ITALIEN: Der schwarze Stiefel

von Barbara Vecchio, EBF, 11.11.2022, Veröffentlicht in Archipel 319

Dieser Artikel ist das Resultat von Begegnungen und Gesprächen, die ich am Tag nach den Wahlen in Italien führen konnte. Darin spiegeln sich die Enttäuschung, die Ängste und die Ernüchterung der Wähler·innen angesichts einer Politik wider, die nicht in der Lage ist, Antworten auf die dringenden Probleme eines krisengeschüttelten Landes zu geben, das eine leichte Beute für den «post»-faschistischen Populismus ist.

Es sei daran erinnert, dass die junge Giorgia Meloni 1996 sagte: «Ich glaube, Mussolini war ein guter Politiker. Das heisst, alles, was er getan hat, hat er für Italien getan. Und das findet man nicht bei den Politikern, die wir in den letzten 50 Jahren hatten.»

Das Ergebnis der italienischen Wahlen hat die Prognosen vom Vortag bestätigt. Die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia (FI) hat mit 26 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg errungen und in Koalition mit Berlusconis Forza Italia und Salvinis Lega 44 Prozent erreicht. Gleichzeitig hat die Linke, insbesondere die Demokratische Partei, eine Niederlage erlitten, da sie nur 19 Prozent der Stimmen bekam. Angesichts eines solchen Ergebnisses ist es dringend notwendig, den Hintergrund dieser Zahlen besser zu verstehen.

Es ist sicherlich beeindruckend, dass die am weitesten rechtsstehende Partei im Parlament zur stärksten Partei in Italien wird, aber man darf nicht vergessen, dass Fratelli d’Italia, allen voran Giorgia Meloni, die einzige Oppositionspartei in der vorherigen Regierung unter dem Vorsitz von Mario Draghi war. Diese Tatsache hat ihr sicherlich in die Karten gespielt, denn in den Augen der Wählerinnen und Wähler verkörpert FI heute die Partei des «Bruchs» mit dem Establishment.

Die Exekutive der Regierung Draghi hat sich in letzter Zeit nicht gerade beliebt gemacht: Sie musste sich mit der heiklen Problematik der Pandemie auseinandersetzen. Noch schlimmer für die Wähler·innen war jedoch die Energiekrise, die zu einem unglaublichen Anstieg der Gas- und Stromrechnungen für Haushalte und Unternehmen geführt hat. Man kann sagen, dass sich die italienische Bevölkerung im Stich gelassen fühlte, da keine Massnahmen zur Linderung dieser Krise in Betracht gezogen worden waren. G. Meloni, die sich in der Opposition immer ruhig in ihrer Ecke gehalten hat, wird heute als das einzige Element der Diskontinuität mit der vorherigen Regierung wahrgenommen. Dies belohnt sicherlich Fratelli d’Italia, bestraft aber die beiden anderen Parteien der Mitte-Rechts-Koalition, Forza italia und die Lega, die hingegen Teil der Draghi-Regierung waren und daher unerwartet schlecht abschnitten.

Entfremdung einer Mehrheit

Bei der Betrachtung der Wahlergebnisse darf man eine grundlegende Tatsache nicht vergessen: Die grösste Partei Italiens ist in Wirklichkeit die Partei der Nichtwähler (64 Prozent).

In den letzten 50 Jahren hat sich das Verhältnis zwischen den Wähler·inne·n und der politischen Klasse in Italien immer weiter verschlechtert, da sich die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr von einer politischen Partei vertreten fühlt. Diese Entfremdung führt zu einer sehr hohen Wahlenthaltungsrate, die in diesem Jahr um weitere 10 Prozent gestiegen ist.

Man darf auch nicht die strategischen Fehler der Linken vergessen, insbesondere der Demokratischen Partei (PD), die bei den letzten Wahlen quasi alles falsch gemacht hat. Das italienische Wahlgesetz, ein komplexes und ziemlich verdrehtes Gesetz, belohnt die siegreiche Koalition. Es ist daher offensichtlich, dass man als Teil einer starken Koalition in die Wahlen gehen muss, was die PD nicht geschafft hat. Sie hätte eine Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimiento 5 Stelle - M5S) eingehen müssen, aber da die Fünf-Sterne-Bewegung den Sturz der Regierung Draghi herbeigeführt hatte, war dies nicht möglich. Die Kluft zwischen der PD und der M5S ging nicht mehr zu. Die PD trat daher nicht allein, sondern zusammen mit zwei anderen kleinen Parteien zu den Wahlen an, während die M5S allein antrat (und wider Erwarten zur drittstärksten politischen Kraft des Landes wurde).

