Seit der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, am 19. März dieses Jahres, demonstrieren in der Türkei zigtausende Menschen, vor allem Student·innen gegen die Regierung. Viele von ihnen wurden festgenommen und verhaftet. Aslı Odman ist Professorin an der Mimar-Sinan-Universität in Istanbul für Stadtplanung und Regionalentwicklung. Sie beleuchtet Gründe dieses Protests. Als Aktivistin ist Aslı in ökologischen Fragen und gegen die katastrophale Situation an vielen Arbeitsplätzen am «Zentrum für Arbeitssicherheit» engagiert. 1. Teil
Ich unterrichte als Sozialwissenschaftlerin in Istanbul und habe da, wie durch ein Wunder, mehrere «Säuberungs-» also Entlassungswellen durch die Regierung überlebt. Aber ich arbeite viel mehr innerhalb der Zivilgesellschaft als an der Universität. Seit 2007 arbeiten wir über Todesfälle sowie Sicherheit am Arbeitsplatz und berichten über Arbeiter·innen, Kinder, Frauen und Geflüchtete, wobei wir uns auf einige Sektoren konzentrieren. Wir versuchen, aufzudecken, was hier vorgeht. Der Zusammenhang zwischen dieser Art von Wirtschaftswachstum, dieser Art von kurzfristigem Kapitalismus und den Todesfällen am Arbeitsplatz. Und natürlich sind diese auch mit verschiedenen Arten von Ökozid verbunden; die Spuren lassen sich sowohl am menschlichen Körper als auch im Ökosystem nachweisen.
Wir machen diese Arbeit auf einer Plattform namens ISIG Meclisi (www.isigmeclisi.org), zusammen mit Arbeiter·innen, Ärzt·innen des öffentlichen Gesundheitswesens, Anwält·innen, Investigationsjournalist·innen und Ingenieur·innen. Unabhängig von diesen Berufen gibt es auch andere Menschen, die sich hier engagieren. Unser Engagement ist klassenübergreifend, interdisziplinär und unabhängig.
Und natürlich betrifft unsere Arbeit auch ökologische Kämpfe. Indem wir diese Art des Todes, den langsamen Tod und den sofortigen Tod dokumentieren, versuchen wir, ein Thinktank für die Kämpfe in der Türkei zu sein. Ich habe in letzter Zeit zum Thema Wärmekraftwerke gearbeitet, Wärmekraftwerke, die kalorienarme Kohle verwenden, die die Umwelt stark verschmutzt.
Seit einiger Zeit arbeiten wir intensiv an der Problematik der Schiffsabwrackung in der Türkei. Mit der neuen Regelung in der Europäischen Union müssen alle Schiffe unter europäischer Flagge aus europäischen Ländern in Werften abgewrackt werden, die über ein europäisches Zertifikat verfügen. Die Türkei hat die nächstgelegenen Werften mit diesen Zertifikaten. Wir versuchen etwas dagegen zu unternehmen, dass hier in der Türkei Schiffe unter weniger ökologischen Bedingungen als in der EU abgewrackt werden, weil das oft das Leben der Arbeiter·innen kostet und natürlich der Umwelt schadet. Natürlich gibt es hier auch das Problem der Kinderarbeit, also arbeiten wir auch für Kinderrechte. Und es sind vor allem Geflüchtete, die in den schmutzigsten, riskantesten Sektoren und bei der illegalen Arbeit getötet werden. Auf dem Weg der Aufklärung dieser Katastrophen erreichen wir auch viele Freundinnen und Freunde, die im Bereich der Migrationsarbeit, also in der Arbeitswelt, aktiv sind.
