POLIZEIGEWALT: Kann die Polizei abgeschafft werden?

von Gwenola Ricordeau, Joël Charbit u. Shaïn Morisse, 15.10.2020, Veröffentlicht in Archipel 296

Seit dem Tod von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis haben die Proteste gegen Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten historische Ausmasse angenommen. Vor diesem Hintergrund wird in den USA sogar die Abschaffung der Polizei breit diskutiert.

Die Proteste haben das Land erschüttert und ein Echo in der ganzen Welt ausgelöst, so wie in Frankreich, wo eine Demonstration des Komitees „Vérité et Justice pour Adama“ am 2. Juni 2020 von einer noch nie dagewesenen Zahl von Menschen besucht wurde. Der 24-jährige Adama Traoré war im Jahr 2016 der Polizeigewalt zum Opfer gefallen. Die Demonstrationen in den USA, bei denen zunächst der gewalttätige und rassistische Charakter der Polizei angeprangert wurde, haben zu einer breiten Bewegung geführt zugunsten einer Reduzierung der Budgets und des Handlungsspielraums der Polizei. Diese Bewegung, die schnell an Sichtbarkeit gewann, erreichte einen Meilenstein mit dem Beschluss des Stadtrates von Minneapolis, die Polizeikräfte der Stadt abzuschaffen und ein alternatives Modell der öffentlichen Sicherheit einzuführen. Seither wurden in vielen Städten ähnliche Forderungen gestellt und der Abbau der Polizei ist zum Gegenstand einer nationalen Debatte geworden, während noch vor wenigen Wochen diese Forderung auf die radikale Linke beschränkt war.

Mobilisierung und theoretische Arbeit

Diese Aufrufe haben zur Entstehung einer nationalen Kampagne unter dem Motto #8toabolition geführt, die auf die Abschaffung der Polizei abzielt und acht Forderungen enthält, darunter einen Finanzierungsstopp der Polizei und die Massenfreilassung von Gefangenen. Die 2010er-Jahre waren von einer beispiellosen Legitimationskrise der Polizei geprägt im Gefolge der Proteste wegen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner_innen – vor allem in Ferguson (2014) und Baltimore (2015). Dies war die Geburtsstunde der Black-Lives- Matter-Bewegung (Schwarze Leben zählen). Seitdem verteidigen Aktivist_inn_en, Wissenschaftler_innen und Kollektive durch Mobilisierungen und theoretische Arbeiten die Idee einer Abschaffung der Polizei. Einige dieser abolitionistischen Kollektive existieren auf nationaler Ebene wie Critical Resistance, das 1998 u.a. von Angela Davis gegründet wurde. Andere Gruppen sind lokal verankert, wie z.B. die MPD150-Koalition in Minneapolis. Die Bewegung zur Abschaffung der Polizei hat auch in Chicago an Dynamik gewonnen. Sie ist mit dem Widerstand gegen das Gefängnis- und das Strafrechtssystem verbunden und durch Organisationen wie Assata's Daughters oder Project NIA vertreten, welche die Verhaftung und Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen verhindern wollen. In ihre Reihen gehört die emblematische Abolitionistin Mariame Kaba, deren Twitter-Account von fast 150‘000 Menschen verfolgt wird.

