UTOPIEN: Selbstorganisierte Arbeiter

de Isabelle Frémeaux, 1 nov. 2008, publié à Archipel 164

Zwischen September 2007 und März 2008 besuchten Isa Fremaux und John Jordan 12 antikapitalistische und selbstverwaltete Utopien in Europa, um zu zeigen, dass es nicht nur möglich ist, trotz des Kapitalismus zu leben, sondern dass es sogar schön und bereichernd sein und Denkanstöße vermitteln kann.* Der folgende Artikel handelt von ihrem Aufenthalt in Serbien.

Der Regen vereist auf der Windschutzscheibe, sobald er sie berührt. Dieser Rauchglaseffekt ist höchst unwillkommen, wenn man auf einer Straße fährt, die einer Eisbahn gleicht. Es ist stockdunkel, und es wäre nützlich zu sehen, wohin wir fahren. Bei jeder Sturmböe wächst die Eisschicht um unseren Bus. Die Heizung im Wageninnern funktioniert nicht. Alles in allem nicht sehr utopisch. Willkommen in Serbien.

Wir sind auf dem Weg nach Zrenjanin, einer Industriestadt im Norden. Zuvor hatten wir einiges von Jugoremedija, einer Arzneimittelfabrik, gehört. Nach einem Kampf, der vier Jahre dauerte, gehört sie heute zu einer der wenigen von Arbeitern selbstverwalteten Fabriken in Europa. Um dies zu erreichen, warfen die Arbeiter den neuen – von Interpol gesuchten – Besitzer hinaus, streikten und besetzten die Werkstätten. Am Vortag unserer Ankunft erfuhren wir, daß nicht nur ein Betrieb, sondern drei Betriebe besetzt waren. Zwei Unternehmen, die vor der Schließung standen, nahmen sich den Erfolg von Jugoremedija zum Beispiel: die größte für den Eisenbahnbedarf produzierende serbische Fabrik Sinvoz und der Schlachthof Bek. Ivan, ein junger intelektueller Aktivist, den die Arbeiter den «Philosophen» nennen, organisiert den Widerstand im Zusammenspiel mit Zdravko, dem rebellischen und charismatischen Arbeiter von Jugoremedija, der auch als Che von Zrenjanin bekannt ist. Sie hatten sich im Büro von Ivan in Belgrad getroffen, wo dieser für eine staatliche Agentur, dem Antikorruptionsrat, arbeitet. Am Anfang war Ivan vorallem ein militanter Antinationalist und Kriegsgegner. Die Privatisierungswelle sah er zuerst nicht sehr kritisch. Er hielt sie für ein Mittel, die Kontrolle der Arbeiter zu brechen, die eine starke Tendenz aufwiesen, nationalistisch gesinnte Politiker zu unterstützen. Daß der Privatisierungsprozeß genau-so korrupt und brutal wie irgendein Krieg war, begriff er durch die Lektüre der Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch anhäuften, und durch mehrere hundert Zeugenaussagen von Arbeitern über die Art und Weise, wie die Privatisierungen ihre Betriebe ruinierten. Während eines Rundgangs mit uns durch die eisigen leeren Hallen von Sinvoz sagt der Arbeiter Mita sehr treffend: «Für das, was sie Übergang zur Demokratie nennen, haben wir eine andere Bezeichnung, nämlich Diebstahl.»

Keiner der Arbeiter trauert der sozialistischen Zeit hinterher. Sie können aber nicht einfach dabei zusehen, wie die Großkapitalisten Anteile ihrer Fabriken kaufen, nur um sie durch undurchsichtige Machenschaften in den Bankrott zu treiben, schließlich die Kontrolle über sie gewinnen und ihren Reichtum auf der Misere der Arbeiter aufbauen. Tatsache ist, daß in Serbien die Fabriken wirklich zum Teil den Arbeitern gehören: dank des - zumindest auf dem Papier stehenden - Selbstverwaltungssystems der Tito-Ära, sind sie Aktionäre ihrer eigenen Fabriken. «Während des Kampfes um Jugoremedija», erklärt uns Ivan, «war es sehr frustriernd, wie die Medien sich weigerten zu begreifen, daß die Streikenden nicht nur Arbeiter sondern auch Mitbesitzer der Fabrik sind.» Die Arbeiter widersetzten sich dem Druck, ihre Anteile zu verkaufen, und entdeckten dabei, welch beachtliche Stärke sie gegen die neuen gnadenlosen Besitzer darstellten, wenn sie sich gemeinsam organisierten.

Von der direkten Aktion zur Wiederinbetriebnahme der Fabrik haben die Arbeiter gezeigt, daß sie sehr wohl in der Lage sind, ihre eigene Zukunft zu lenken. Sich niemals vom Gegner aufsplittern zu lassen, um danach besser kontrolliert zu werden, ist ihre größte Stärke. Nach dem extrem harten Streik und als die Fabrik dann in ihren Händen war, gaben die Arbeiter sogar den Streikbrechern ihre Arbeitsstellen zurück. Während unseres letzten Abends in Zrenjanin beobachteten wir Zdravko, den ehemaligen Mechaniker und heutigen Betriebsleiter, beim Organisieren einer Solidaritätsaktion für die anderen beiden kämpfenden Betriebe: das Blockieren einer Autobahn durch die Lastwagen mit dem Markenzeichen von Jugoremedija!

Ein wärmender Hauch von Utopie in der kalten Realität dieses Landes kommt auf.

Die Arbeiter rufen zu internationaler Solidarität auf. Mehr dazu unter www.freedomfight.net

* Mehr Informationen zu «Utopien»:

http://www.utopias.eu/workshop/

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