Am Rande der Metropolen
Die Femizide häufen sich und treffen viele abgewanderte Frauen aus den Dörfern, wo die Landwirtschaft unter den neoliberalen Bedingungen keinen Unterhalt mehr bietet. Die meisten Frauen, die auf dem Land oder im Dorf eine gewisse Stellung oder einen Status hatten, wurden zu isolierten Hausfrauen an den Rändern der Metropolen. Gleichzeitig belastet die tiefe ökonomische Krise die Haushalte und führt zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt. Es gibt eine Nahrungsmittel- und Agrarkrise. Die Arbeitswelt wird plötzlich von Arbeitsmangel heimgesucht. Es kommt zu Arbeitsplatzverlusten im Agrarsektor, die gerade Frauen betreffen. Wir versuchen also, alles abzudecken, was die Arbeitswelt betrifft.
In der Türkei kam es jahrelang zu Bevölkerungsbewegungen. Menschen, die aus den kurdischen Gebieten kamen, als es dort viel Gewalt und grosse Probleme gab. Ja, Vertreibung, aber auch Enteignung. Wenn man an die durch den Staat verursachte Zwangsmigration der Kurd·innen in den 1990er Jahren denkt, an die niedergebrannten Dörfer, Felder und Wälder, dann war es in Wirklichkeit ein ethnischer Gewaltakt. Diese Menschen leben heute in Stadtvierteln, den «Gecekondular»1 – ich weiss nicht, ob wir sie als Elendsviertel bezeichnen können – es sind von Menschen auf illegale Weise errichtete Viertel aus recht prekären Konstruktionen. Das ist ein Beispiel, aber ich kann mir vorstellen, dass es so weitergeht, denn es gibt auch noch die über drei Millionen syrischen Geflüchteten, die, wie ich mir vorstelle, ziemlich ausgebeutet werden.
Das Ende der Landwirtschaft
Seit dem Jahr 2000 ist es die Macht des Marktes, welche Migration und das Sterben der Landwirtschaft hervorruft, durch das Preisspiel, durch die Transformation mit Megaprojekten, der Infrastruktur von Hauptstrassen, Autobahnen, Staudämmen. Es gibt keine staatliche Unterstützung mehr für Landwirtschaftsbetreibende. Aber es gibt Gesetze, die einheimisches Saatgut verboten haben – jetzt muss es von Unternehmen gekauft werden. Es gibt die Monetarisierung aller Lebenshaltungskosten in der Landwirtschaft. Ausserdem wurde ab 2010 ein sehr grosser Teil der Dörfer zu Stadtbezirken erklärt; sie wurden also offiziell für die Urbanisierung freigegeben. Das hat zum Verfall der Landwirtschaft wesentlich beigetragen. Es sind die beiden Dinge, die der Staat verursacht hat: Migration und das Ende der Landwirtschaft. Im Gegensatz zu früher gibt es mittlerweile im Land 70 Prozent städtische und nur noch 30 Prozent landwirtschaftliche Flächen. Auch die Eigentumsverhältnisse haben sich geändert. Es findet eine Zentralisierung der Landflächen statt. Es gibt Unternehmen aus dem Bergbau oder der Baubranche, die brachliegendes Land aufkaufen und Industriezonen einführen. Gleichzeitig gibt es eine ganze Reihe brachliegender Grundstücke, die für die Bebauung freigegeben wurden.
Es ist also ein massiver Rückgang der Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Menschen zu verzeichnen. Die Migration durch den «freien» Markt und die Verschiebung der Grenzen zwischen Dörfern und Stadtbezirken bedeutet für eine Stadt wie Istanbul, in der bereits 17 bis 20 Millionen Menschen leben, weitere Urbanisierung. Zudem wurde ein neuer Gemeindetyp eingeführt: die Metropolgemeinde. Sobald eine Provinz zur Metropolgemeinde erklärt wird – Istanbul ist die älteste Metropolgemeinde – gibt es offiziell in dieser Provinz keine Dörfer mehr. Alle Dörfer werden zu Gemeindebezirken. Der erste Schritt besteht dann darin, sie für die Bodenspekulation und Bauwirtschaft zu öffnen. Inzwischen existieren in der Türkei 30 Metropolgemeinden in den 81 Provinzen. Bei dieser Tendenz können wir das gesamte landwirtschaftliche Gewerbe vergessen. Die als landwirtschaftlich deklarierten Flächen drohen fast völlig zu verschwinden. Um dies zu verhindern, kaufen kleinere Gemeinden oder Stadtteile sehr schnell die landwirtschaftlichen Flächen auf, bevor ihre Funktion geändert wird.
