MAUERFALL: 30 Jahre danach

von Jürgen Holzapfel, EBF Deutschland, 01.12.2019, Veröffentlicht in Archipel 287

Wir haben damals begeisterte Worte gefunden, um das Ende des Kalten Krieges zu feiern. Das war vor 30 Jahren und wir begleiteten die freiwerdende Phantasie in den Bürgerbewegungen Osteuropas mit dem Wunsch ihrer europaweiten Vernetzung für ein «Europa von Unten». In diesem Sinne gründeten wir das Europäische Bürgerforum.1

Die Zeit zwischen der Auflösung der staatssozialistischen Machtstrukturen und der Durchsetzung kapitalistischer Machtstrukturen war in der DDR besonders kurz, es war eigentlich nur ein Augenblick und dennoch wurden unzählige Utopien lebendig: Abrüstung – Schwerter zu Pflugscharen; Ende der Kriege um die Kontrolle der Rohstoffe; Offenlegung der Geheimdiensttätigkeiten; die Kommunalisierung des Bodens; Recht auf bezahlbaren Wohnraum; die Anerkennung von «Runden Tischen» als Rahmen von gesellschaftlicher Auseinandersetzung und von Entscheidungsprozessen. Nichts war ausgereift, niemand war organisiert, aber viele stürzten sich in die Umsetzung ihrer Ideen. Die Begeisterung im Osten traf mehrheitlich auf eine Gummiwand des Konsums im Westen und das glitzernde Angebot der Regierung Kohl (1 Ostmark gegen 1 Westmark) verfehlte nicht seine Wirkung. In einem als «Blitzkrieg» bezeichneten Vormarsch holten sich die westdeutschen Wirtschaftsführer in kürzester Zeit das Vermögen der DDR, während zunächst rund 50 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung auf die Strasse gesetzt und damit beschäftigt wurden, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht ganz ohne gegenseitige Denunzierung. Hausbesetzer·innen bekamen die Brutalität der ehemaligen Volkspolizist·inn·en unter westlicher Führung zu spüren.

Kontroverse Erzählungen

In diesem dreissigsten Jahr nach der Restauration sind besonders viele Publikationen über diese Zeit erschienen, «Le Monde diplomatique» hat in seiner französischen Novemberausgabe eine gut dokumentierte Zusammenfassung unter der Überschrift «Ostdeutschland, die Geschichte einer Annexion» von Rachel Knaebel und Pierre Rimbert veröffentlicht. In den deutschsprachigen Publikationen erzählen die Einen, welche Anstrengungen der Westen unternommen hat, um blühende Landschaften im Osten entstehen zu lassen, finanziert mit der Solidaritätssteuer, die jedem Bürger und jeder Bürgerin in Ost und West von seinem Einkommen bis heute abgezogen wird. Die Anderen berichten von dem ökonomischen Kahlschlag auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Die Dritten erzählen, was sie persönlich erlebt haben. Viele wurden damals von den Ereignissen überrannt, hatten Mühe, sie zu verstehen und mit ihren Kindern über den Arbeitsplatzverlust, Existenzängste und den schwierigen Neuanfang zu reden. Deshalb kennt heute ein Grossteil der jungen Menschen nur die offizielle Erzählung von der Diktatur im Osten, der Stasi, der maroden Wirtschaft und dass jetzt alles besser ist. Besonders für sie sind die persönlichen Erzählungen wichtig, damit sich nicht wieder zwei Generationen sprachlos gegenüberstehen.

Streifzug durch ländliche Gebiete

In kritischen Publikationen dominieren zwei Fragen: Die Politik der Treuhandanstalt2 und der Aufstieg deutsch-nationalistischer Bewegungen in der ehemaligen DDR, der vorläufig bei ungefähr 25 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen in Sachsen in diesem Jahr gipfelt. Wer sich heute die Zeit nimmt, durch die abgelegenen ländlichen Gebiete und Kleinstädte in Ostdeutschland zu fahren, sieht neu gedeckte und geputzte Häuser, aber auch eine Welt, wo die verfallenden Fabrikgebäude und ganze Reihen verlassener und verkommener Wohnhäuser mit den verblassenden sozialistischen Beschriftungen und Hinweisen die Vergangenheit erzählen. Dazwischen stösst man aber immer wieder auf Initiativen von Menschen, die sich für ein kleines Kulturprojekt, für einen genossenschaftlichen Laden, eine Biobäckerei oder einen Kindergarten zusammengefunden haben. Künstler·innen haben sich hier niedergelassen und Menschen, die den billigen Wohnraum und das Leben auf dem Land gesucht haben. Man kann in diesen verlassenen Gegenden aber auch auf Dörfer stossen, in denen sich völkische Siedler·in-nen niedergelassen haben, um hier ihre deutschnationale Ideologie in einem traditionsbeladenen und extrem patriarchalen Bauern- oder #Handwerkerleben weiterzugeben. Abgesehen davon, werden diese Gebiete von Windparkbetreibern und Grossgrundbesitzern beherrscht. Auf dem Land ist eine Rückkehr zu den Strukturen vor 1945 sichtbar. Der adlige Grossgrundbesitz hat besonders in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg über Jahrhunderte das Land und die Menschen markiert. Beinahe in jedem Dorf steht heute noch ein ehemaliges Gutshaus oder ein Schloss und daneben die Katen der Landar-beiter·innen, die bis ins 20. Jahrhundert noch fast wie Leibeigene ausgebeutet wurden. Die neuen Grundbesitzer·innen sind nur zum Teil die Adeligen, die durch die Landreform in der sowjetisch besetzten Zone nach dem Krieg enteignet wurden und einige Jahre nach der deutschen Vereinigung zu einem Vorzugspreis ihre Ländereien wieder erwerben konnten. Die grössten Grundbesitzer·innen sind heute Kapitalgesellschaften, die über 10 bis 40 Tausend Hektar Land verfügen. Sie profitierten von der Verkaufspolitik der Treuhand, die das Land an den Höchstbietenden zum Nachteil der lokal vorhandenen Betriebe verkauft hat. Innerhalb von 10 Jahren sind auf diese Weise die Bodenpreise um mehr als 400 Prozent gestiegen. Für normale landwirtschaftliche Betriebe ist der Boden nicht mehr bezahlbar und z.B. in Mecklenburg-Vorpommern sind inzwi-schen mehr als 40 Prozent der Landwirtschaftsunternehmen in der Hand auswärtiger Kapitalgesellschaften. Für sie ist der Boden lediglich eine günstige Kapitalanlage, die auf Grund der flächenbezogenen Agrarsubventionen der EU einträglicher ist als andere Anlagebereiche. Erst wenn der Besitz landwirtschaftlicher Flächen wieder zu einer umweltschonenden und sozialverträglichen Landwirtschaft verpflichtet, können diese Gebiete wieder sinnvoll belebt werden.

