TÜRKEI: Im Würgegriff einer Autokratie

de Amalia van Gent, Journalistin, 15 mai 2025, publié à Archipel 347

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu am 19. März hat in der Türkei unerwartet eine ebenso riesige wie spontane Protestbewegung ausgelöst, die das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Seither demonstrieren Millionen von Menschen gegen die Regierung. Auf den Strassen der Türkei wird der Machtkampf zwischen Demokratie und Diktatur unerbittlich ausgetragen – bisher unentschieden.

Ausgerechnet der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, drängte jüngst auf einen schnellen Abschluss des Gerichtsverfahrens gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu: «Wenn der Verdächtige unschuldig ist, muss er freigesprochen werden. Wenn er schuldig ist, muss die Strafe unverzüglich und im Einklang mit dem öffentlichen Gewissen verhängt werden», sagte er am vergangenen Montag (7. April, Anm.d.Red.)). Der rechtsradikale Politiker, ein engster Verbündeter des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, schien auf einmal ernsthaft besorgt. Die Proteste auf den Strassen, die die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters vor genau einem Monat ausgelöst hat, sind zwar etwas abgeflaut. Zur Ruhe kommen sie aber nicht. Bahçeli warf der grössten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), vor, die Türkei in Chaos und Zwietracht stürzen zu wollen.

«Seht auf dieses Meer von Menschen! Seht die zwei Millionen Menschen, die hier versammelt sind!». Özgür Özel, Vorsitzender der grössten türkischen Oppositionspartei CHP, blickte von der Redner-Tribüne auf die Menschenmenge, die sich auf einem riesigen Gelände direkt am Marmarameer eingefunden hatte. «Wir lassen uns nicht einschüchtern!», rief er euphorisch. Er kündigte regelmässige Protestaktionen an – «jeden Samstag in einer türkischen Stadt» – solange bis der inhaftierte Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu freikomme und die Regierung in Ankara vorgezogene Neuwahlen ausrufe. Ohne Proteste drohe dem Land unmittelbar die Abschaffung der Demokratie, warnte Özel seine Zuhörerinnen und Zuhörer.

Botschaften aus dem Gefängnis

«Wir lassen uns nicht einschüchtern!», antworteten die Teilnehmenden im Chor. Ihre Slogans hallten durch die Strassen Maltepes, das auf der gegenüberliegenden, asiatischen Seite der Metropole Istanbul liegt und traditionell eine Hochburg der regierenden «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (AKP) ist. Lautstark forderten die Demonstrierenden «Recht, Gesetz, Gerechtigkeit!» und immer wieder erschallte der Ruf: «Rettung gibt es nicht allein – entweder alle gemeinsam oder keiner von uns!» – frei nach Bertolt Brecht. Einen Tag vor der Demonstration in Maltepe durfte sich Ekrem İmamoğlu in einem Gastbeitrag für die «New York Times» zu den Ereignissen äussern: Recep Tayyip Erdoğan habe verstanden, dass «er mich nicht an den Urnen schlagen kann», schrieb er. Für die Vorwürfe gegen ihn und sein Team – Korruption, die Führung eines kriminellen Netzwerks und Unterstützung der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – hätten die Behörden keinerlei glaubhafte Beweise. Ähnlich wie der CHP-Vorsitzende in Maltepe warnte auch Ekrem İmamoğlu, in der Türkei drohe nicht nur eine «langsame Erosion der Demokratie», sondern «die absichtliche Zerstörung der institutionellen Grundzüge unserer Republik». Ohnehin sei die «Republik unter Herrn Erdoğan in eine Republik der Angst verwandelt worden», so Ekrem İmamoğlu.

Evolution der CHP

Die «Republikanische Volkspartei» (CHP) ist die Partei des Republik-Gründers Kemal Atatürk. 1923 gegründet, bezweckte sie nichts weniger als eine Kulturrevolution loszutreten; sie stützte sich dabei auf sechs eiserne Prinzipien. Die zwei wichtigsten davon waren der sogenannte Laizismus und der Nationalismus. Laizismus, einfach erklärt, bedeutete, dass islamische Werte und Kultur im neuen Staat verpönt waren – denn Atatürk wollte einen modernen «westlichen Staat». Der Nationalismus bezog sich primär auf die kurdische Minderheit: Gemäss der kemalistischen Doktrin gab es in der Türkei keine Kurd·innen; sie wurden kurzerhand in «Bergtürken» umbenannt. Aus Protest gegen die grotesken, von oben befohlenen kemalistischen Prinzipien brachen immer wieder Aufstände der gläubigen Muslime oder der Kurd·innen aus. Dreimal putschten die türkischen Generäle und lösten Parlament und Parteien auf, folterten unzählige Bürger·innen in den Gefängnissen – immer im Namen der Rettung der kemalistischen Republik. Die CHP, die sich wie die Generäle als Hüterin der kemalistischen Prinzipien verstand, nahm jedes Mal die Aussetzung der Demokratie in Kauf. Um die Jahrtausendwende herum war sie zu einer kleinen, in sich zerstrittenen Partei im äussersten Westen der Türkei verkommen.

