BERG-KARABACH: Ein alter Konflikt wieder neu

von Levon Azizyan, Arzach, 15.11.2020, Veröffentlicht in Archipel 297

Am 27. September 2020 begann in Berg-Karabach, das nach internationalem Recht zu Aserbaidschan gehört, aber von Armenien kontrolliert wird, ein heftiger militärischer Konflikt. Am 10. Oktober wurde ein Waffenstillstand ausgerufen, der jedoch von den Konfliktparteien nicht eingehalten wird. Die UNO berichtete von mindestens 53 getöteten Zivilist_inn_en. Unterdessen fordern protestierende Armenier_innen die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Berg-Karabachs, auf Armenisch „Arzach“. Die Familie des ukrainischen Menschenrechtsaktivisten Levon Azizyan stammt aus Arzach. Er beantwortete unsere Fragen über den Konflikt und die Vorgeschichte. Um nicht einseitig zu berichten, bereiten wir derzeit auch ein Interview mit einer Person aus Azerbaidschan vor.

Archipel: Levon, welchen Bezug hast Du zu Armenien und Berg-Karabach? Levon Azizyan: Meine Eltern verliessen Armenien Anfang der 1990er Jahre, um dem Krieg und seinen Nachwirkungen zu entgehen. Zwei meiner Onkel leben mit ihren Familien in Arzach. Einer ist Arzt in einem Bezirkskrankenhaus und kann aus verständlichen Gründen nicht evakuiert werden; der andere ist pensionierter Fahrlehrer, jetzt versteckt er sich in einem Bunker. Seine drei Enkelinnen wurden während des Krieges geboren, haben aber keine Erinnerungen daran. Sie sind gut gebildet, haben an der Arzach-Staatsuniversität in Stepanakert studiert und viel Selbststudium betrieben. Sie sprechen mehrere Sprachen und verdienen ihren Lebensunterhalt durch freiberufliche Tätigkeiten und Nachhilfe.

A.: Bitte erläutere kurz die Geschichte Berg-Karabachs und die Vorgeschichte des aktuellen Konflikts. L.A.: Es handelt sich keineswegs um einen neuen Konflikt, sondern um einen Konflikt, der seit über hundert Jahren andauert. Es ist ein interethnischer Konflikt. Das heisst, wenn die Offensive Aserbaidschans erfolgreich ist, wird die gesamte armenische Bevölkerung vernichtet oder bestenfalls zur Flucht gezwungen werden. Zum Verständnis: Kein_e Armenier_in, unabhängig von seiner/ihrer Staatsbürgerschaft, hat das Recht, Aserbaidschan zu besuchen. Ich kann die Geschichte anhand der sakralen Bauten schildern, auch wenn ich kein gläubiger Mensch bin. Zu Beginn des IV. Jahrhunderts nahm Armenien das Christentum an, und überall in Armenien wurden Kirchen gebaut. In Arzach stehen bis heute zahlreiche Kirchen, die damals und im folgenden Jahrhundert errichtet wurden. Ein leuchtendes Beispiel ist das Kloster Amaras aus dem frühen 4. Jahrhundert. Die erste Moschee der Region wurde 1768 in der Stadt Schuschi gebaut. Das kann einen Eindruck vermitteln, wie diese Region im Mittelalter geprägt war. Beim Genozid der Armenier_innen und anderer christlicher Völker durch das Osmanische Reich im Jahr 1915 kamen 1,5 Millionen Armenier_innen ums Leben.

Mit dem Zusammenbruch des zaristischen Regimes entstanden 1918 die erste unabhängige Armenische Republik und die Demokratische Republik Aserbaidschan. Beide erhoben Anspruch auf die Region Arzach/Berg Karabach, aber de facto besetzten türkisch-aserbaidschanische Truppen die vorwiegend von Armenier_inne_n bewohnte Region. Mit der Errichtung der Sowjetherrschaft in Aserbaidschan und etwas später in Armenien wurde die Frage erörtert, zu welcher Republik Berg-Karabach gehören sollte. Schliesslich wurde die Entscheidung direkt von Stalin getroffen: Obwohl damals 94 Prozent der Bevölkerung Armenier_innen waren, wurde das Gebiet Teil der Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) Aserbaidschan. Der Grund dafür waren die reichen Ölvorkommen Aserbaidschans und der Wunsch, sich bei dessen Bevölkerung anzubiedern.

