DOSSIER - LANDWIRTSCHAFT: Gespaltene Region 2. Teil

21 janv. 2006, publié à Archipel 133

Der Ethnobotaniker und Schriftsteller Pierre Lieuthagi setzt hier seine Gedanken über die Entwicklung der Region von Forcalquier fort, die er anlässlich der von der Produzentenvereinigung Païsalp organisierten „Europäischen Bauerntage“ im September 2005 vorgetragen hatte.

Es gibt die Landschaft, die man von draußen sieht, für die geworben wird, die auf den Tourismusprospekten und Umschlägen von Telefonbüchern glänzt, von der man glauben könnte, dass sie ein Ausstellungsobjekt geworden ist und keine Menschen mehr braucht, um zu existieren. Eine Gegend, in der die landwirtschaftliche Produktion - denn es gibt trotz allem diese „Nebenprodukte“ der Landschaft - sauber und hübsch ist und obendrein noch gut duftet. Auf dieser „Postkarte“ sehe ich eine irreale, kostümierte Landschaft, eine Art Folklorefest. Ich weiß aber, dass dieses Traumland nur durch die Arbeit einer Handvoll Bauern lebt, egal ob industriell oder kleinbetrieblich, dass Sonnenblumen und Lavendel viel fotogener sind als Melonen, Tritical oder Kartoffeln, aber dennoch eine, wenn auch nicht sehr bedeutende, ökonomische Rolle spielen. Ich weiß, dass die wilde Natur der Hügel, der sich verdichtende Niederwald und die Heide, an die Stelle der Weiden rücken; diese aufgesetzte Wildheit, wo Wanderer und Mountainbikes die Schafe abgelöst haben. Dies alles bedeutet ganz einfach, dass die früheren Anstrengungen allmählich völlig in Vergessenheit geraten. So, als ob unsere Natur einfach ohne die aktive Präsenz des Menschen, ohne ständige Veränderung von Menschenhand, existieren könnte. Es sei daran erinnert, dass es im Mittelmeerraum vor allem das Weideland ist, das die größte biologische Vielfalt besitzt, unter anderem 60 Prozent seltene Pflanzen.

Fragmentierung

Und dann gibt es das reelle Land, das dabei ist, sich aufzusplittern. Es gibt die Teile, die an den Meistbietenden versteigert werden und wo wertsteigernde Faktoren wie runde Dachziegeln, Sonne, der klare und trockene Winter, der Lavendel und eine garantiert wilde Landschaft, aber auch bewohnte Dörfer, die einfache Idee, sich hier niederzulassen, für einen normal Sterblichen unerreichbar machen. Ehemals übers ganze Jahr vermietete Häuser werden in Ferienwohnungen umgewandelt, was viel rentabler ist und dem Besitzer weniger Unannehmlichkeiten bereitet. Ein öffentliches Verkehrsnetz, das diesen Namen verdient, fehlt völlig und führt zum maßlosen Gebrauch des individuellen Autos (dessen Tage übrigens gezählt sind). Es findet eine Verstädterung statt, die in völligem Widerspruch steht zu einer bewussten und dauerhaften Gestaltung eines in Entwicklung befindlichen Raumes wie auch zu dem Anspruch, eine Harmonie zu schaffen, die zumindest derjenigen entspricht, die man ehemals so schätzte.

Steigt man heute zur Zitadelle von Forcalquier hinauf, erblickt man ein Land, wo der Wunschtraum von einem Eigenheim jedes Jahr ein bisschen mehr ein kollektives Gut zerstört, das ich in Ermangelung eines Besseren „Ökologie des Panoramas“ nennen würde. Die willkürliche Aneinanderreihung von einer Siedlung an die andere, sich abwechselnde architektonische „Meisterleistungen“, eine Postmoderne mit dorischen Giebeln aus toskanischem Putz, romanischen Ziegeln usw. Dies alles kann man nicht gerade zusammenhängendes Bauen nennen, wobei wir doch gelernt haben, dieses als ästhetischen Wert zu betrachten, auf dem das Wachstum und ein großer Teil der touristischen Ambitionen beruhen. Erinnert das nicht irgendwie an die Geschichte vom Ast, auf dem man sitzt, und den man gewissenhaft absägt?

