BRASIL: Über Ränder und Zäune

de Thomas Kesselring;Universität Bern, 17 mars 2006, publié à Archipel 135

Die Begegnung mit dem bleichen Jungen im Stadtzentrum von Cuiabá (Brasilien) war flüchtig, bleibt mir aber unvergesslich: Dona Dineva, eine resolute Pädagogin, die ein Betreuungsnetz für Straßenkinder aufgezogen hat, nimmt mich auf eine ihrer Runden durch die Hafenzone der Hauptstadt des Mato Grosso mit.

Der etwa zwölfjährige Junge, der neben uns auftaucht, hinkt jämmerlich, und auf die Frage, was mit seinem Bein los sei, antwortet er knapp und wortkarg: Da ist eine Kugel drin, vom Schuss eines Polizisten. Wegen Drogen oder Leimschnüffeln. Auf die Frage, ob er im Spital gewesen sei, haucht er fast unhörbar „ja“ und schleppt sich, sichtlich mit Schmerzen, hinter die nächste Litfasssäule. Er ist total verängstigt und nicht zur Fortsetzung des Gesprächs zu bewegen. „Im Spital war er sicher nicht“, kommentiert die Pädagogin. „Und Aids hat er auch.“ Als ich mich ein Jahr später nach dem Schicksal des Jungen erkundige, ist er gestorben.

Kein Einzelfall! Und das in Brasilien, einem Land, von dem mir damals ein freundlicher Herr aus São Paulo sagte, das Land sei reich, überall wüchsen saftige, tropische Früchte; wenn jemand hier arm sei, dann sei er selber schuld, aber Faulpelze gebe es immer.

Inzwischen begegnen sie uns auch in der privilegierten Schweiz: jene leicht verwahrlosten Männer, die am Rand belebter Strassen kauern, die Handfläche nach oben, mit Münzen im Hut. Die jungen Damen, die auf die Passanten zueilen und in gebrochenem Deutsch um Geld bitten. Die Jugendlichen mit niedergeschlagenem Blick, die in astreinem Dialekt erklären, sie seien ohne Job und brauchten für die Notschlafstelle einen Obolus...

Randständig nennt man die Personen, die schlecht in die Gesellschaft integriert sind - meist deswegen, weil sie auch wirtschaftlich eine Randexistenz führen. Ist Marginalisierung ein modernes Phänomen? Nicht nur - aber in den letzten Jahrzehnten hat es sich dramatisch zugespitzt.

Während Hunderttausenden von Jahren haben die Vorfahren unserer Vorfahren als Jäger und Sammler gelebt. In mobilen, locker gefügten Horden, die kaum sesshaft waren. Gab es Randständige? Wohl kaum - wenn man davon absieht, dass bei Wanderungen altersschwache Mitglieder zurückgelassen, dem Überleben der Gruppe geopfert wurden. Nach Beginn der Sesshaftigkeit bildeten sich nicht sofort größere Besitz- Rang-, Machtunterschiede heraus. Dies geschah erst, als die Erzeugung landwirtschaftlicher Überschüsse eine systematische Arbeitsteilung mit Spezialisierung ermöglichte. Erst von da an nahm die Gesellschaft hierarchische Züge an. Es begann die Ära der Verteilungswirtschaft, des zentralistischen Tempelkults, der Kopfarbeit. Die Metallgießerei ermöglichte das Schmieden von Waffen. Krieg und Sklaverei wurden zu festen Institutionen. Je mehr die Kluft zwischen Arm und Reich, Herrschaft und Knechtschaft, Machtballung und Machtlosigkeit zunahm, desto eher kam es zu Verelendung und Marginalisierung. Aus Dörfern wurden Städte: Zentren mit ihren Randregionen, Märkte mit ihren Einzugsgebieten. Parallel zum geographischen bildete sich ein soziales Gefälle: zwischen Herren und Untertanen, Adel und Volk, Priester und Laien, Mann und Frau. Schließlich kam noch eine zweite Art von Gefälle dazu: zwischen Mutterland und Kolonie, zwischen Zivilisierten und „Wilden“, zwischen „entwickelten“ und „unterentwickelten“ Gesellschaften.