Die Armenier_innen waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und forderten den Obersten Sowjet insgesamt fünf Mal auf, Arzach zu einem Teil der armenischen Sowjetrepublik zu machen, nämlich in den Jahren 1930, 1945, 1965, 1967 und 1977. Im Jahr 1987, zu Zeiten der Perestroika, nahmen zahlreiche Armenier_innen an friedlichen Protestmärschen teil, um Stalins Entscheidung rückgängig zu machen. Moskau ignorierte dies jedoch, und von aserbaidschanischer Seite begann die gewaltsame „ethnische Säuberung“ der Region mit Tötungen, Vergewaltigungen und Plünderungen der armenischen Bevölkerung Arzachs, deren Anteil damals immer noch 76 Prozent betrug. Die bekanntesten Pogrome sind jene von Sumgait sowie die von Baku und Kirovabad in Aserbaidschan. In der Folge verliess die gesamte armenische Bevölkerung die aserbaidschanische SSR. In der Erkenntnis, dass die Armenier_innen der Sowjetmacht den Gehorsam verweigerten, nahm die UdSSR eine offen pro-aserbaidschanische Haltung ein und führte Kampfoperationen gegen sie durch. Der Höhepunkt davon war 1991 eine gross angelegte Militäroperation der sowjetischen Armee gemeinsam mit der aserbaidschanischen Einsatzpolizei OMON mit Artillerie, Panzern und Flugzeugen gegen die armenische Bevölkerung. Dabei kamen viele Menschen ums Leben, 10.000 Armenier_innen wurden aus 21 Siedlungen Berg-Karabachs deportiert.

Der Zusammenbruch der UdSSR bedeutete nicht das Ende der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan. In schweren Kämpfen ab 1991 gelang es den Armenier_inne_n zunächst, die Blockade von Arzach zu durchbrechen und die aserbaidschanische Armee aus dem grössten Teil von Berg-Karabach und sogar aus einigen umliegenden Gebieten zu vertreiben. Der Krieg dauerte drei Jahre. 1994 wurde ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen (Protokoll von Bischkek) zwischen den drei Unterzeichnerstaaten Aserbaidschan, der Republik Berg-Karabach und Armenien unterzeichnet. In den internationalen Ranglisten für gesellschaftliche Freiheit und Pressefreiheit nimmt Aserbaidschan in den vergangenen Jahren regelmässig den letzten, in Sachen Korruption einen der ersten Plätze ein(1). Aserbaidschan ist das autoritärste Land Europas, die Macht ist seit 1969 in Händen der Familie Alijew. Vor kurzem wurde das neu eingeführte Amt des Vizepräsidenten von der Ehefrau des amtierenden Präsidenten Ilham Alijew übernommen. Es gibt keine Opposition und keine unabhängigen Medien und jede Kritik wird unterdrückt. Trotz der enormen Öleinnahmen ist der Lebensstandard niedriger als im benachbarten Armenien.

A.: Wie ist die aktuelle Situation in Arzach? Wird der Waffenstillstand eingehalten? L.A.: Am 27. September diesen Jahres begann Aserbaidschan, mit Unterstützung der Türkei und militanter Islamisten, eine militärische Offensive an allen Grenzabschnitten, die bis heute andauert. Langstreckenartilleriesysteme, Flugzeuge, Drohnen und Kamikaze-Drohnen zerstören kontinuierlich die einst friedlichen und fröhlichen Städte von Arzach und die darin lebenden Menschen. Amnesty International hat berichtet, dass bei den Angriffen auf die Hauptstadt Stepanakert auch Clusterbomben eingesetzt wurden. Das IKRK stellt dazu fest, dass diese Waffen vor allem Opfer in der zivilen Bevölkerung fordern. Das Datum der Offensive wurde nicht zufällig gewählt, Erdogan mag Daten mit historischer Bedeutung. Am 27. September 1920, genau vor 100 Jahren, begannen türkische Truppen einen Grossangriff auf die armenische Bevölkerung, die durch den Völkermord, der von 1915 bis 1923 dauerte, bereits sehr geschwächt war. Aserbaidschan erklärt hierzu, dass es „sein Land befreit“, was in Wirklichkeit bedeutet, dass Aserbaidschan Arzach von seinen Einwohner_inne_n „befreien“ will. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre und später 2016 gelang es Aserbaidschan, im Gebiet Martakert im Nordosten von Arzach, einige Siedlungen zu besetzen. Die Zivilbevölkerung flüchtete rechtzeitig und die aserbaidschanischen Streitkräfte fanden leere Dörfer vor.

