Buchempfehlung

de John Berger, Herbst 2016, 4 mars 2017, publié à Archipel 256

Für sein Buch «Der siebte Mensch», folgte John Berger, gemeinsam mit dem Photographen Jean Mohr, Menschen aus der Türkei, Griechenland, Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien auf ihrem Weg ins reiche Westeuropa.

In Text und Bild hielten sie die Situation der migrierenden Arbeiter fest. Dieses «Familienalbum», wie J. Berger es selber bezeichnet, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Es ist ein zeitloses Zeitdokument, das sich durch seine schriftstellerische und photographische Sensibilität auszeichnet.
Hier Passagen aus seinem Vorwort zur Neuausgabe:
Manchmal geschieht es, das ein Buch, im Gegensatz zu seinem Autor, mit den Jahren jünger wird. Genau das scheint mir mit «Der siebte Mensch» passiert zu sein. Warum, möchte ich gerne erklären.
In vielerlei Hinsicht ist dass Buch veraltet. (...) Fabriken migrieren inzwischen genauso wie Arbeiter. Heute ist es genauso leicht, eine Fabrik dort zu bauen, wo der Lohn billig ist, wie billige Arbeitskräfte zu importieren. Die Armen sind noch ärmer. Niemals zuvor hat es eine grössere Konzentration von ökonomischer Macht gegeben. Ihre Agenten sind die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation. Nichts von dem findet sich in diesem Buch. (...) Jean Mohr und ich verstanden es als unsere Aufgabe, aufzuzeigen, wie sehr in den sechziger Jahren die Ökonomie der reichsten europäischen Länder von Arbeitskräften aus den ärmsten Nationen abhing. Die Stossrichtung dieses Buches, wie wir es verstanden, war politisch. Wir hofften eine Debatte auszulösen und so, unter anderem, die Solidarität innerhalb der internationalen Arbeiterschaft zu stärken. (...)
Das Buch wurde ins Türkische, Griechische, Arabische, Portugiesische, Spanische und ins Punjabi übersetzt. Es wurde so von denen gelesen, von denen es handelte.
Manchmal begegne ich immer noch Lesern, die erzählen, welche Wirkung das Buch auf sie hatte, als es ihnen zum ersten Mal in die Hände fiel: in den Slums von Istanbul, in einem griechischen Hafen, in den Shantytowns von Madrid, Damaskus oder Bombay. An all diesen Orten hat das Buch seine Adressaten gefunden und war nicht länger eine soziologische (oder vor allem politische) Abhandlung, sondern ein kleines Buch voller Lebensgeschichten, eine Folge gelebter Momente – so wie ein Familienalbum. (...)
Jetzt wird «Der siebte Mensch» wieder aufgelegt und wird neue Leser finden. Unter ihnen werden junge Migranten sein, die noch nicht einmal geboren waren, als das Buch zum ersten Mal erschien. Sie werden schnell erkennen, was sich verändert hat und was gleich geblieben ist. Und sie werden den Heldenmut, die Selbstachtung und die Verzweiflung der Protagonisten erkennen, die ihre Eltern gewesen sind. Und dieses Wiedererkennen wird dabei helfen, dass in vielen Augenblicken, nicht nur im Erschrecken, ihr unbezähmbarer Mut wächst.