Kritik an reformistischen Ansätzen

Die Bewegung für die Abschaffung der Polizei steht den reformistischen Vorschlägen, die normalerweise gemacht werden kritisch gegenüber. Diese Vorschläge reichen von der Verbesserung der Ausbildung und Einstellung von Polizeibeamt_inn_en über die systematische Anwendung von GoPro-Kameras bis hin zur Verschärfung der Disziplinarverfahren gegen Beamte, die gegen die Regeln verstossen. Aber diese Art von Reformen seien in Minneapolis schon vor dem Mord an Georges Floyd umgesetzt worden, argumentieren die Gegner_innen der Reformist_inn_en. Die Polizei in dieser Stadt wurde in der Vergangenheit gar als Modell zitiert. Aktivist_inn_en, aber auch Forscher_innen wie der amerikanische Soziologe Alex Vitale, argumentieren, dass liberale Reformen nur dazu dienen, die Mittel und die Handlungsspielräume der Polizeidienste zu verstärken, während die Institution als solche zutiefst zerstörerisch bleibt. Nach Ansicht der Abolitionist_inn_en ist rassistisch motivierte Polizeigewalt nicht das Ergebnis von individuellem Fehlverhalten oder institutioneller Mängel, sondern kommt aus dem System selbst. Aufgrund ihrer im Kapitalismus, in der Sklaverei und dem weissen Suprematismus verwurzelten Geschichte bestehe die eigentliche Funktion der Polizei in der Unterdrückung der armen und rassisierten Bevölkerung, und jeder Versuch einer Reform sei deshalb vergeblich.

Entmachten, entwaffnen, auflösen

Die von den amerikanischen Bewegungen vorgeschlagene Strategie für die Abschaffung der Polizei besteht aus drei Schritten, die unter dem Motto Disempower, disarm, disband („Entmachten, entwaffnen, auflösen“) zusammengefasst sind. Die Institution der Polizei wird durch die Verminderung ihres Finanzhaushalts und ihrer Anzahl von Beamt_inn_en geschwächt; so soll ihr sozialer Einfluss und ihre Macht schwinden. Die Reduzierung ihrer Aktivitäten soll mit einer Stärkung der sozialen Bindungen einhergehen, damit die Menschen den Grossteil der Problemsituationen (wie z.B. zwischenmenschliche Gewalt) durch Praktiken wie transformative Gerechtigkeit kollektiv bewältigen können. Die Entwaffnung der Polizei bedeutet, die Militarisierung der Polizeikräfte, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten beschleunigt hat, aufzuhören und deren Waffenarsenal schrittweise abzubauen – dabei geht es auch um so genannte nicht-tödliche Waffen wie Taser. Dieser Schritt führt natürlicherweise zum nächsten: zur völligen Auflösung der Polizeikräfte.

Bei den Demonstrationen der letzten Wochen ist die Losung Defund the police („Stoppt die Finanzierung der Polizei“) sehr stark aufgekommen und hat sich über die Bewegung der Abolitionist_inn_en hinaus verbreitet. Es wird gefordert, die für die Polizei vorgesehenen Budgets anderen Sektoren und Programmen zuzuweisen, welche die sozialen Bindungen in der Gesellschaft stärken (Gesundheit, Bildung, Transport, Wohnungsbau usw.), und so zu einer Verringerung der Kriminalität beizutragen. Die Expansion des Polizeiapparates und des Strafrechtssystems, die vor etwa 40 Jahren auf Kosten der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen begann, muss zuerst gestoppt und dann rückgängig gemacht werden. Laut Alex Vitale erklärt sich das Ausmass der gegenwärtigen Mobilisierungen vor allem durch eine tiefgreifende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Weissen und Schwarzen, die durch die Covid-19-Pandemie noch verschärft wurde. Die Polizeigewalt hat dieses Ungleichgewicht nur noch deutlicher aufgezeigt.

Abschaffung der Polizei und des Strafsystems

Die Bewegung für die Abschaffung der Polizei ist eng mit der schon älteren Bewegung für die Abschaffung der Gefängnisse verbunden. Beide sind Teil des „kriminalsoziologischen Abolutionismus“, der auf die Abschaffung des Strafvollzugs (Polizei, Justiz, Gefängnis) abzielt und auch häufig die Aufhebung der Einweisung von behinderten Menschen in geschlossene Anstalten fordert. Die Besonderheit des kriminalsoziologischen Abolutionismus besteht darin, dass dessen Vertreter_innen behaupten, das Strafrechtssystem sei nicht reformierbar und das eigentliche Problem. So kritisiert der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault die Idee, die Gefängnisse verbessern zu wollen, und lehnt auch alternative Strafen ab. Tatsächlich kritisiert der kriminalsoziologische Abolutionismus die Institutionen des Strafvollzugssystems dafür, dass sie die Unterdrückung zwischen den Klassen, „Rassen“ und Geschlechtern aufrechterhalten oder verstärken. Die Abolitionist_innen sind daher der Ansicht, dass diese Unterdrückung ohne den Kampf gegen den Strafvollzug nicht bekämpft werden kann. Diese Bewegung lädt zu einem radikalen Umdenken bei den Formen von sozialer Kontrolle ein. Sie versucht, die Logik der Strafjustiz durch eine soziale Justiz und nichtbestrafende Formen der Konfliktlösung zu ersetzen, die auf einem Ideal der Partizipation, der Wiedergutmachung und der Emanzipation von Individuen und Gemeinschaften beruhen.

