DEMOGRAPHIE: Stirbt die Schweiz aus. Zweiter Teil

de Prof. Dr. Othmar Tönz*(Luzern ), 10 juil. 2006, publié à Archipel 139

Wir erleben in den letzten Jahren einen ganz klaren Immigrationsüberschuss von jährlich 40‚000 bis 50‚000 Menschen. Tatsächlich hat die Schweiz – ausser den beiden Kleinstaaten Luxemburg und Liechtenstein – weitaus den höchsten Ausländeranteil, mehr als doppelt so viele wie Deutschland oder Österreich

Wollen wir nicht schrumpfen und vergreisen, sind wir auf diese exogene Transfusion je länger je mehr angewiesen; obwohl das zur Folge hat, dass ohne Einbürgerungen schon gegen Ende des Jahrhunderts die Ausländer die Majorität darstellen würden, es sei denn, wir produzierten selber mehr Kinder.

Auch in den vergangenen Jahrhunderten haben viele Einwanderer unser Land bevölkert und menschlich und materiell bereichert. Sie haben auch das medizinische Spektrum unserer Alltagsarbeit wohltuend erweitert und bunter gemacht. Eine durchaus wünschenswerte Fluktuation; zur „Auffrischung des Blutes“, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Heute stehen wir aber doch vor quantitativ und qualitativ anderen Dimensionen. Die früheren Zuwanderer stammten vorwiegend aus Nachbarländern mit den gleichen oder verwandten kulturellen, sprachlichen und religiösen Voraussetzungen. Da auch diese Länder heute ein Geburtenmanko aufweisen, werden Immigranten zukünftig mehr und mehr aus fremden, aussereuropäischen Kulturkreisen zu uns stossen, vor allem aus Ländern mit hohem Wachstumsdruck, besonders aus Afrika, was die Probleme der Integration nicht unbedingt erleichtern wird. Jedenfalls blauäugig, wer dem zu erwartenden Kohabitationsprozess ohne jede Skepsis entgegenblickte. Dass die eigentliche Kohabitation allerdings funktioniert, zeigt eine Zusammenstellung der Heiraten zwischen Schweizern und Ausländerinnen und vice versa. Nur noch 51% aller Eheschliessungen in der Schweiz erfolgen unter Schweizer Bürgern, und die „Mischehen“ nehmen kontinuierlich zu; schon in 10 Jahren dürften sie häufiger sein als Heiraten unter Einheimischen. Natürlich wird Europa und auch die Schweiz trotzdem weiterleben, wenn auch ohne „Tellensöhne“ und mit vorwiegend dunklerer Hautfarbe. Anlässlich seines 300. Todestages wird man im Jahr 2077 Albrecht von Hallers Verse zitieren: „Sag an Helvetien, Du Heldenvaterland, wie ist Dein altes Volk dem jetzigen verwandt?“

Die Geburtenzahl auf dem ganzen Planeten ist rückläufig. Trotzdem machen wir uns Sorgen um eine eventuelle Überbevölkerung. Nicht zu Unrecht, denn die Tragkraft von Mutter Erde wird tatsächlich aufs äusserste strapaziert, ihre Energiereserven werden – besonders von den Industrienationen – brutal ausgeschöpft. Wenn wir aber von der realistischen Annahme ausgehen, dass die globale Fertilität innerhalb der nächsten 50 Jahre auch in der dritten Welt deutlich unter den Erhaltungsbedarf zurückfallen wird1, so würden wir bereits 2080 die Klimax mit rund 9 Milliarden erreichen und von da an würde die Gattung Homo sapiens ungebremst zusammenschrumpfen. Mit einer Kinderzahl von 1,5 wären wir im Jahr 2400, also nach etwa 14 Generationen, in der Nähe des Nullpunktes2. Mit einer wohl realistischeren Einschätzung von 1,75 Kindern erreichten wir nach dieser Zeit wieder den Stand von 1800, nämlich 1 Milliarde. Es darf gehofft werden, dass ein kollektiver Überlebenstrieb die Menschheit doch schon vorher wieder aus ihrem Winterschlaf erwecken werde.

