Am 29. Dezember 2004 sprach Jean-Marie Chauvier, belgischer Journalist und Spezialist für Osteuropa , auf dem Regionalsender Radio Zinzine (Südfrankreich) über die ukrainischen Wahlen 1 . Der folgende Artikel ist eine Transkription seiner Kommentare, welche diese Wahlen in einen historischen und geopolitischen Kontext stellen * .
Meiner Meinung nach ist jede Stellungnahme für den Osten oder für den Westen, für die Guten oder die Bösen, Ausdruck einer sehr bruchstückhaften Vision oder antirussischer Ressentiments, wenn die drei folgenden Dimensionen nicht berücksichtigt werden:
erstens die geostrategische Lage, das amerikanisch-russisch-europäsiche Tauziehen um den Einfluss in der Ukraine;
zweitens die Art der Konfrontation zwischen den Interessensgruppen – auf der einen Seite Janukowitsch und Kutschma, auf der anderen Juschtschenko. In Anbetracht ihrer sozialen Verwurzelung ist es viel zu vereinfachend, von pro-russisch oder pro-westlich zu reden;
drittens die historischen Unterschiede: Erinnern wir uns daran, dass vor dem Ersten Weltkrieg 20 Prozent des heutigen ukrainischen Territoriums zur österreichisch-ungarischen Monarchie und 80 Prozent zum Russischen Kaiserreich gehörten. Es gibt also auch kulturelle und sprachliche Unterschiede zwischen den zwei Ukrainen – Ost und West. Man könnte aber auch von vier oder fünf Ukrainen sprechen, Unterschiede bestehen nämlich auch noch zwischen dem Inneren des Landes, dem Süden und der Krim. Selbst in der Westukraine wechselt das politische Klima von einer Region zur anderen. Die Situation in Transkarpatien ist ganz anders als in Galizien zum Beispiel, das mit seiner Hauptstadt Lviv – Lvov auf Polnisch – eine Bastion des Traditionalismus darstellt.
Die letzten Wahlergebnisse bestätigten, was schon seit dem ersten und zweiten Durchgang bekannt war: Aufgrund der regionalen Differenzen kann es keinen totalen Sieg des einen oder anderen Lagers geben, außer man akzeptierte ein «jugoslawisches Szenario» – das allerdings bereits in den Köpfen gewisser Geostrategen und Hitzköpfen existiert.
Juschtschenko wurde zum Sieger erklärt, seit gestern 2 wird er in unseren Medien als Präsident präsentiert. Doch dieser Sieg ist nicht nur auf die überwältigende Stimmenmehrheit in den westlichen Regionen zurückzuführen, denn wenn das der Fall wäre, hätten wir ein Ergebnis fifty-fifty. Juschtschenko kam die Mobilisierung gegen den Wahlbetrug zwischen den zwei Wahlgängen zugute, es gab keine vergleichbare Mobilisierung in der Ostukraine.
Eine neue Generation
Wir haben es hier mit einer tiefgehenden Bewegung zu tun, einer wirklich politischen Bewegung, die, wie ein russischer Beobachter bemerkte, «die Geburt einer neuen politischen Nation» ankündigt.
Dies ist vielleicht das wichtigste Ereignis – das Auftauchen einer jungen Nation, einer neuen Generation auf den Plätzen Kiews und in den westukrainischen Städten, welche weder die sowjetische Epoche erlebt hat, noch die Symbiose mit Russland, wie die Bevölkerung im Osten des Landes. Diese politische Nation formiert sich und breitet sich aus in Richtung Osten und sogar in gewissen Regionen im Süden, rund um Odessa zum Beispiel. Das politische Kräfteverhältnis hat sich tatsächlich zugunsten von Juschtschenko verändert.
(…) Es wird aber zu Kompromissen kommen müssen, vielleicht zu einer Art Föderalismus, wenn eine neue Ukraine lebbar sein und ein Zerfall vermieden werden soll.