Für die Landwirtschaft ist, ausser in ihrer industriellen Form, kein Platz in dieser Art wirtschaftlichen Wachstums. Dieser Prozess erstreckt sich über das ganze Land! Er betrifft sehr unterschiedliche landwirtschaftliche Gebiete, auch solche mit einer immernoch sehr grossen Artenvielfalt. Die Metropolgemeinden sind heute überall: in der Mitte Anatoliens, an der Küste, in den Bergen, in den Grenzprovinzen. Metropolgemeinden, die den Bauunternehmen, aber auch den Bergbauunternehmen alle Möglichkeiten eröffnen. Die langfristigen Konsequenzen machen mir grosse Sorgen. Es handelt sich um eine Form des Kapitalismus, bei der dem Profitstreben fast keine Schranken gesetzt sind. Diese Art der Kapitalakkumulation kommt dem Plündern nahe. Die Unternehmen tauchen auf, machen den grösstmöglichen Profit und ziehen sich dann zurück.
Systematischer Ökozid
Das ist der neue Extraktivismus. Ich werde hier einige Zahlen nennen. (Seitdem ich sie genauer betrachtet habe, kann ich nicht mehr richtig schlafen). Die Studie umfasst 31 von insgesamt 81 Provinzen.
31 Provinzen mit der höchsten Artenvielfalt, sowie Ordu, Artvin, die Region um das Ida-Gebirge, an den Dardanellen, Muğla und andere. Eine ökologische Nichtregierungsorganisation hat die Fläche berechnet, die in Form verschiedener Lizenzen an Bergbauunternehmen vergeben wurde. Diese Fläche macht zwischen 60 und 80 Prozent der Gesamtfläche all dieser Provinzen aus. Können Sie sich vorstellen, dass 80 Prozent der artenreichsten Provinzen an Bergbauunternehmen für den Abbau von Gold, Chrom, Kupfer, Blei ... vergeben werden? Das ist ein systematischer Ökozid. Bergbau, Bauwesen und Abfallhandel sind die Antworten des autokratischen Regimes, um weiterhin schnell Kapital anzuhäufen und den Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den Haushalt entgegenzuwirken. Schnell, schnell. Mit atemberaubender Geschwindigkeit werden alle Hindernisse für die ökologisch zerstörerische Anhäufung von Reichtum durch dieses Regime beseitigt. Das ist es auch, was die dort Arbeitenden massenhaft umbringt. Neben Todesfällen am Arbeitsplatz sterben täglich bis zu 20 Menschen aufgrund von Berufskrankheiten. Es sind so viele wie in einem Krieg. In der Arbeitswelt herrscht Krieg. Wir befinden uns jetzt im Krieg, ohne ihn zu deklarieren. Um uns herum gibt es Kriege, echte Kriege, aber in diesem Krieg geht es um die tägliche Arbeit. Es ist ein anderer Krieg.
Kinderarbeit
Es gibt Millionen von Kinderarbeiter·innen in der Türkei. Der Staat spricht von einer Million, Soziolog·innen vor Ort gehen von etwa zwei bis drei Millionen aus. Laut unserem Zentrum für Arbeitssicherheit ist für uns jeder Mensch unter 18 Jahren, der arbeitet, ein·e Kinderarbeiter·in. In unseren Berichten über Kinderarbeit müssen wir auch Dutzende von Todesfällen von kleinen Kindern im Alter zwischen 4 und 14 Jahren dokumentieren, die im klassischen Sinne als «illegale Kinderarbeiter» gelten. Die Türkei ist ein Land, das eine der grössten Ökonomien aufweist. Sie ist Mitglied in der G-20. Und wir mussten den Tod von Kinderarbeiter·innen im Alter von 4 bis 14 Jahren dokumentieren! So ein Widerspruch! Es geht um solche, die mit ihrer Mutter als Landarbeiter·innen arbeiteten. Es geht um diese Art illegaler Arbeit.