Sozialer Protest geht unter…

Kommt man aber in grössere Städte, so sind die Zentren meistens mit modernen Gebäuden und Supermärkten dem Bild westlicher Städte angepasst, aber die Anwesenheit rassistischer Organisationen wird an fremdenfeindlichen Parolen auf den Wänden und auf Aufklebern deutlich sichtbar. Es wird heute viel über die Gründe geschrieben, die zu dem Aufstieg deutsch-nationalistischer Bewegungen in den neuen Bundesländern geführt haben. Ich will nur in Erinnerung rufen, dass das Jahr 1992 für diesen Aufstieg entscheidend war. Damals gingen die Menschen im Osten in grosser Zahl gegen Betriebsschliessungen und Arbeitslosigkeit auf die Strasse. Sie protestierten mit Hungerstreiks, Strassenblockaden, Massendemonstrationen und Mahnwachen gegen das, was sie als ihre Enteignung empfanden. Die Proteste waren erfolglos.

… und Neonazis profitieren

Dann kam es zu den hinreichend bekannten Pogromen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Im Gegensatz zu den sozialen Protesten fanden diese ein breites Echo in der bundesdeutschen Medienwelt und europaweit. Zur Illustration möchte ich eine Erfahrung erwähnen, die wir als Europäisches Bürgerforum gemacht haben. Wir unterstützten damals die ländliche Gemeinde Wollup an der Oder, welche die Kommunalisierung der landwirtschaftlichen Flächen des ehemals staatseigenen Betriebes forderte. Als wir uns bemühten, die Forderung der Gemeinde in die Medien zu bringen, erhielten wir die Antwort, es gebe die Anweisung, nichts Negatives über die Treuhandpolitik zu berichten. Die Schlagzeilen über die Pogrome erwähnten kaum die angereisten Kader der NPD aus dem Westen, die erheblich zur Organisation beigetragen hatten. Was aber den Ausschlag für den Aufstieg der deutschnationalen Bewegungen gegeben hat, war die Zustimmung des Bundestages zur Abschaffung des Asylrechtes im Grundgesetz. Im Unterschied zu allen sozialen Protesten hatten die deutschnationalen Gruppierungen einen politischen Erfolg errungen. Heute sitzen sie unter dem Logo der neu gegründeten Partei «Alternative für Deutschland» (AfD) in Bundes-, Landes- und Gemeindeparlamenten und ihr Wortführer Gauland verkündete, «wir werden die Regierung vor uns hertreiben». Hatte die CDU im Jahr 1992 dazu aufgerufen, den Widerstand der SPD gegen die Grundgesetzänderung zu brechen, so ist sie inzwischen selbst zur Zielscheibe der Deutschnationalen geworden.

Es gibt aber nicht nur die AfD in den «Neuen Bundesländern». Es gibt überall auch antifaschistische Bewegungen, die für den Empfang von Geflüchteten und gegen nationalistische Volksverhetzung auf die Strasse gehen. Es gibt Initiativen, die sich für eine ökologische Wende einsetzen, welche die Kultur wieder in die ländlichen Regionen bringen, welche die Verbindung zwischen Konsument·inn·en und Produzent·inn·en herstellen, die ihre Solidarität mit dem Widerstand in anderen Kontinenten zeigen. Es gibt eine Bewegung, die sich nicht mit den politischen Parteien identifiziert, aber vor Ort nach Lösungen und Antworten sucht. Sie sind die eigentliche Fortführung der Bürgerbewegungen von 1989 und sie haben einiges dazugelernt.

  1. Wenig später haben wir unser Bürgerforum in «Europäisches BürgerInnen Forum» umbenannt, mit der Idee, als politische Bewegung der geschlechtlichen Gleichstellung gerecht zu werden.
  2. Als «Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums» wurde sie am 1. März 1990 von der vorletzten Regierung der DDR unter Hans Modrow beschlossen, mit dem Ziel, das Volkseigentum zu bewahren und im Interesse der Allgemeinheit zu verwalten. Am 18. März 1990 wurde dann die Regierung von Hans Modrow abgewählt, die «Allianz für Deutschland» von Helmut Kohl erhielt 45,2 Prozent der Stimmen. Danach wurde das Konzept dieser Einrichtung völlig geändert.