Als die Sowjetunion zerfiel, wurden apokalyptische Prognosen für die Ukraine aufgestellt. Der CIA veröffentlichte damals ein Dokument über einen bevorstehenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine in Bezug auf Territorien wie die Krim, die Aufteilung der Schwarzmeerflotte etc. Nichts davon ist geschehen, die Ukrainer haben eine beispielhafte Gemütsruhe an den Tag gelegt. Vielleicht war es ein Fehler, dies als Zeichen der Stabilität oder der Stagnation zu interpretieren, es entsprach nur teilweise der Wahrheit, denn mit der Zeit und vor allem mit dem Auftauchen einer neuen Generation haben bedeutende Veränderungen stattgefunden. Die regionalen Unterschiede und verschiedenen politischen Traditionen haben bisher nicht zu einer Konfrontation geführt, doch die Gefahr ist nicht beseitigt. Jacques Attali 3 warnte vor einigen Wochen in einem Gespräch mit der französischen Tageszeitung Le Figaro die Europäer vor unüberlegten Interventionen, indem er sie an das jugoslawische Desaster erinnerte.
Zerfall in Sicht?
Es besteht ganz offensichtlich die Absicht, die Ukraine zu destabilisieren, um sie ins euro-atlantische Lager hereinzuziehen. (…) Das längerfristige Ziel dabei ist der Zerfall Russlands. Der Geostratege Zbigniew Brzezinski hat in verschiedenen Texten, vor allem in seinem letzten, 2004 erschienenen, Buch «Die richtige Wahl» 4 erklärt, dass wir mitten im Zerfall der Sowjetunion stünden: Vor elf, zwölf Jahren meinte man, alles sei vorbei mit der Schaffung von 15 neuen Staaten, doch die Nachwirkungen seien bis jetzt zu spüren. Es ginge um Neuaufteilung der Territorien und der Ressourcen dieses riesigen Raumes, der einst nicht zur Weltordnung gehört hatte, aber heute in den Weltmarkt integriert werden solle.
Brzezinski spricht vom «eurasischen Schachbrett», auf dem der Westen «spielt», diesem riesigen Territorium, das im Großen und Ganzen der ehemaligen Sowjetunion entspricht, mit der Aussicht auf ferne (vielleicht nicht mehr ganz so ferne?) Welten, in der China als neue Supermacht auftaucht. In diesem Szenario sollen die Territorien und Ressourcen – vor allem das sibirische und das kaspische Erdöl – aufgeteilt werden. Hierhin gehören die Manöver in Innerasien, beim Kaspischen Meer, im Kaukasus, die Jukos-Affäre usw. Ich glaube nicht an ein großes Komplott, aber all das hängt zusammen. Amerikanische Strategen wie Brzezinski sagen seit Jahren, dass die Ukraine eine wichtige Figur auf diesem Schachbrett darstellt, und das aus mehreren Gründen:
90 Prozent des russischen Erdgases werden über die Ukraine geleitet;
die geopolitische Lage macht aus ihr einen Korridor von Europa bis zum Kaukasus, zum Schwarzmeerufer und in die Nähe des Kaspischen Meeres.
Brzezinski bemerkt weiter-hin richtig, dass die Ukraine, indem sie sich von Russland löst – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell – eine Veränderung des russischen Staates selbst hervorruft, auf Grund historischer, ökonomischer und kultureller Bande zwischen den beiden Ländern. Die Völker haben sich gemischt, nicht nur Russen und Ukrainer, aber auch Tataren, Deutsche, Griechen und alle Nationalitäten, welche die ehemalige Sowjetunion bevölkerten. (…)
Ein gemeinsamer eurasischer Markt
Hier kommen wir zu einem neuralgischen Punkt: Es gibt ein vom russischen und ukrainischen Parlament bereits ratifiziertes Projekt, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen zwischen Russland, Ukraine, Bielarus und Kasachstan. Vor den Wahlen hatte Präsident Kutschma erklärt, dies solle eine richtige Freihandelszone werden. Es geht nicht mehr um eine Wirtschaftsgemeinschaft wie den COMECON, sondern um eine Zone, in denen Waren und Kapital frei zirkulieren können.