Nur ein Beispiel: Ein Kind hilft seiner Mutter. Und auf dem Weg zu den Feldern sterben beide zusammen beim Transport, der unter unmenschlichen Bedingungen stattfindet. Andere werden durch Pestizid vergiftet oder tot aus Bewässerungsanlagen gefischt. Sie trinken giftiges Wasser oder werden durch einen Stromschlag getötet. Einerseits gibt es die Kinder, die mit ihren Müttern in der Landwirtschaft arbeiten. Aber es gibt aber auch diejenigen, die eine Berufsoberschule besuchen. Es existiert ein System; es nennt sich das reformierte «Berufsoberschulen-System»: vier Tage arbeiten und ein Tag in der Schule ab dem 14. Lebensjahr. Diese Jugendlichen bekommen ein Drittel des Mindestlohns, mit dem Argument, dass sie erst angelernt werden. Unter diesem Deckmantel werden die Jugendlichen z.B. in der Industrie und in Hotels ausgebeutet. Auch während der Schulferien müssen diese Jugendlichen weiterarbeiten. Wir haben 12 Todesfälle unter diesen arbeitenden Kindern dokumentiert. Sie sind unter diesem vom Staat organisierten System bei Arbeitsunfällen umgekommen. Der Staat selbst unterstützt somit die lebensbedrohende Kinderarbeit.
Weil sie die billigsten Arbeitskräfte sind, erhalten sie gerade einmal 6.600 Lira pro Monat, also nicht einmal 200 Euro, und arbeiten natürlich unter sehr grossem Druck und mit weniger Erfahrung als Erwachsene. 12 Kinder, die auf diese Weise gestorben sind und nicht wussten, wie sie sich hätten schützen können. Sie hatten eine offizielle Lehrstelle und «lernten» angeblich einen Beruf. . Es geht in diesem Land im Moment nur noch darum, das nackte Leben zu verteidigen. Das Leben unserer Kinder!
Bis jetzt haben wir über nekropolitisches Wachstum, den langsamen und den sofortigen Tod der billigen migrierten Arbeitskräfte und über die neuen Wellen des Extraktivismus gesprochen. Über Kinderarbeit und die Art der Landwirtschaft, die es heute gibt. Es gibt aber auch den langfristigen Tod in den Provinzen, die sich für die Minen, insbesondere Goldminen, geöffnet haben, die mit den gefährlichsten Methoden und den gefährlichsten Materialien arbeiten. Dort war früher Biodiversität. Wenn sich das Regime morgen ändern und ein ideales soziales System eingeführt würde, werden wir 50 oder 100 Jahre dafür brauchen, diese extremen Zerstörungen halbwegs rückgängig zu machen.
Aslı Odman, Istanbul Das Gespräch führte Nicholas Bell am 14. März 2025 für Radio Zinzine und Archipel
*Nekropolitik ist eine Wortschöpfung des Postkolonialismus-Theoretikers, Politologen und Historikers Achille Mbembe Kamerun. Das Konzept umfasst das Recht, den sozialen oder zivilen Tod zu verhängen, das Recht, andere zu versklaven, sowie verschiedene antike und zeitgenössische Formen politischer Gewalt.
- Gecekondu (Mehrzahl: Gecekondular) ist die türkische Bezeichnung für eine informelle Siedlung, also ein ungeplantes Viertel mit primitiven Unterkünften am Rande einer Grossstadt, jedoch nicht für einen Slum. Übersetzt bedeutet es so viel wie «über Nacht hingestellt» (türkisch gece: Nacht). Sie sind nur mehr ein Relikt der Periode zwischen 1950 und 1980/85. Das Kapital hat sich urbanisiert und durch die Zunahme der Grundstückpreise ist diese Methode der Aneignung des Landes durch migrierende Bevölkerungsgruppen seit den 1990ern nicht mehr möglich.