Und in Frankreich?

In den Vereinigten Staaten wurzelt die radikale Kritik an der Polizei in den Verbindungen dieser Institution mit dem Sklavensystem, dessen Funktionieren auf das Strafrechtssystem übergegangen ist. In Frankreich wird die Kritik an der Polizei auf andere Weise ausgedrückt, auf der Grundlage verschiedener Geschichtserfahrungen sowie unterschiedlicher Repressionen und Kämpfe, zum Beispiel durch die Analyse der Kontinuität zwischen Kolonialmacht und staatlichem Rassismus. Wenn in Frankreich der kriminalsoziologische Abolutionismus als Bewegung weniger verbreitet ist als in den USA, so gibt es doch starke Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ländern im Kampf gegen Polizeigewalt. Die Entwaffnung der Polizei wird z.B. durch das Kollektiv Désarmons-les (Entwaffnen wir sie!) gefordert. Seit Jahrzehnten prangern Vereinigungen von Angehörigen der Opfer von Polizeiübergriffen in den Banlieues (Vorstädten) die Gewalt und den strukturellen Rassismus der Polizei und des Justizsystems an.

Erst in jüngster Zeit hat sich dieser Protest auf andere Formen der Mobilisierung ausgeweitet, zum Beispiel auf diejenige der Bewegung der Gilets jaunes (Gelbwesten). Die Berichterstattung in den Medien über die Gewalt, die letztere erlitten haben, steht jedoch im Gegensatz zu der Kriminalisierung und dem Rassismus, mit denen die Opfer der Polizeigewalt in den Banlieues taxiert werden. Viele Menschen glauben, dass die Existenz der Polizei die Sicherheit aller garantiert. Wie die Arbeiten über die Geschichte der Polizei und des Strafrechtssystems, insbesondere diejenigen von Michel Foucault, zeigen, wurde die Polizei jedoch nicht geschaffen, um auf das Phänomen der Kriminalität zu reagieren, sondern sie beteiligt sich zusammen mit der „Strafindustrie“ an deren Organisation.

Wie Foucault hervorhebt, beinhaltet die Organisation der Delinquenz durch den Strafvollzug unter anderem die differenzierte Handhabung von Illegalismen: die Bezeichnung von Verbrechen und ihre mehr oder weniger strenge Bestrafung tendiert dazu, bestimmte Personengruppen stärker und strenger zu kriminalisieren. Das Ziel dieses Systems ist nicht der Schutz vor Kriminellen, so der Philosoph, sondern die Bezeichnung der inneren Feinde. Auf der anderen Seite des Atlantiks legt eine Vielzahl von Forschungsarbeiten über die Geschichte der Polizei nahe, dass diese eng mit der Verteidigung des Privateigentums und mit weissem Suprematismus einhergeht und gleichzeitig zur Schwächung anderer Formen der sozialen Kontrolle beigetragen hat. Abolitionistisches Denken steht daher im Gegensatz zu der Behauptung, dass Polizeiarbeit der einzige Weg sei, die Sicherheit der Bürger_innen zu gewährleisten, und schlägt deshalb andere Formen des Eingreifens in kritischen Situationen vor.

Gwenola Ricordeau, Assistenzprofessorin für Strafjustiz (USA, Frankreich), Joël Charbit, Soziologe (F), Shaïn Morisse, Politologe (F)