BELGIEN: Der zerschnittene Zaun von Keelbeek

de Erik D’haese, 28 juil. 2015, publié à Archipel 239

Auf einer Brachfläche bei Brüssel soll ein riesiges Gefängnis gebaut werden. Manche sagen, es sei nur eine gewöhnliche Brachfläche, zu nichts zu gebrauchen und die Gefängnisse sind seit eh und je überfüllt. Sich jedoch für gemeinnütziges Land einzusetzen und sich gegen den Bau eines weiteren Gefängnisses zu wehren entspringt für mich derselben Logik.

Zäune und Gitter
An einem zerschnittenen und zauberhaft verformten Zaun entlang entdecke ich die Rue du Keelbeek* wieder. Versteckt zwischen der Peripherie von Brüssel, der Infrastruktur von Gleisen und einer Myriade von verschiedenen Unternehmen, führt ein unbefestigter Weg durch eine kleine, grüne Oase, letztes Relikt eines längst vergangenen Landlebens. Seit Jahrhunderten verband dieser die Dörfer Haren und Diegem. Hier können Kinder Verstecken spielen, Freunde sich treffen und Hunde ohne Leine laufen. Wir sind einige Kilometer vom Sitz der NATO entfernt und alle paar Minuten fliegt ein Flugzeug über unsere Köpfe hinweg und beschattet uns für einen Moment. Auf diesem 18 ha grossen, idyllischen Gebiet soll ein Gefängnis mit 1.200 Plätzen gebaut werden, das grösste des Königreiches. Ein aus 18 Unternehmen bestehendes internationales Konsortium wird von den 2 Milliarden Euro profitieren, nach dem DBFM-Modell (Entwicklung, Bau, Finanzierung und Unterhalt). Es handelt sich um die letzte Etappe vor der totalen Privatisierung des Strafvollzuges. Sobald das Einsperren zu einem Markt wird, ist die Tür weit offen für den «American way of life». Die Kolosse der privaten Gefängnisindustrie investieren jährlich Millionen in ihr Lobbying. Die Corrections Corporation of America schreibt in ihrem Jahresbericht von 2010, dass «jegliche Gesetzesänderung in Bezug auf Drogen […] und illegale Immigration direkten Einfluss auf die Zahl der Verhaftungen und Verurteilungen haben kann und so potenziell die Zahl der Häftlinge sinkt.» Eine Gefahr für das Geschäft. Die Gefangenenquote der USA übersteigt bei weitem die von anderen Ländern. Mit dem «Masterplan Gefängnis» zeigt Belgien, dass es das Wegsperren für die beste aller Lösungen hält. Der Rechnungshof ermittelte, dass die Wahl des DBFM-Modells für den Bau gewisser Gefängnisse, die im Masterplan vorgesehen waren, ohne jegliche vorherige Evaluation getroffen wurde, obwohl eine solche eingefordert worden war. Dabei handelt es sich wohl um eine Aktion der berühmten «unsichtbaren Hand des Marktes»?
Wegsperren als Lösung?
Seit Jahren berichten das Komitee gegen Folter der UNO, das Komitee zur Prävention von Folter (CPT) der EU und viele andere Kommissionen und NROs wie die Menschenrechtsliga oder das Observatoire International des Prisons einstimmig darüber. Alle denunzieren sie die Überbelegung und die daraus hervorgehenden verschlechterten Lebensbedingungen. 2010 schrieb das CPT in einem Bericht an die belgische Regierung: «Die einfache Erhöhung der Gefängnisplätze ist, für sich genommen, nicht geeignet um eine Überbelegung zu beseitigen. Im Gegenteil, in vielen Ländern, unter anderem in Belgien, konnte beobachtet werden, dass die Zahl der Insass_innen tendenziell mit der Zahl der Gefängnisplätze steigt». Ein Markt ohne Limit, wie es die USA zeigen. Die Mehrzahl der gefangenen Personen sind wegen Eigentumsdelikten verurteilt, das heisst, Personen ohne Ausbildung, Immigrant_innen ohne einen guten Anwalt, also vor allem Arme. Denn seit 2012 können Reiche sogar bei schweren Strafen (von 20 Jahren Gefängnis) und bei Schlägerei- und Verletzungsdelikten bei der Staatsanwaltschaft mit Geld die Haft vermeiden. Der Staat lässt sich von den Reichen die Gefängnisse für die Armen finanzieren. Die Unwirksamkeit von Gefängnissen als soziale Lösung ist hinreichend bewiesen. Selbst ohne Foucault gelesen zu haben, ist es ein Leichtes zu verstehen, dass diese nicht dazu dienlich sind, Konflikte zu lösen oder über sie zu reflektieren. Gefängnisse schliessen Menschen aus und isolieren sie von all dem und all denen, die sie begeistern und zu etwas Positivem anregen könnten. Sie bringen den Gefangenen bei, in einem durch und durch hierarchisierten Alltag den Wärter_innen nach dem Munde zu reden. Sie erleben einen kriminogenen Alltag, der von Erniedrigung, Unterwerfung und Domination geprägt ist und oft zu Rückfälligkeit führt.