Die Vielfalt der schiefen Ebenen verdichtete sich in dem Maße, als Kommunikation, Transport und Verkehr den Globus als ganzen umspannten. Trotz der technologischen Quantensprünge in Luftfahrt, Computerwesen und Internet hat die Hälfte aller Menschen noch nie ein Telefon benutzt, geschweige denn einen Computer. Die überwiegende Mehrheit lebt ohne Zugang zum Internet und zu Flugreisen. Dank den modernen Kommunikationsmitteln gelingt es dagegen den Machtstrukturen, sich netzartig über den Erdball auszubreiten, ohne ihren zentralistischen Charakter zu verlieren. Die meisten multinationalen Konzerne behalten ihre Kommandozentren auf einer der Wohlstandsinseln. Über die Filialen in den globalen Peripherien führen sie Gewinne an die Zentren ab. Die Einführung moderner Apparate in den Peripherieländern drängen Tausende von Arbeitern an den Rand der wirtschaftlichen Existenz. Produktionsstätten und Arbeitsplätze werden immer rascher zwischen den Kontinenten hin- und her geschoben. Kein Land ist vor den Folgen gefeit. Jobs, die in Tschechien, Indien, China neu entstehen, gehen andernorts verloren. Auch in der Schweiz. Jede Betriebsverlagerung erhöht regional den Druck zur Marginalisierung.

Neue Grenzen

Alte Grenzen verlieren an Bedeutung - Landesgrenzen zum Beispiel. Dafür entstehen neue, sichtbare und unsichtbare. In vielen Städten der Welt verbarrikadieren sich die Reichen hinter hohen Mauern gegen die Armen. Europa baut sich zur „Festung“ um. Viele der Menschen, die zu uns aufbrechen, bezahlen ihre Reise mit dem Leben. Wer es schafft und nicht sofort zurückgeschickt wird, führt innerhalb der Festung eine Randexistenz. Und zieht den Verdacht auf sich, Einheimische an den Rand zu drängen.

Es heißt, wir leben in einem globalen Dorf. Aber es ist ein Dorf mit vielen exklusiven Clubs und vielen Formen sozialer Exklusion. „Ein unsichtbarer Zaun“ , schreibt die kanadische Journalistin Naomi Klein, „legt sich um die Schulen in Sambia, wenn die Regierung auf Anraten der Weltbank eine ‚Nutzungsgebühr‘ erhebt, die Millionen Menschen vom Schulbesuch ausschließt. Ein ebenfalls unsichtbarer Zaun schiebt sich zwischen die Bewohner von Soweto in Südafrika und sauberes Wasser, wenn die Wasserpreise wegen der Privatisierung der Wasserversorgung explodieren und Bewohner des Townships gezwungen sind, schmutziges Wasser zu verwenden. Und es legt sich ein Zaun um den demokratischen Gedanken selbst, wenn der Internationale Währungsfonds der argentinischen Regierung mitteilt, dass sie keinen neuen Kredit erhält, wenn sie nicht die Sozialausgaben weiter kürzt, weitere Ressourcen privatisiert und die Unterstützung ihrer heimischen Industrie einstellt.“

Randständigkeit hat viele Gesichter. Zu älteren Formen gesellen sich jüngere. Die Dalits in Indien gibt es schon lange, die ausgezehrten teppichknüpfenden Kinder noch nicht. Die meisten Formen der Randständigkeit sind rezent: In Afrika die Kindersoldaten. Die Heere von Flüchtlingen. Die Malaria-, Bilharziose-, Dengue-, Aidspatienten. In Lateinamerika die Millionen landloser Bauern. Die Wanderarbeiter auf ihrer ständigen Jobsuche. Die alleinerziehenden Mütter in den Slums. Die Insassen überfüllter Gefängnisse. Die um die Erhaltung ihrer Territorien kämpfenden Indios. In den Metropolen von St.Petersburg bis Bogotá und La Paz die mafiosen Gangs. Die Straßenkinder. Die Sexsklavinnen. In der Schweiz die Obdachlosen. Die Drogenabhängigen. Die Sans Papiers .

Und die Rolle der Religion? - Als in grauer Vorzeit das Tempelwesen entstand, diente es der Legitimation der Machtverhältnisse. In Ägypten, Babylonien, Indien, Mexiko, Peru - überall gehörten die Priester zur obersten Gesellschaftsschicht. Um so überraschender deshalb, dass sich Gott Jahwe ein unterdrücktes Volk auswählt, es durch die Wüste zur Freiheit führt und sich fortan der Stimme kritischer Außenseiter bedient, um Machtmissbräuche aller Art zu denunzieren. Noch radikaler stellt sich Christus auf die Seite der sozial Schwachen. Seine Botschaft breitet sich rasch nach Westen und Osten aus, was darauf schließen lässt, dass schon vor 2000 Jahren die Randständigen die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Allerdings wandert Petrus dann just ins Machtzentrum der damaligen Welt. Seine Nachfolger umgeben sich paradoxerweise mit den für ein solches Machtzentrum typischen, steil hierarchischen Strukturen und tradieren diese bis zum heutigen Tag.

Dr. Thomas Kesselring ist Dozent für Philosophie. Er hat folgendes Buch veröffentlicht:

Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. München: C.H.Beck 2003.