ARCHIPEL AKTUELL: Die Wegkreuzungen des Libanon

de Alex Robin Radio Zinzine, Frankreich, 20 nov. 2006, publié à Archipel 141

Der Libanon, ein kleines Land von vier Millionen Einwohnern, hätte sicher gerne darauf verzichtet, in diesem Sommer des Jahres 2006 auf den Titelseiten der internationalen Presse zu erscheinen - ein Land, für das man Zeit braucht, um es zu verstehen.

Die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Libanon erklärt sich zweifellos von seiner Geographie her. Das Land war schon immer ein gebirgiger Zufluchtsort zwischen der Ebene und dem Meer, an dem sich im Laufe der Zeit verschiedenste Bevölkerungsgruppen ansiedelten. Libanon bedeutet «weiß», benannt nach dem Weiß des Kalkgebirges des Landes. Dieses Weiß erhält kaum noch Konkurrenz durch das Grün der berühmten Zedern, das zwar noch auf der Nationalflagge figuriert, aber durch übermäßige Abholzung dieser Bäume verblasst ist. Und dieses fast makellose Weiß wird erneut mit Blut befleckt, in einem Land, das sich sonst durch große Schönheit und Kultur auszeichnet.

Wer weiß schon von den Sommerfrischlern und Touristen in unseren Breitengraden, wenn er genüsslich ein Sorbet verspeist, dass dieses Wort von dem arabischen Ausdruck für «Sirup» abstammt. Das Sorbet aus den libanesischen Bergen war so berühmt und begehrt, dass es die ägyptische Aristokratie auf Eselsrücken, gekühlt durch mitgeführte Eisblöcke, nach Kairo bringen liess. Legendär ist auch die libanesische Gastfreundschaft, die jeder einmal erleben sollte. Doch es darf nicht um kritiklose Bewunderung gehen, denn der Libanon kann denjenigen, der sich Zeit nimmt, um das Land besser kennen zu lernen, genauso wütend machen. Die lärmende Hauptstadt Beirut ist voll von Imponiergehabe und Prahlerei, so als ob der Geldschrank von Nizza die Großmäuligkeit von Marseille geheiratet hätte, genau neben der enormen, frustrierten Armut von Casablanca. Man muss diese großspurige und korrupte Bourgeoisie gesehen haben, wie sie es schafft, den schlechten Geschmack zum letzten Schrei der Zivilisation zu erheben. Was Professor Pierre Musso über das Italien Berlusconis gesagt hat, findet hier seine Parallele: «Die Oberflächlichkeit und das Prinzip des ‚Jeder für sich allein‘ wird zu einer Flucht nach vorne, um die bleiernen Jahre zu vergessen - diese Zeitspanne, in der das politische Engagement dramatische Züge angenommen hatte.» Zu allem Unglück sind es im Libanon diejenigen, die in den 1970er und -80er Jahren ihre Hände mit Blut besudelt hatten, die sich dann in den 1990er Jahren ihre Taschen aus der Staatskasse füllten.

Die alten Paten des neuen Libanon Der Journalist Alain Gresh hat es in einem Artikel des «Monde diplomatique» so beschrieben: Der Staat wurde zum Selbstbedienungsladen der «alten Paten» des neuen Libanon, für die immer gleichen Familien: die Hariris, Gemayels, Dschumblatts, Frangies und Chamouns (mit allem Respekt gegenüber dem Filmemacher Jean Chamoun, dem schwarzen Schaf der Familie). Sie und andere schafften es, die revolutionäre Strömung des letzten Krieges in einen interethnischen Konflikt umzuleiten. Sie nützten auch die Angst vieler Libanesen gegenüber dem Staat im Staate aus, zu dem die PLO in den 1970er Jahren geworden war. Schließlich mündete der Krieg von 1975 in das Abkommen von Taëf, welches ein neu-es Gleichgewicht der politischen Kräfte zu Gunsten der Muslime unter syrischer und internationaler Kontrolle vorsah. Fraglos war dieser Krieg dadurch mitverursacht worden, dass die armen Schiiten des Südens zu lange von der Staatsmacht ausgegrenzt worden waren. Dieses Abkommen hatte auch zum Ziel, die politische Rolle der Konfessionen, welche stark für den Krieg verantwortlich war, in Frage zu stellen. Doch mit der Zeit war keine Rede mehr davon.