Ausgerechnet Ekrem İmamoğlu half mit, das Gesicht der CHP zu verändern. Als führendes CHP-Mitglied spricht er jenen Teil der türkischen Bevölkerung an, der sich an westlichen Prinzipien und Lebensstilen orientiert. Dazu zählen die breitere Bevölkerung in den urbanen Zentren, Studierende und Intellektuelle. Da er selbst aus konservativen Kreisen stammt, sein Name bedeutet übersetzt «Sohn des Imam», hat er keine Berührungsängste mit den gläubigen Massen und geniesst unter ihnen auch grosses Vertrauen. Bei den Kommunalwahlen 2019 bildete er zudem ein Wahlbündnis mit der einzigen pro-kurdischen Partei und konnte die Wahlen in Istanbul gegen Erdoğans Partei dreimal gewinnen. Die jüngsten Umfragen sahen İmamoğlus Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2028 gegen Erdoğan voraus.

Razzien und willkürliche Verhaftungen

Kann sich eine Gesellschaft an willkürliche Polizeirazzien und Verhaftungen im Morgengrauen gewöhnen? Nach dem vereitelten Putsch 2016, den Erdoğan seinem damaligen Rivalen Fethullah Gülen zuschrieb, wurde die Türkei zu einem Polizeistaat umgestaltet: Rund 45.000 angebliche Gülen-Anhänger·innen wurden, teils grundlos, festgenommen, ihre Wohnungen im Morgengrauen von Bereitschaftspolizisten gestürmt, ihr Besitz beschlagnahmt. Für deren Familien bedeuteten die Razzien Jahre der Demütigung, des sozialen Abstiegs und der Angst. Ihr Schicksal berührte aber nur Wenige – sie wurden von der breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es folgten Razzien im Morgengrauen gegen kurdische Politiker·innen und Bürgermeister·innen, die allenfalls im Südosten des Landes zu Protesten führten. Auch die Entrechtung einzelner Dissident·innen, etwa von andersdenkenden Professor·innen und Anwält·innen, schaffte es bestenfalls als kleine Meldung in die oppositionellen Medien.

Am 19. März 2025, kurz vor sieben Uhr morgens, umstellten rund 100 Polizisten die Residenz des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu und führten ihn vor den Augen seiner Kinder wie einen gemeinen Verbrecher ab. Das war der Funke, der das Pulverfass in den Grossstädten entzündete. Während der Proteste der letzten zehn Tage (Ende März/Anfang April, Anm.d.Red.) hat die Polizei nach Angaben des türkischen Innenministers Ali Yerlikaya über 2000 Menschen festgenommen – auf der Strasse oder nach Razzien in ihren Wohnungen. Dazu gehören İmamoğlus Anwalt Mehmet Pehlivan, Fotoreporter·innen und Journalist·innen, die vor Ort ihre Arbeit machten und natürlich auch Demonstrierende: «Susma, sustukça sıra sana gelecek», «Schweige nicht, denn wenn du schweigst, wirst du der Nächste sein», riefen die Protestierenden, die ihre jugendlichen Gesichter meist hinter einer Maske versteckten.

In den schwierigen Tagen der Massenproteste erwies sich der CHP-Vorsitzende Özgür Özel als starke Figur innerhalb seiner Partei. Trotz grossem Druck der Behörden konnte er sie zusammenhalten und darüber hinaus mit seiner scharfen Rhetorik gegen die Regierung die Massen mobilisieren und mitreissen. Er versprach seinen Zuhörer·innen, die Regierung mit täglichen Aktionen dazu zu zwingen, İmamoğlu freizulassen und vorgezogene Neuwahlen auszurufen.

Drohende Strafen für die CHP-Führung

Die erste Kundgebung fand letztes Wochenende in der türkischen Schwarzmeerprovinz Samsun statt, der Stadt, in der der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, 1919 den Unabhängigkeitskrieg gegen die alliierten Streitkräfte begann. «Diejenigen, die durch Wahlen an die Macht gekommen sind, wollen die Macht nicht durch Wahlen verlassen – das nennt man einen Putsch», sagte Özgür Özel vor Zehntausenden. Er fügte hinzu, dass die in der letzten Woche gestartete Petition, die die Freilassung von İmamoğlu fordert, fast 10 Millionen Unterschriften gesammelt hat. Als kompetenter, starker Mann der CHP ist Özgür Özel allerdings selber in die Schusslinie der Regierung geraten. In regierungsnahen Presseorganen ist neuerdings von einer umfangreichen Untersuchung gegen Özel die Rede.

