BELGIEN : Kein Verbrechen, keine Schuldigen: Fehlfunktionen an der Macht *

de Kollektiv gegen Ausschaffungen, Brüssel, 8 déc. 2003, publié à Archipel 110

Während sich der Prozess gegen die drei Polizi-sten, welche die junge nigerianische Sans-Papiers Semira Adamu töteten, sich dem Ende nähert und die Verteidigung sich auf ihren Einsatz vorbereitet, halten wir es für notwendig, auf die wesentlichen Aspekte dieses Prozesses einzugehen, das Stillschweigen und die Widersprüche aufzuzeigen.

Tatsächlich hat es den Anschein, dass hartnäckig versucht wird, die wirkliche Debatte zu verschleiern und auf einer Ebene auszutragen, die nur sehr wenig mit dem Verbrechen zu tun hat, über das hier verhandelt wird. Angesichts der Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten, Lügen und Widersprüchen, je nach Anhörung, können wir uns nur fragen, ob dieser Prozess dem ethischen Konkurs des ganzen Systems gewidmet ist?

Es begann bereits mit dem ersten Prozesstag. Wie wäre sonst das offenkundige "Auseinanderdriften" zu erklären zwischen der strengen Anklage des Staatsanwaltes und der geforderten "Nichtbestrafung"? Er erinnerte, dass die Polizisten, die übrigens niemals Bedauern oder Gewissensbisse zeigten, gelogen und in breitem Maße ihre Macht missbraucht haben. Laut Anwalt haben sie keine Verurteilung verdient, weil sie letztendlich nur den Befehlen Folge geleistet haben. Und was soll´s, wenn diese schwachsinnig oder mörderisch waren.

Andererseits gab es eine Filmvorführung. Das Filmen der Ausschaffungen, versicherte man uns, besteht aus einer ständigen Kontrolle der Polizisten und dient dem Schutz der Asylbewerber, eventuelle Gewaltbeschuldigungen überprüfen zu können. Nun zeigte man uns aber ein Video, bei dem ganz zufällig die beiden Schlüsselszenen fehlten: Diejenige, in der Semira der Aufsässigkeit beschuldigt wird und jene, in der die Polizisten versuchen, sie wiederzubeleben. Der Polizist, der filmte (er wird nicht strafrechtlich verfolgt), gab als Grund fehlende Zeit oder Platzmangel an... Will man uns für total dumm verkaufen?

Herman Boon, Geistlicher von Zaventem, kann mit gutem Recht als einer der Ideologen dieses Prozesses bezeichnet werden. Er wiederholte wie vor fünf Jahren, dass "die ganze Gewalt von außen kam", hervorgerufen durch die Aktionen und Demonstrationen des Kollektivs gegen Ausschaffungen. Letzten Endes sei Semiras Tod ihr eigenes Verschulden und das unsrige.

Es genügt nicht zu sagen, dass Herr Boon ein gemeiner Kerl ist. Man muss auch betonen, dass diese Art von Argumenten darauf abzielt, die Polizisten reinzuwaschen und nicht nur diesen Mord, sondern alle begangenen und zukünftigen Polizeiübergriffe zu rechtfertigen.

Doch wie soll man das juristische und medienwirksame Vorgehen in diesem Prozess beurteilen, wenn man sich in aller Ausführlichkeit der Zeugenaussage Boons widmet, während man über diejenige des Adjutanten Cerpentiers Stillschweigen wahrt. Cerpentier war als Beobachter im Flugzeug, bezeugte die Gewalt der Polizisten und erklärte zudem, dass die Polizisten zu keinem Moment auch nur das Geringste für Semira Adamu unternommen hätten. Die Offiziere der Gendarmerie und die "Experten", welche die "Anwendung des Kopfkissens" nach wie vor gut finden, wechselten sich in den Anhörungen ab und überboten einander bezüglich Feigheit und Unehrlichkeit. Ihre Erklärungen erreichten ein Niveau, bei dem sich Inkompetenz, blinde Gewalt und Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen miteinander vermischten. Alles würde sich auf das Problem der Ausbildung und Mittel reduzieren... Doch wie viele Expertenkommissionen sind denn notwendig, um zu begreifen, dass die Kopfkissentechnik gefährlich ist und einer indirekten Form der Folter gleichkommt?! Wie viele Lehrstunden braucht es, um zu entdecken, dass drei Polizisten, die sich hartnäckig auf eine zusammengekauerte, in Handschellen gefesselte Person stürzen und deren Gesicht länger als zehn Minuten in ein Kissen drücken, im Begriff sind, ein Verbrechen zu begehen?