Die Demokratische Partei führte auch eine sehr schlechte Wahlkampagne, die sich um die Angst vor der Rückkehr des Faschismus und die Gefahr eines Abgleitens in die Diktatur drehte. Sicherlich handelt es sich hierbei nicht um eine unbegründete Angst, aber es fehlte völlig an Vorschlägen zur Bewältigung der praktischen und dringenden Probleme der Bevölkerung. Mit all diesen geschichts- und ideologiegetränkten Reden hat man sich den Wähler·innen und ihren Sorgen sicherlich nicht angenähert. Es gibt schon seit langem eine Krise in der Beziehung zwischen der PD und der Bevölkerung: die Krise der Beziehung einer Partei zu ihrer eigenen Basis. Die PD wird nun als eine Partei wahrgenommen, die mit den Bankensystemen und der Grossindustrie verbunden ist. Sie spricht immer weniger über die Probleme der Arbeitnehmer·innen, den Arbeitsmarkt und die alltäglichen Probleme der italienischen Bevölkerung. Leider muss ich hier erwähnen, dass das Gegenteil der Schlüssel zum Erfolg des M5S bei diesen Wahlen war. Das M5S hat ein Programm mit sehr einfachen, aber konkreten Punkten vorgeschlagen, das sehr populär ist. Er schlug vor, das allgemeine Einkommen beizubehalten, einen Mindestlohn einzuführen, die Prekarisierung der Arbeit zu bekämpfen und sogar die Arbeitszeiten zu verkürzen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Klima der Spaltung

Viel dringender ist die Frage, wie die ersten Schritte der neuen Regierung aussehen werden. Ganz am Anfang wird sie sicherlich beweisen wollen, dass sie tatsächlich ein Element der Diskontinuität im Vergleich zu allen vorherigen Regierungen ist. Sie wird ihre Identität markieren wollen, indem sie etwas «wirklich Rechtes» tut. Wie Gianfranco Schiavone, Vizepräsident der Vereinigung für juristische Studien zur Immigration in Italien, sagte, wird sie sicherlich wie in der Vergangenheit ein Klima der Spaltung und der sozialen Feindseligkeit gegenüber Migrant·inn·en im Allgemeinen schaffen wollen. Sie wird an zwei Fronten agieren: Zum einen wird sie Seenotrettung verhindern. Sie wird gegen NGOs vorgehen, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits eingeschritten ist, um klarzustellen, dass Rettungsaktionen völlig legal sind, selbst wenn sie von kommerziellen Schiffen oder Sportbooten durchgeführt werden, die nicht dazu bestimmt sind, Menschen zu retten.

Die zweite Interventionslinie besteht darin, den «besonderen Schutz», der den «humanitären Schutz» ersetzt hat, zu reduzieren oder sogar abzuschaffen. Das Wahlprogramm der rechten Koalition zum Thema Migration war ein Sammelsurium von ziemlich gewalttätigen Vorschlägen. Die verwendete Sprache war, wie üblich, eine kriegerische Sprache. Es geht um die Auswirkungen einer Politik, die sich unter dem Deckmantel, für Sicherheit zu kämpfen, von Unsicherheit ernährt.

Neben dem Versuch, sich als rechte Regierung zu identifizieren, wird es aber auch darum gehen, Europa zu beruhigen, denn die Fratelli d’Italia weiss sehr wohl, dass sie in vielen Staatskanzleien nicht gern gesehen ist. Man wird also versuchen müssen, die Beziehungen zu Europa, insbesondere zu Frankreich und Deutschland, zu normalisieren, um nicht Gefahr zu laufen, an den Rand gedrängt zu werden, zusammen mit Polen und Ungarn, die nun die Länder sind, deren Regierungsform am ehesten derjenigen ähnelt, die sich gerade in Italien etablieren will.

Die rechtsextreme Partei wird auch eine Verfassungsreform vorschlagen, die Italien in eine Präsidialrepublik verwandeln könnte, eine Debatte, die sicherlich hitzig werden wird, da die Italiener·innen sehr an ihrer Verfassung hängen, die das Ergebnis des Widerstandes gegen den Faschismus ist. Aber dieses Thema verdient einen eigenen Artikel. Vorerst bleibt uns nur zu hoffen, dass diese Regierung nicht lange Bestand haben wird. Feindseliger Wind aus Europa und angespannte interne Beziehungen wie die zwischen Giorgia Meloni und Matteo Salvini könnten verhindern, dass die neue Regierungschefin das Ende ihrer fünfjährigen Amtszeit erreicht – eine italienische Konstante, die den Schaden begrenzen könnte. Wer im Falle eines Sturzes eingreifen wird und wie, bleibt leider eine unbeantwortete Frage. Der Horizont ist schwarz und dieser Ausdruck ist leider nicht nur eine Metapher.

Barbara Vecchio, EBF