Für die USA, aber auch für Europa, glaube ich, gilt es, dies zu verhindern. Stellen Sie sich vor – die Ukraine plus Russland plus Kasachstan – Bielarus ist ein kleines Land – diese vier Republiken stellen den Großteil des wirtschaftlichen und energetischen Potentials der ehemaligen Sowjetunion dar, ein vermindertes, aber dennoch bedeutendes Potential.
Man hört immer mehr Kommentare über das Risiko, das die Wiederherstellung einer russischen Machtposition bedeuten würde, über den russischen Neo-Imperialismus. Die Russen verteidigen sich im Allgemeinen mit der Behauptung, dass es sich nicht um rivalisierende Projekte handle und es durchaus Synergien zwischen ihrer neuen Gemeinschaft und der EU geben könne.
Man vergisst oft, dass der ehemalige Präsident Kutschma, den man immer als pro-russisch bezeichnete, auch pro-amerikanisch war, wenn man dieses vereinfachende Vokabular gebrauchen will: Er hat die NATO ins Spiel gebracht, die amerikanische Militärhilfe in der Ukraine und war eher für eine Annäherung an die EU als für das Projekt mit Russland. Doch Kutschma hat seine Position revidiert, als er merkte, dass die EU kurzfristig nicht bereit ist, die Ukraine aufzunehmen, genau so wenig wie die Türkei. Die russische Option war in seinen Augen daher die interessantere.
Diese Umkehrung geschah vor einigen Jahren, und Kutschma wurde ein «Böser», nicht etwa weil er kein Demokrat war oder mafiöse Regierungsmethoden anwendete. Man kann hier eine Parallele zu Präsident Schewardnaze von Georgien ziehen, der einst dem Westen und vor allem den USA große Dienste erwiesen hatte. Eines Tages hatte er ausgedient und wurde abgesetzt. Es kam zur «Rosenrevolution» im letzten Jahr, dieses Jahr die «orangene Revolution» in der Ukraine. Als wir damals auf Radio Zinzine über Georgien sprachen, sagten wir: «Die nächste Etappe ist die Ukraine!» 5
Balkanisierung der Ukraine
(…) Es braucht zwei Voraussetzungen für eine «Balkanisierung»:
Krise und Destabilisierung der Gesellschaft
Eingriffe von außen
So war es auf dem europäischen Balkan, und so stellt es sich Brzezinski für den «eurasischen Balkan», wie er sagt, vor. Das Bemerkenswerte an ihm ist, dass er sehr klar und nuanciert die globale Strategie der Amerikaner beschreibt. Brzezinski interessiert sich jedoch viel mehr für Russland als für den Mittleren Orient, er wirft der Bush-Administration den Irakkrieg und ihre «Islamophobie» vor.
Doch die amerikanische Einmischung in der Ukraine, in Georgien und anderswo ist nicht nur auf B. Mist oder dem der Soros-Foundation gewachsen. Madeleine Albright und ihr Institut Freedom House , eine «Filiale» des CIA, sind seit einigen Jahren am Werk. Frau Albright ist regelmäßig in Kiew, spricht vor Dutzenden von NGOs, die direkt oder indirekt von den verschiedensten amerikanischen Stiftungen finanziert werden.
Eine belgische Zeitung veröffentlichte kürzlich einen Artikel über die Finanzierung osteuropäischer Organisationen durch amerikanische Stiftungen: «…Bravo, wir engagieren uns alle für die Demokratie auf der ganzen Welt mit der tatkräftigen Unterstützung der USA».
Die englische Tageszeitung Guardian schrieb am 26. November 2004, dass die Bush-Administration 65 Millionen Dollar für die Kampagne Juschtschenkos ausgegeben hätte, dazu kämen noch Gelder privater Stiftungen, die im offiziellen Budget der USA nicht erscheinen. Dies beinhaltet Löhne für Studentenführer, Geld, das täglich an die Demonstranten verteilt wurde, Feldküchen, 1.200 Zelte zu 200 Dollar das Stück, Riesenleinwände, Kleider und Winterschuhe, die gratis an die Demonstranten vergeben wurden. Dem Guardian zu Folge «…wurde nur in Jugoslawien dasselbe Szenario der Machtergreifung gespielt von einer ganzen Armee von Politiktechnikern, amerikanischen Beratern und Diplomaten, unterstützt von einheimischen Parteien und NGOs.»