Ernährender Widerstand
Ein kleines Zicklein kommt neugierig auf mich zu. Es gehört zu einer Gruppe von rund zehn Menschen, die das Gelände besetzt halten. Am 17. April 2014, dem internationalen Tag der Landlosen, kamen 400 Personen, um einen grossen Kartoffelacker anzulegen. Nach der Ernte haben sich einige von ihnen dazu entschieden zu bleiben, um diese grüne Insel zu retten. Bis heute ernährt ein Teil der Kartoffelernte die Besetzer_innen der ZAD (zone-à-défendre). Sie haben ein Zirkuszelt und eine grosse Jurte aufgestellt, die als Schlafraum dient. Die Besetzer_innen haben aus zusammengesammelten Materialien eine Küche, einen Salon, eine Bühne, Wohnwägen, Zelte, Baumhäuser und einen Brotbackofen auf dem Gelände installiert. Ein grosser Gemüsegarten und ein Lerngarten sind angelegt; es gibt Ziegen und Hühner. Mir wird erzählt: «Zweimal schon sind Baumaschinen gekommen, obwohl die Baugenehmigung noch nicht öffentlich gezeigt wurde und die Bürgeranhörung noch nicht einmal begonnen hat.» Das erste Mal hat am 19. Februar 2015 ein Unternehmen, ohne die nötigen Papiere, die Hälfte des Geländes eingezäunt und hochstämmige Bäume gefällt. Das zweite Mal konnte ein Eingriff durch die vor Ort lebenden Menschen verhindert werden. Sie legten sich vor die Bagger.
Der Alltag der Bewohner_in-nen wird von Arbeiten wie dem Bauen und dem Unterhalt des Gartens, von Konzerten und Diskussionen bestimmt und machen die ZAD von Keelbeek zu einem lebendigen Ort. Keelbeek produziert nun im zweiten Jahr Kartoffeln und lässt von einer Zukunft träumen. Das Projekt eines offenen Hofes wurde von mehreren Vereinen vorgeschlagen. Und die Überbelegung in den Gefängnissen? Sie ist eine Frage der Wahl. In Schweden, zum Beispiel, sind die Gefängnisse dabei, sich zu leeren.
Einzäunen = Einsperren
Der zerschnittene Zaun von Keelbeek zieht die bösen Blicke von guten Bürger_innen auf sich; er steht gegen das Gesetz des Anstandes, es riecht nach Anarchie. Diejenigen hingegen, die grosse Gebäude und Prestigeobjekte bauen lassen sind ihre grossen Held_innen. In Märchen sind jedoch meist diejenigen die Held_innen, die es schaffen, die Gitterstäbe zu verbiegen und sich gegen das wahrhaft Böse zu stellen. Am besten zusammenfassen lässt sich die Beziehung zwischen dem Einzäunen von Land und Wegsperren von Menschen anhand der Geschichte vom Beginn der Moderne - derjenigen Moderne, in der die Krankheit der Habgier die englischen Kapitalisten heimsuchte und sie dazu veranlasste, schonungslos die bis dahin gemeinsam verwalteten und für die Subsistenzwirtschaft der Bauern notwendigen Allmenden einzuzäunen. Für die Masse der dadurch enteigneten Bäuerinnen und Bauern war die nächste Etappe die Kriminalisierung von Armut und die Bestrafung des Vagabundierens. Anschliessend schossen Gefängnisse wie Pilze aus dem Boden. In der heutigen Zeit sind es die Enteigneten und Vagabunden die nicht mehr dem verrückten Wettrennen folgen wollen; sie sind es, die entgleisen oder nach extremen Lösungen suchen. Es sind der Dieb, die Diebin, der Imigrant, die Immigrantin. Sie sind es, die heute die Gefängnisse füllen. Während ich mich wieder auf den Weg mache, begleitet mich das Bild des zerschnittenen Zaunes. Es lässt mich an die unzähligen Zäune, Barrieren und Mauern denken, die seit dem Beginn des Kapitalismus von unzähligen Widerständler_innen zerschnitten, zerstört oder sabotiert wurden. Und wenn sich die Besetzer_innen von Keelbeek in dieser Tradition wieder finden, dann nicht, weil sie fürchten, ihre Autonomie und ihre Basis der Subsistenzwirtschaft zu verlieren. Denn traurigerweise sind diese seit langem von einem Markt erobert, in dem sich jede und jeder zu verkaufen hat, um sich dann in die einzelnen Bereiche des Lebens wieder einkaufen zu können. Wenn Keelbeek es heute schafft, Anwohner_innen, Aktivist_innen, Bäuerinnen und Bauern, Vereine, lokale Initiativen und Autoritäten zu vereinen, dann, weil dieser Ort die letzte Hoffnung birgt, eine längst zerstörte Autonomie wieder zu erlangen. Und die makabere Alternative könnte nicht symbolträchtiger sein als das auf dem Terrain geplante Gefängnis - ein hoher, die Freiheit bedrohender, staatlich-kapitalistischer Tempel, in dem die heute Mächtigen die Bescheidensten und Unglücklichsten nach hochtechnisierten Methoden einsperren wollen.

* Siehe Archipel Nr. 234, Februar 2015