Die 1990er Jahre wurden zur Periode des Wiederaufbaus und des Aufstiegs von Hariri, dem neuen Premierminister. Wie ein Vampir saugte das Hariri-System den Staat aus. Es hielt die Staatsmacht in der einen Hand und mit der anderen schanzte es sich die lukrativsten Geschäfte zu, wie zum Beispiel diejenigen im Immobiliensektor. Die Nomenklatura dieser sunnitischen Großbourgeoisie riss zudem die Wertpapiere des Staates an sich mit einem staatlich garantierten Zins von 15 Prozent. Schon während der ersten Hariri-Regierung von 1992 bis 1998 stieg die Staatsverschuldung des Libanon von 3 auf 18 Milliarden Dollar.

Der Journalist René Naba, Autor eines Buches über Hariri, stellte fest: «Rafic Hariri ist der größte Grundbesitzer des Landes, ihm gehört ein Fünftel der Fläche des winzigen Landes von 10.000 km 2. Sein persönliches Vermögen übersteigt das Bruttosozialprodukt des Landes, und er beherrscht ein Medienimperium, mit dem er den politischen Ausdruck des sunnitischen Islam im Libanon monopolisiert hat. Hariri ist ganz nach dem Geschmack seiner Mentoren, der saudiarabischen Erdölmonarchie mit ihrem US-amerikanischen Protektor.»

Hariri betätigte sich jedoch auch als Wohltäter, indem er Beirut «modernisierte» und zum Beispiel 36.000 Stipendien an Studenten vergab. Er dachte, sein System sei lebbar, und er stellte sich vor, dass der Libanon wieder zu einem internationalen Börsenplatz werden würde. Er zählte auch auf internationale Unterstützung, und Saudiarabien war nicht weit weg…

Doch Hariri wurde im Februar 2005 Opfer eines Attentats, nachdem er sich mit Syrien überworfen hatte. Der Schluss liegt nahe, dass Syrien Rache an ihm geübt hat. Es gibt jedoch auch Stimmen, die vermuten, dass Israel und die USA einen Vorwand gesucht hatten, um Syrien an den Pranger zu stellen, weil das Land die regionale Vormachtstellung Israels nicht akzeptiert.

Frankreich auf der Achse USA-Israel

Warum hatte sich Hariri gegen Syrien gestellt? Eben weil sich die regionale Machtordung geändert hatte. Mit dem Krieg gegen den Irak zeigten die USA, wie weit sie bereit waren zu gehen, um ihr Projekt eines «Großen Mittleren Ostens» zu verwirklichen. Unter dem Vorwand der Demokratisierung und Liberalisierung geht es der US-Regierung in erster Linie darum, ihre Alliierten zu stärken und alle, die ihr nicht genehm sind, im Namen des Kampfes gegen den «islamistischen Terrorismus» zurückzudrängen.

Gemäß René Naba hatten die USA im Jahr 2004 beschlossen, Syrien zum Verlassen des Libanon zu zwingen, um den Einfluss der Saudis via der sunnitischen Oberschicht unter Hariri zu verstärken. (Nebenbei bemerkt hatte Hariri auch die saudiarabische Staatsbürgerschaft). Hariri machte sich dann daran, den französischen Präsidenten davon zu überzeugen, dieser neuen Strategie zu folgen - zumal beide große Freunde waren. Hariri hatte viele Geschäfte in Frankreich abgewickelt und im Gegenzug die Kampagnen für die Präsidentschaft Chiracs finanziell unterstützt.