Wie reagiert unsere Gesellschaft** auf diese Situation, insbesondere in der Schweiz? Für die einen ist es eine Katastrophe, 1200 Jahre abendländischer Kultur im Eimer, das edle Schweizerblut kampflos schlafend in der Heimaterde versickert, die andern Völkern und Rassen zum Nährboden wird. Für andere ist es ein unausweichlicher geschichtlicher Prozess, an dem es nichts zu rütteln gibt, höchstens ein bedauerndes Achselzucken! Auch andere Völker sind schon untergegangen. Sterben ist die Voraussetzung für totale Erneuerung. Das sind die Extremstandpunkte. (…) Das Thema erscheint mir ernst genug, um gründlich und seriös überdacht zu werden. (…) Das komplexe Ursachengewirr lässt sich nicht mit ein paar Sätzen entflechten. Ich gebe nur ein paar Stichworte, um anzudeuten, was dazu zu diskutieren wäre.

  • Hormonelle Antikonzeption: Sie ist nicht die Primärursache, aber von permissiver Bedeutung. Sie ermöglicht den freien Entscheid für oder gegen ein Kind. Der Pillenknick zeigt, dass dies nicht unbedeutend ist.

  • Individualismus: Wir sind ein Volk von Individualisten geworden. Regelmechanismen, die die Kinderzahl unbewusst beeinflussen, funktionieren nur solange sich der Mensch in einer Gemeinschaft gebunden fühlt. Auf der heutigen Werteskala steht Selbstbestimmung zuoberst. Kinder fügen sich schlecht in individualistische Kulturen ein, sie setzen Gemeinschaft voraus. Sie verhindern eine bedingungslose Ich-Entfaltung der Eltern3. (…)

  • Emanzipation der Frau: Zweifellos ein Kernproblem; beladen mit einem hohen Verletzungspotential. Ein schmerzlicher Konflikt zwischen Beruf und Kinderwunsch, zwischen Karriere und Mutterschaft4,5. Die Gleichstellung der Frau ist zweifellos die grosse zivilisatorische Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, die aber leider auch ihre Schatten wirft. Der dunkelste ist wohl ihr Beitrag zur galoppierenden Schwindsucht der Gesellschaft. Leider harmonieren die biologischen Entwürfe schlecht mit sozialer Gerechtigkeit.

  • Finanzielle Aspekte: Kinder kosten Geld, 340.000 Franken bis zum 20. Geburtstag. Wenn der mütterliche Arbeitsausfall dazu gerechnet wird, noch wesentlich mehr7. Beschränkung der Kinderzahl ist das einfachste Sparpotential.

Viele junge Familien leben unterhalb der Armutsgrenze; wozu allerdings bemerkt werden muss, dass die Latte für die Definition der Armut heute sehr hoch angelegt wird. Andererseits gibt es in Albanien, dem Armenhaus Europas, am meisten Kinder. Nach diversen Untersuchungen beschränkt Wohlstand – und nicht Armut – die Zahl der Kinder4. Je reicher, desto geringer ist der Kinderwunsch.

-Verunsicherung, Ängste: Verlust von Gemeinschaft erzeugt Zukunftsangst, Verlust von Hierarchien und Autorität Verunsicherung3. Die Zeugung von Kindern in einem Klima der Angst und Orientierungslosigkeit erscheint vielen riskant, fast verantwortungslos.

Kurz: was früher die natürlichste Sache der Welt war und zur Selbstverständlichkeit der weiblichen Biografie gehörte, wird für die meisten Paare zum Brennpunkt mühseliger Entscheidungen. (…)

Was ist zu tun

Resignation, Galgenhumor oder aktiv werden? Selbstverständlich kommen dirigistische Interventionen nicht in Frage. Aber die Erfahrungen in der DDR, in Frankreich oder Schweden zeigen, dass familienpolitische Massnahmen, die Schaffung eines familien- und kinderfreundlichen Umfeldes durchaus Wirkung zeigen. Realistisch betrachtet kann es nur darum gehen, unsere Talfahrt etwas zu bremsen, nicht zuletzt deshalb, um dem Übergangsprozess einen genügenden Zeitraum für eine echte Verschmelzung, statt einer abrupten ethnischen Ablösung zu gewähren. Der Katalog möglicher Massnahmen ist lang, die Zeit aber kurz. Vier Schwerpunkte, ebenfalls nur in Stichworten:

  1. Bewusstsein schaffen,** die beklemmende Problematik öffentlich zur Diskussion stellen. Die meisten Menschen – auch Akademiker – leben immer noch in der malthusischen Urangst vor einer bevorstehenden, apokalyptischen Übervölkerungskatastrophe.

  2. Bestehende Tendenzen zur Gegenbewegung unterstützen. Solche sind da und dort erkennbar. Manche realisieren, dass die viel gerühmte Selbstverwirklichung der Frau ohne die Verwirklichung ihrer biologischen Fekundität, ihres Urtriebes zur Fortpflanzung, auf die Dauer ein Phantom bleibt. Leider kommt diese Einsicht oft zu spät. Jedenfalls muss die Desavouierung nur haushaltführender und kindererziehender Mütter überwunden werden.