In Belgrad war der Regisseur der amerikanische Botschafter, der auch zum Zeitpunkt der Rosenrevolution in Tbilissi amtierte.
Darüber kann man mit den jungen Ukrainer natürlich nicht reden, die überzeugt davon sind, dass sie spontan auf die Straße gegangen sind, weil sie tatsächlich spontan auf die Straße gegangen sind. Ich mache selbst einen Fehler, wenn ich «junge Ukrainer» sage. Ich wiederhole: Es gibt nicht «die Ukrainer», sie sind verschieden je nach Region. Es gibt nicht nur jene, die man auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew sieht. Man müsste sich fragen, wen sie repräsentieren. Die Mehrheit der Demon-stranten sind Studenten, Vertreter der Mittelklasse, all jene, die Hoffnung haben auf eine Liberalisierung im westlichen Stil. Im Osten haben wir es mit Arbeitern zu tun, zum Großteil Minenarbeitern, die in ein von der Sowjetunion geerbtes Industriesystem eingegliedert sind. Dasselbe, wie es nicht vor allzu langer Zeit in Westeuropa existierte, es gibt also auch einen sozialen Graben und verschiedene Interessen. Die Leute aus dem Osten, diese Arbeiter, sind natürlich besorgt über eine Liberalisierung und eine Neuaufteilung der Güter, denn sie fürchten, dass dies auf Kosten ihrer Arbeitsplätze geschieht, begleitet von Fabrikschließungen, massiver Arbeitslosigkeit usw. Diese Befürchtungen sind in der Ostukraine deutlich zu spüren und führen dazu, dass die Arbeiter für Janukowitsch stimmen, obwohl sie ihn nicht unbedingt als einen der ihren betrachten. Wir befinden uns nicht in einem Schema des Klassenkampfs, wir haben es im Osten mit Industriekonzernen zu tun, die privatisiert und sich nach denselben Mafiamethoden bereichert haben, wie in Russland oder der Westukraine.
Soziale Unterschiede auch ganz oben
Wir sprachen noch nicht von den sozialen Unterschieden zwischen verschiedenen Gruppen. Im Osten gibt es Industrielle, welche die sowjetischen Betriebe privatisiert haben und traditionellerweise in Clans organisiert sind; es gibt den Clan Popetrow, es gibt den Clan, dem Kutschma nahe steht, es gibt den Clan aus der Minenregion Dombas, dessen politischer Anführer Janukowitsch ist. Bemerken Sie, dass Kutschma und Janukowitsch nicht demselben Clan angehören. Dies erklärt gewisse Spannungen und die Tatsache, dass Kutschma Janukowitsch in den letzten Wochen fallengelassen hat. Es gibt auch einen Clan in Kiew. Wenn man Juschtschenkos Karriere betrachtet, seine Zeit als Premierminister, seine Verbindungen, merkt man, dass er eher einer Geschäftswelt angehört, die mit westlichen Banken zu tun hat, mit Verbindungen zum Finanzkapital, das seinerseits Verbindungen hat zum Industriekapital, mit russischen Interessen, vor allem im Atomsektor im Westen.
Wir haben es also mit verschiedenen sozialen Kategorien zu tun, sowohl bei der Basiswählerschaft als auch bei der Elite, welche die Macht innehat.
Fortsetzung in der nächsten Nummer
- In der Ausgabe des Monde **
diplomatique vom Januar 2005 veröffentlichte Chauvier einen zweiseitigen Artikel über die Ereignisse in der Ukraine
Das Gespräch fand am 29. Dezember statt, einen Tag nach den Präsidentenwahlen
Ehemaliger Generalsekretär des Elysee unter Mitterrand, heute Schriftsteller
Siehe Archipel Nr. 118
Siehe Archipel Nr. 112, 113