Chirac rechtfertigte die Abkühlung des Verhältnisses zu Syrien mit dem fehlenden Willen des Regimes zur Demokratisierung. Die französische Diplomatie näherte sich also in den letzten Jahren immer mehr der israelisch-amerikanischen Achse in der Region an. Dies geschah aus verschiedenen Gründen: Einerseits durch den Druck zionistischer Lobbies, die im Jahre 2002 in den USA eine Kampagne gegen das angeblich «antisemitische Frankreich» lancierten und andererseits wegen der generellen Ablehnung des Islamismus. Dazu kam, dass Arafat starb, der ein wichtiger Ansprechpartner Frankreichs war.

Während Frankreich noch beim Krieg gegen den Irak Distanz gegenüber dem amerikanischen Abenteuer markiert hatte, passte es sich schon im November 2004 bei der Abstimmung im Weltsicherheitsrat den USA an, als es darum ging, die Resolution 1559 zu verabschieden. Diese Resolution forderte den bedingungslosen Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon und die Entwaffnung der Hisbollah. Doch zur selben Zeit wollte Syrien seinen Einfluss im Libanon über Lahoud, den Präsidenten des Landes, vergrössern. Deshalb betrachtete Syrien die Resolution als einen Verrat und einen feindseligen Akt von Frankreich, das bis anhin privilegierte Beziehungen zur Familie El Assad genossen hatte.

Resolutionen mit und ohne Folgen In den Wochen darauf warnte Georges Corm, ein ehemaliger Minister und libanesischer Historiker, in der internationalen Presse davor, dass die Resolution 1559 katastrophale Folgen haben würde, weil sie den syrischen Abzug und die zwangsweise Entwaffnung der Hisbollah forderte, aber keinerlei Gegenleistung anbot. Damit würden die Probleme nicht gelöst, die am Ursprung der Positionen Syriens und der Hisbollah waren. Gut die Hälfte der Libanesen vertritt aber gerade diese Positionen, weil sie davon überzeugt ist, dass Syrien und die Hisbollah die besten Garanten gegen den israelischen Druck darstellen. Ganz offensichtlich war diese Resolution 1559 ungleichgewichtig, wenn man bedenkt, dass es die internationale Gemeinschaft bis dato noch nicht fertig gebracht hat, Israel dazu zu bringen, die vorhergehenden Resolutionen zu erfüllen. Man denke zum Beispiel an die Resolution Nr. 242, welche den Abzug der israelischen Truppen aus den besetzten Gebieten einfordert. Dabei geht es, neben den palästinensischen Gebieten, auch um die Golan-Höhen Syriens und um die libanesischen Scheba-Farmen Die westlichen Medien berichten kaum über die Bedeutung dieses letzten Landstücks an der libanesisch-syrisch-israelischen Grenze. Hier befindet sich eine große Abhörzentrale Israels, die auf die arabischen Nachbarländer ausgerichtet ist. Zur generellen Problematik der Besetzung gesellt sich die Frage der libanesischen Gefangenen in Israel und die der Entminung des Südlibanons. Israel weigert sich bis heute, die Landkarten, auf denen die verminten Gebiete verzeichnet sind, offen zu legen. Die 400.000 Palästinenser, die in den libanesischen Flüchtlingslagern dahinvegetieren zeigen deutlich, dass das Schicksal des Libanon eng an die palästinensiche Problematik geknüpft ist.

Nach dem Attentat auf Hariri im Jahre 2005 spaltete sich der Libanon während der Demonstrationen in zwei Lager auf. Auf der einen Seite standen die pro-amerikanischen Gegner Syriens, die nach dem Beispiel der «orangenen Revolutionen» des Ostens demonstrierten. Sie erreichten den Abzug der syrischen Truppen. Auf der anderen Seite standen die Gegner Israels, welche die Hisbollah in erster Linie als Widerstandsbewegung betrachten. Während dieser Zeit könnten bestimmte politische Attentate, wie dasjenige auf den Journalisten Samir Kassir, als eine Abrechnung Syriens mit Frank-reich gedeutet werden.