  3. Die Doppelrolle der Frau als Mutter und Berufsfrau erleichtern. Die moderne Frau ist meist zufriedener und ihre Ehe stabiler, wenn sie beide Berufe vereinen kann. Dafür müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das neue Frauenbild setzt eine Modifikation der männlichen Rolle voraus: partnerschaftliche Lösungen zur Bewältigung der häuslichen und erzieherischen Arbeit6. Es müssen Angebote für Fremdbetreuung, Kinderhorte, Tagesschulen eingerichtet werden7, ein in der Schweiz sträflich vernachlässigtes Feld.

  4. Familienpolitik. Wir sind das einzige westeuropäische Land ohne Ministerium bzw. Bundesamt für Kinder- und Familienfragen7. Familienpolitik steckt noch in den Kinderschuhen, ist erst seit der Jahrtausendwende zum Schlagwort fast aller Parteien geworden. Die staatlichen Leistungen sind – im Vergleich mit dem Ausland – indessen bescheiden; sie machen nur 1,3% des Bruttoinlandproduktes aus (Vergleich Dänemark 3,7%)7.

Die wünschbaren Massnahmen sind bekannt: höhere Kinderzulagen (besonders ab dem 3. Kind), kleinere Krankenkassenprämien (gratis ab dem 3. Kind), Steuerreduktionen für Familien, Mutterschaftsversicherung, grosszügige Mutterschaftsgesetze, Mutterschaftsurlaub, Beratung und Hilfestellung für ungewollt Schwangere, eventuell Familienstimmrecht. Finanzierbar wären solche Leistungen durch nach Kinderzahl abgestufte AHV-Renten (AHV: Alterversicherung). Wer nur brav seine AHV-Prämien zahlt, hat nur die Hälfte zur Finanzierung dieses Sozialwerkes beigesteuert. Voll bezugsberechtigt dürfte eigentlich nur jener sein, der sowohl die Beiträge zu Gunsten der vorhergehenden Generation leistet, als auch Kinder hochzieht, die dann auch seiner Generation wieder eine volle Rente garantieren. Wenn kinderlose Ehepaare – ob gewollt oder ungewollt kinderlos – oder Alleinstehende das eingesparte Kapital in eine dritte Säule investieren, so ist ihr Alter auch mit einer kleineren Rente gesichert.

All diese Massnahmen laufen ins Leere, wenn sie nicht mit einem Mentalitätswandel verbunden sind. Kinder zu haben und Mutter zu sein ist kein antiquiertes Relikt. Die Familie hat nicht ausgedient. Sie ist und bleibt die lebendige Werkstatt des Lebens. In der Beziehung zum Kind wird das menschliche Dasein bereichert. Die Eltern geben ihrem eigenen Leben einen tieferen Sinn, vermitteln emotionalen Halt und stillen die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft.

*O. Tönz ist ehemaliger Chefarzt am Luzerner Kinderspital. Dieser Text ist ein Gastreferat, gehalten an der Jahresversammlung der „Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe“ in Interlaken, Juni 2004; Vollständig erschienen in „Gynäkologisch-geburtshilfliche Rundschau“ Nr. 128, Karger AG, Basel

  1. Birg H: Die demografische Zeitenwende. München, Beck, 2002

  2. Dumont GF: Europa stirbt vor sich hin, Bevölkerungspolitik vor dem Bankrott, Wege aus der Krise. Aachen, MM-Verlag, 1997

  3. Miegel M, Wahl S: Das Ende des Individualismus: Die Kultur des Westens zerstört sich selbst. München, Verlag Aktuell, 1998

  4. Beck-Gernsheim E: Die Kinderfrage: Frauen zwischen Kinderwunsch und Unabhängigkeit. München, Beck, 1997

  5. Gabadinho A: Kinderwunsch: Eine Analyse der Ergebnisse des Mikrozensus Familie in der Schweiz. Neuchâtel, Bundesamt für Statistik, 1999

  6. Kappeler B: Die neue Schweizer Familie. München, Nagel & Kimche, 2004

  7. Fehr J: Luxus Kind: Vorschläge für eine neue Familienpolitik. Zürich, Orell Füssli, 2003

Ausserdem wurden diverse statistische Publikationen des Bundesamtes für Statistik, Neuchâtel, der WHO/UN Population Division sowie der World Health Report 2003 verwendet