Doch es ist der gesamte Prozess, der auf einem grundlegenden Widerspruch beruht. Während der Untersuchung hat man im ersten Anlauf die Politiker und die oberen Instanzen der Polizei aus der Verantwortlichkeit entlassen, indem entschieden wurde, keine Anklage gegen sie zu erheben und man die Schuld am Tode von Semira Adamu auf einige Ausführende reduzierte. Heute wird das Gegenteil praktiziert: Es vergeht keine Anhörung, in der nicht zu vernehmen ist, dass die Verantwortlichkeit "weiter oben läge" und auf die Politiker verwiesen wird. Es ist ein leichtes Spiel, jetzt derart auf die Verantwortung dieser Männer zu pochen, denn die Beschuldigungen werden keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen, da man ihnen Immunität ebenso wie Straffreiheit auf einem Silbertablett offerierte..., das nun mit Blut befleckt ist.

Man beschuldigt abwechselnd die Männer und das System, um weder das System noch die Männer abzuurteilen. Man teilt und verwässert die Verantwortlichkeit derartig gekonnt, dass sie in einem unverständlichen Gebinde von Anordnungen und Institutionen verschwindet und am Ende kein Verbrechen, kein Schuldiger, keine Erinnerung, keine Gerechtigkeit übrig bleiben. Nur ein unglücklicher Unfall, ein tragisches Fehlfunktionieren.

Natürlich, vom allgemeinen Standpunkt aus gesehen, besteht der Widerspruch, der diesen Prozess aushöhlt, zwischen dem humanistischen Diskurs um die Menschenrechte und der Praxis von Ausschaffungen, was eine Verletzung dieser Rechte und eine Negierung dieser Prinzipien darstellt. Aus diesem Grund muss man den Prozess in seinem gesamten Kontext betrachten. Semira Adamu ist 1998 zur Symbolfigur geworden: zum Inbegriff der Existenz und des Kampfes der Sans-Papiers. Durch sie war es der Kampf der Asylbewerber, der Widerstand all derjenigen, die die Ausschaffungen ablehnen, die der Staat unbedingt zerschlagen wollte. Man musste ausschaffen, "koste es was es wolle". Und es geschah während des sechsten Abschiebungsversuchs, der Versuch der "letzten Chance" für den Preis ihres Lebens.

Deshalb muss die Frage auf diesem Niveau gestellt werden. Vor fünf Jahren wollte der Staat eine nachdrückliche Botschaft überbringen: Es gäbe nur die Alternativen Abschiebung oder Tod und es wäre sinnlos, gar gefährlich zu protestieren und sich aufzulehnen. Was sich heute beim Prozess abspielt, ist ein klares Signal an die Vertreter der Ordnungsmacht, um jegliche Gewaltanwendung zu legitimieren, indem man ihnen eine Art "Erlaubnis zum legalen Töten" gibt.

Dieser Prozess ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Er wirft ein hartes Licht nicht nur auf die Ausschaffungspolitik, die heute immer noch angewandt wird, sondern auch auf die Funktionsweise unserer Institutionen. Vor fünf Jahren wurde Semira Adamu getötet. Wir werden niemals diese Bilder vergessen, auf denen man sie sieht, im Flugzeug, in Handschellen zwischen zwei Polizisten, die sie nicht kennen, einige Minuten singend bevor man sie auf solch grausame Weise tötete. Fünf Jahre später sitzen etwa zwanzig Aktivisten, die sich den Ausschaffungen widersetzten und nur fünf Polizisten auf der Anklagebank... gemäß dem alten Prinzip: Besser einem Mordbefehl gehorchen als sich gegen eine ungerechte Politik aufzulehnen. Die anderen Polizisten und ihre Vorgesetzten, die Führung der Ex-Sabena, welche die Polizisten während der Ausschaffung bezahlte, das Ausländeramt und die verantwortlichen Politiker – vor allem der ehemalige Innenminister Louis Toback sowie Johan Vande Lanotte, der 1996 erneut die Anwendung der Kissentechnik gestattete – werden weder aussagen müssen noch verurteilt.

Was kann man von diesem Prozess noch erwarten? Welche Legitimität hat eine Institution, ein Verbrechen zu verurteilen, das von einem System begangen wurde, an dem sie umfänglich teilhat? Während der fünf Jahre dauernden Untersuchung und des Prozesses glänzte der Gerechtigkeitswillen durch Abwesenheit.

Reduziert sich die Macht der Justiz immer nur auf die Gerechtigkeit der Macht?

Kollektiv gegen

Ausschaffungen, Brüssel

*Pressekommuniqué vom 14.10.03

Mehr Informationen zum Semira-ProzeSS auf:

http://ccle.collectifs.net