend. Danach gewann die DS durch Zusammenarbeit mit Neonazigruppierungen, durch Beitritte von Mitgliedern nationaler Kameradschaften, durch den gemeinsamen Übergriff auf Janov und durch engere Kontakte nach Deutschland an Bekanntheit und Bedeutung. So übernahm die neonazistische Partei den jährlichen Aufmarsch zum 1. Mai von den «Freien Kräften». Nach dem Verbot der DS im Jahr 2010 setzte die Nachfolgepartei Delnicka strana socialni spravedlnosti (Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit, DSSS) mit demselben Parteivorsitzenden die Arbeit fort.
Das eindeutig neonazistische Auftreten der DSSS, zum Beispiel bei Aufmärschen für verstorbene oder inhaftierte Kameraden, widerspricht der Selbstdarstellung als «patriotische, traditionalistische» und «euroskeptische» Partei. Im Aufruf zu einem Aufmarsch am 1. Mai 2011 in Brno wurden «Globalisierung» und «Europäisierung» als gegen das «Volk» gerichtete Feindbilder benannt. Darüber hinaus wird ein völkischer Nationalismus mit einer verschwörungstheoretisch fundierten «Kapitalismuskritik» verwoben.
Die von der DSSS vertretenen Positionen und Aktionen sind vor allem dann an gesellschaftliche Diskurse in Tschechien anschlussfähig, wenn es um Romafeindlichkeit geht. So konnte Vandas nach den neonazistischen Ausschreitungen von Litvinov behaupten, seine Partei sei von besorgten Bürgern zur Hilfe gerufen worden, um sich gegen die Roma zu wehren. Derzeit meldet die DSSS beinahe monatlich Aufmärsche an; häufig führen diese provozierend durch Romasiedlungen. Im April 2011 organisierte sie zum Beispiel einen antiziganistischen Marsch gegen «schwarzen Terror» und «schwarzen Rassismus» durch das ebenfalls in der Region Usti gelegene Städtchen Krupka. Im Jahr zuvor war hier ein Junge bei einer Schlägerei durch einen Roma verletzt worden. Die DSSS konnte so vor den anstehenden Kommunalwahlen auf sich aufmerksam machen und erreichte prompt sieben Prozent der abgegebenen Stimmen. Weil die Wahl aus formalen Gründen wiederholt werden musste, trat die DSSS am 10. September erneut mit einem antiziganistischen Aufmarsch in Krupka auf. Am nächsten Tag steigerte sich die DSSS auf knapp zehn Prozent der Stimmen und erhielt zwei Sitze im Stadtparlament. Ein deutlicher Erfolg für die Partei, die bisher keinerlei Mandate erringen konnte.
Auch deutsche Neonazis beginnen sich für die antziganistischen Aktionen ihrer tschechischen Kameraden zu interessieren. So greift der Nürnberger Nazi-Kader Norman Kempken vom «Freien Netz Süd» das Thema in der Oktober-Ausgabe der NPD-Zeitung Deutsche Stimme auf: Kempken freut sich über die «Demonstrationen, an denen sich beispielhaft massenweise Normalbürger beteiligen, um ihren Unmut über dieses Negativthema lautstark zu äußern» und beklagt im Gegenzug: «In Deutschland sind wir von dieser Art des völkischen Widerstandes leider noch weit entfernt.»
In Tschechien versucht die extreme Rechte derweil eine Ausdehnung der antiziganistischen «Proteste» über Nordböhmen hinaus. Am 24. September 2011 meldeten Neonazis sechs Aktionen im ganzen Land an, zu denen DSSS und Autonome Nationalisten trotz unterschiedlicher Themen mit einem gemeinsamen Aufruf mobilisierten. Beim nationalistischen «Wenzelstag» in der nahe Prag gelegenen Stadt Kladno blieben die veranstaltenden Autonomen Nationalisten weitgehend unter sich. Zu einer Kundgebung der DSSS im mährisch-schlesischen Havírov konnten unter einem antiziganistischen Motto gegen «nicht anpassungsfähige Gauner», die es nicht nur in Nordböhmen gebe, jedoch 500 BürgerInnen mobilisiert werden.
Im «Schluckenauer Zipfel» gibt es dagegen Anzeichen dafür, dass der Schwung der regelmäßigen Aufläufe erlahmen könnte. Kamen beispielsweise an den lauen Sommerabenden im September in Rumburk bis zu 2.000 BürgerInnen zusammen, fanden sich zuletzt nur noch ca. 50 TeilnehmerInnen zu antiziganistischen Aktionen ein. Auch ein von Lukas Kohout in Prag organisierter Protestzug («Wir haben Varnsdorf überlebt, wir werden alles überleben») blieb mit 50 mitgereisten VarnsdorferInnen übersichtlich.
Ausdehnung der antiziganistischen Aktionen
Gegen die Aufmärsche in Novn Bydzov, Krupka und Prerov in der ersten Hälfte dieses Jahres organisierten zivilgesellschaftliche Gruppen Gegenaktionen und Blockadeversuche. In Prerov waren Vertreterinnen und Vertreter der Menschenrechtsorganisation Clovek v tisni (Menschen in Not) zum Schutz der Roma angereist und hatten zudem in einem Hinterhof eine Gegenveranstaltung mit Musik organisiert. Beim Neonaziaufmarsch am 1. Mai 2011 in Brno war es dem breit getragenen Bündnis «Brno blockiert» gelungen, den Zugang zum Romaviertel so zu versperren, so dass die Neonazis umgeleitet werden mussten. Gegen die antiziganistischen Aktionen im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland gab es dagegen nur mit Verspätung kleinere Gegenproteste von zivilgesellschaftlichen oder antifaschistischen Gruppen. Die Initiative Nenavist neni reseni (Hass ist keine Lösung) verband dabei antifaschistischen Protest mit Solidaritätsaktionen für die bedrohten Roma.
Selbst bei einem Abschwung der antiziganistischen Aktionen wäre das Problem Antiziganismus politisch in keiner Weise gelöst. Nicht einmal nach der Straßenschlacht in Janov wurden staatliche Programme gegen das weit verbreitete Ressentiment aufgelegt. Auch die ghettoisierte Ansiedlung von Roma wurde nicht überdacht. Stattdessen wurden die überfüllten Unterkünfte geräumt und slowakische Roma in die Slowakei abgeschoben.
Das wird sich unter der Regierung von Ministerpräsident Petr Necas wohl kaum ändern. Die Koalition zwischen der Obcanska demokraticka strana (Demokratische Bürgerpartei, ODS) und den Parteien Tradice, odpovednost, prosperita (Tradition, Verantwortung, Wohlstand, TOP 09) und Veci verejne (Öffentliche Angelegenheiten, VV) steht für eine konservative bis rechtspopulistische Ausrichtung. Der Bildungsminister Josef Dobes beispielsweise ernannte Ladislav Batora zu seinem Personalchef. Batora gilt als homophob und antisemitisch. Er war zudem führender Aktivist und Parlamentskandidat der extrem rechten Narodni strana (Nationalpartei). Diese forderte in einem Fernsehspot im Wahlkampf zur Europawahl 2009 die «Endlösung der Zigeunerfrage».
Quelle: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 565 / 21.10.2011