In diesem Jahr 2005 bemerkte Alain Gresh, dass die Medien ausführlich über die mutmaßliche Rolle der syrischen und libanesischen Geheimdienste berichteten, während jedoch die Rolle Hariris Tabu blieb - dies umso mehr, weil seine «Familie» immer noch die Zügel der Macht in der Hand hielt. Die politische und journalistische Elite des Westens hatte ihr Lager gewählt, ohne den Versuch zu unternehmen, das andere zu verstehen.

Die Eitelkeit der Stärke

In diesen Kontext fiel der Angriff Israels auf den Libanon im Juli von diesem Jahr. Es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die vorausgegangene Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah den Israelis nur den Vorwand für den Angriff lieferte. Die neue Regierung Israels unter Ehud Olmert wollte endlich Schluss machen mit der Hisbollah - egal, ob die libanesische Zivilbevölkerung den Preis dafür zu zahlen hätte. Er konnte dabei auf die Unterstützung der USA zählen, welche die Offensive befürwortete mit den Zielen, den Libanon zum Gleichschritt zu zwingen, die atomaren Ambitionen des Irans zu zähmen und dessen Unterstützung für die Hisbollah abzuschneiden. Gleichzeitig würde der neue Krieg vom Chaos im besetzten Irak ablenken.

Doch die supermoderne israelische Armee machte einen Fehler, den Kolonialarmeen im Allgemeinen begehen. Sie verübte Kriegsverbrechen, ohne es geschafft zu haben, die islamistische Guerilla auszuschalten. Die israelischen Militärs haben nicht nur die Erfahrung, die Ausrüstung und die Verwurzelung in der Bevölkerung der Hisbollah unterschätzt, sie haben durch ihr brutales Vorgehen vielmehr die Popularität des «islamistischen Widerstands» gefördert. Das Drama dieses Krieges hat ein Nationalgefühl und Gesten der Solidarität hervorgebracht, welche die Gräben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und zwischen den gewohnten politischen Strömungen zuschütten. Natürlich gibt es keinerlei Garantie für die Dauer dieses Elans, und es ist fraglich, ob er es schaffen kann, die nötigen sozialen Veränderungen im Land herbeizuführen. Doch sicherlich wird zwischen den Menschen des Libanon etwas zurückbleiben, das man jetzt noch nicht genau erfassen kann.

Es ist jedoch auch die Gefahr nicht ausgeschlossen, dass die Hisbollah, ausgestattet mit neuem Prestige, versucht sein könnte, von ihrer Stärke zu profitieren. Dabei muss man jedoch festhalten, dass die Hisbollah gegenüber den anderen Libanesen nie eine Aggressivität an den Tag gelegt hat, wie es andere Milizen in den letzten Jahrzehnten taten. Offensichtlich hat die Hisbollah ihren missionarischen Eifer zu Gunsten einer pragmatischen Linie zurückgestellt. Die Angriffe auf israelische Zivilisten passen jedoch nicht in dieses Schema, und sie werfen Fragen zum Selbstverständnis einer Organisation auf, die sich als Widerstandsbewegung definiert.

Dieser Krieg ist einmal mehr eine Demonstration der Eitelkeit der Stärke. Die Israelis und die Amerikaner müssten erkennen, dass sie niemals eine dauerhafte Ordnung in der Region schaffen können, ohne mit allen Protagonisten ernsthafte Verhandlungen zu führen. In diesem Sinn bleibt der Libanon eine Wegkreuzung der sozialen, kulturellen und geopolitischen Gegensätze zwischen Orient und Okzident. Deshalb geht es uns alle etwas an, was dort passiert.

Alex Robin

Radio Zinzine,

Frankreich