Doch zurück zu heute: Nach Verhandlungen in Moskau wurde am 10. Oktober ein 72-stündiger humanitärer Waffenstillstand vereinbart. Dieser wurde aber kaum eingehalten. Der Artilleriebeschuss der Hauptstadt von Arzach, Stepanakert, ging ununterbrochen weiter. In der Region Hadrut, im Süden von Arzach, führten die aserbaidschanischen Streitkräfte einen Grossangriff durch und Sturmtruppen drangen in die Siedlungen ein. Leider konnten hier nicht alle Einwohner_innen rechtzeitig flüchten. Fünf unbewaffnete Zivilist_inn_en, darunter eine Mutter und ihr behinderter Sohn, wurden von den aserbaidschanischen Streitkräften brutal getötet. Das geschah während des humanitären „Waffenstillstands“. Auch zwei unbewaffnete Kriegsgefangene, einer von ihnen im Alter von 74 Jahren, wurden zur selben Zeit erschossen.

A.: Könnte die Anerkennung von Arzach durch Armenien und die internationale Gemeinschaft die Situation verändern? L.A.: Auf militärischer Ebene wird dies nichts ändern. Es ist mehr als offensichtlich, dass kein Land der Welt bereit ist, gegen die Türkei zu kämpfen, um die Zivilbevölkerung eines kleinen Berglandes ohne Zugang zum Meer zu schützen, d.h. die Armenier werden auf jeden Fall ihr Existenzrecht auf dem Schlachtfeld beweisen müssen. Aber immerhin würde die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Arzachs dazu führen, dass Aserbaidschan nicht einfach behaupten kann, auf seinem Territorium für Recht und Ordnung zu sorgen. DIe Rechte der Selbstverteidigung und Selbstbestimmung der Bevölkerung Arzachs wären dann zumindest anerkannt. Es handelt sich jedoch hier um einen seit über 100 Jahren andauernden interethnischen Konflikt, bei dem eine ethnische Gruppe – die Aserbaidschaner – versucht, sich durch die physische Vernichtung von Armeniern durchzusetzen, insbesondere im Gebiet von Arzach; in einem Gebiet, in dem die Armenier in den letzten zweieinhalbtausend Jahren in der Mehrheit waren. Der Hass auf die armenische Bevölkerung ist integraler Bestandteil der aserbaidschanischen Identität.

A.: Welche Solidaritätsinitiativen helfen der Bevölkerung von Arzach, und gibt es in Aserbaidschan Antikriegsinitiativen, die sich der Aggression Aserbaidschans widersetzen? L.A.: Natürlich handelt es sich vor allem um armenische Initiativen sowohl in Armenien als auch in der ganzen Welt. Konkrete Hilfe wird auch von Völkern geleistet, die ebenfalls unter der türkischen Aggression gelitten haben. Sie halten den Konflikt für einen Stellvertreterkrieg. Hier ist einer der Fonds, die den Opfern Hilfe leisten: www.himnadram.org/en. Antikriegsparolen gelten in Aserbaidschan als Verrat. Trotzdem ist mir eine Initiative bekannt, die hauptsächlich aus Aserbaidschaner_inne_n besteht, die in westlichen Ländern leben. Das sind aserbaidschanische linke junge Leute. Sie haben nicht geschwiegen und sind nicht mit dem Strom geschwommen, wofür sie Respekt verdienen. Leider wurden einige Aktivist_inn_en, die in Aserbaidschan leben, inhaftiert und zu Verhören bei der Staatsanwaltschaft vorgeladen.

A.: Levon, wir danken Dir für diese Erläuterungen und werden versuchen, diese im nächsten Archipel mit der Stellungnahme einer Person aus Aserbaidschan zu erweitern.

Das Gespräch führte Nailya Ibragimova, EBF-Ukraine, am 18. Oktober 2020

  1. Gemäss: Freedom House, Reporters sans frontières und Transparency International.