Evolution der AKP

Der Vorwurf steht im Raum, beim letzten Parteitag seien Bestechungsgelder an die Delegierten gezahlt worden, damit diese für Özel stimmten. Gerüchte machen nun die Runde, wonach die Immunität mehrerer CHP-Abgeordneter im Zusammenhang mit diesem Fall aufgehoben werden könnte. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, würde womöglich auch Özel hinter Gittern landen und die CHP ohne Führung bleiben. Es war das Versprechen für mehr Demokratie und mehr Rechte für alle, das im Jahr 2002 die islamistische AKP 2002 ins Zentrum des politischen Geschehens der Türkei katapultiert hatte. Die jungen Politiker Erdoğan und sein Vize Abdullah Gül wurden damals zum Motor eines atemberaubenden Demokratisierungsprozesses; die Todesstrafe wurde innerhalb kürzester Zeit abgeschafft, zahlreiche Maulkorbartikel aus dem Pressegesetz gestrichen und die Generalität der Kontrolle der Politik unterstellt. Noch wollten Erdoğan und Gül der Welt beweisen, dass Demokratie und Islam durchaus vereinbar seien. Doch spätestens 2017 war die Türkei unter Erdoğan keine Demokratie mehr: Der Rechtsstaat wurde ausgehöhlt, die Justiz unterjocht und die Medien gleichgeschaltet. Beobachter·innen, wie der renommierte türkische Exil-Journalist Yavuz Baydar, sind davon überzeugt, dass Erdoğan mit der Inhaftierung İmamoğlus die Türkei einen Schritt näher zu den zentralasiatischen Autokratien gebracht hat: Wie in Aserbaidschan, wo eine Opposition lediglich auf dem Papier oder gar nicht existiert, bezwecke «Erdoğan der politischen Opposition der Türkei das Rückgrat zu brechen und sich eine Präsidentschaft auf Lebenszeit zu sichern», sagt Yavuz Baydar. Tatsache ist, dass die massiven Proteste gegen die Haft İmamoğlus die Machtriege um Erdoğan überrascht haben. Das hat zu einem vorläufigen Patt in dieser ersten Runde des Machtkampfs zwischen Demokratie und Autokratie geführt.

Wie weiter?

Innenpolitisch könnte lediglich die kurdische Nationalbewegung die Rolle als «game-changer» spielen. Die Mitglieder der pro-kurdischen Partei DEM sind schon aufgrund der jahrzehntelangen Repression auf langanhaltende Proteste eingestellt. Die DEM, die drittgrösste Partei des Landes, hält aber diesbezüglich ihre Karten noch verdeckt. Die Demokratiebewegung der Türkei würde die Unterstützung ihrer aussenpolitischen Partner·innen brauchen. «Zweifellos haben die jüngsten Entwicklungen – Russlands Krieg in der Ukraine, der Sturz des Assad-Regimes im Nachbarland Syrien und die Zerstörungen im Gazastreifen – die strategische Bedeutung der Türkei erhöht, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten kann», schrieb Ekrem İmamoğlu in seinem Gastbeitrag für die «New York Times». «Die Geopolitik sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, die Aushöhlung von Werten, insbesondere von Menschenrechtsverletzungen, zu übersehen. Andernfalls riskieren wir, diejenigen zu legitimieren, welche die auf Regeln basierende globale Ordnung Stück für Stück demontieren. Das Überleben der Demokratie in der Türkei ist nicht nur für die Menschen in diesem Land entscheidend, sondern auch für die Zukunft der Demokratie weltweit.»

Ekrem İmamoğlu hat Recht. Es liegt tatsächlich im Interesse der EU, die Augen nicht davor zu verschliessen, was im Moment auf den Strassen der Türkei vor sich geht. Da nach dem Wahlsieg Donald Trumps die EU sich als eine der letzten Bastionen der liberalen Demokratie versteht, darf insbesondere sie keine Abstriche in den Regeln der Demokratie hinnehmen. Andernfalls wird sie riskieren, sich am Rande Europas mit einem Autokraten abzufinden, der für sein Volk und für die EU noch mächtiger und noch unberechenbarer sein wird. Amalia van Gent*

*Amalia van Gent ist Journalistin und Autorin. Ihre Spezialgebiete sind die Türkei und die Kaukasusstaaten. Ausserdem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Dieser Artikel wurde in einer ersten Fassung am 2.4.2025 in Infosperber publiziert und jetzt von der Autorin für den Archipel aktualisiert.