Das Land der Bauern

Es gibt auch das reelle Land der Bauern. Sie richten die Felder her, ein bisschen so, wie Dekorateure das Bühnenbild im Theater. Man sieht sie nicht sehr oft. Man würde sie wahrscheinlich mit einem Mal wahrnehmen, wenn sie plötzlich nicht mehr da wären. Und was für einen Krach sie machen! Wir hassen sie, wenn sie auf der Straße mit ihrer Egge vor uns hertuckern und wir sie nicht überholen können. Zum Glück gibt es fast keine Schafherden mehr. Früher musste man ihnen manchmal kilometerweit im Schritttempo folgen, danach waren die Reifen voll mit frischem Schafsdreck. Und was produzieren diese Bauern eigentlich? Wohin gehen die Sonnenblumen und das Getreide? Und stammen die Lämmer alle aus Sisteron? Und der Lavendel, füllt man tatsächlich alles davon in Flaschen und kleine Säckchen? Kommen die Tomaten, die ich im Supermarkt kaufe, wirklich von hier? Und die Kürbisse? Gibt es denn überhaupt noch eine kohärente Beziehung zwischen der Landwirtschaft und dieser Region, die doch so „ländlich“ aussieht? Man weiß kaum noch etwas über die Tätigkeit der Bauern, sie gehören nicht zu den täglichen Sorgen der großen Mehrheit. Menschen, von denen viele vor nicht allzu langer Zeit aufs Land gezogen sind, haben keinerlei Bezug zum ländlichen Raum, in dem sie leben.

Das Schizophrene dieser Region (und vieler anderen) ist, dass es keine Korrelation mehr gibt zwischen den dem Raum zugeteilten Funktionen und der Anzahl von Personen, die ihn verwalten. Im übertragenen Sinne, wird der ländliche Raum über Wasser gehalten, wobei aber schon allein sein symbolisches Gewicht eigentlich viel zu schwer ist und nach unten zieht.

Auf dem Land leben und arbeiten

Wenn ich hier über diese Fragen rede, die sicherlich meine Kompetenzen überschreiten, aber nicht so sehr, als dass ich sie nicht von weitem verfolgen könnte, tue ich dies nicht aus Spaß an einer mehr oder weniger zweifelhaften Kritik, sondern weil es wichtig ist zu sagen, dass es auch Antworten darauf gibt. Die Leute, die morgen und übermorgen an den Märkten von Païsalp teilnehmen, sind nicht die geistigen Kinder von Herrn Mansholt1. Sie haben auch nicht den Segen der verschiedenen Landwirtschaftsministerien empfangen, obwohl die hohen Instanzen beginnen, ihnen den Weihwedel hinzuhalten - vielleicht vermuten sie in ihnen zukünftige folgsame Schäfchen. Viele von ihnen haben mitunter jahrelang nur um die Anerkennung als Bauer gekämpft, der nicht unbedingt in erster Linie an Erträgen interessiert ist, welche Zugang zu internationalen Märkten verschaffen, oder nicht einmal, wer weiß warum, an den damit verbundenen Subventionen.

Es sind nicht alles Biobauern mit dem entsprechenden Label, aber ein gemeinsames Anliegen verbindet sie: die Produktion von hochwertigen Nahrungsmitteln, wobei weder Wasser und Boden verschmutzt werden, noch indirekt die Menschen zu Schaden kommen sollen, welche die Nahrungsmittel konsumieren. An erster Stelle ihrer Charta steht der Respekt. Doch weshalb sie nach Arbeitszeiten schuften, die sowohl im öffentlichen als auch privaten Sektor sofort zu Generalstreiks führen würden, liegt daran, dass sie eine neue soziale Aufteilung anstreben rund um die Berufe und Produktionen, die mit dem Erdboden zusammenhängen. Den alten Slogan „Leben und arbeiten auf dem Lande“ haben sie aus seiner Hülse befreit und daraus eine Realität gemacht, deren Gewicht beginnt, die unsinnige symbolische Bürde aufzuwiegen, auf die ich vorhin anspielte, wobei die Erhaltung dieser „Postkartenlandschaft“ die Menschen Bei ihnen liegt die Zukunft, denn es kann keine lebensfähige Perspektive für eine Region geben, ohne die Kenntnis der Kreisläufe des Bodens.

„Bauerntrampel“

Die Verachtung der Bauern ist eine historische Konstante. Im Mittelalter hieß es in den von den Geistlichen geschriebenen Abhandlungen über Ernährungslehre, die für die wohlhabenden Klassen bestimmt waren, dass Wurzelgemüse wie zum Beispiel Kohlrabi, weiße Rüben, Kohlrüben als „kalt“ und schlecht für die Gesundheit angesehen werden; vor allem für Menschen von Geist, im Gegensatz zu den einfachen, derben Menschen, wie den Bauern. Diese könnten sich davon recht gut ernähren, da sie von ihrer Veranlagung her den Ferkeln, Wühltieren und Wurzelfressern ähnelten und sich damit zufrieden gäben. Dagegen empfiehlt man den Adligen und Kirchenleuten vor allem den Verzehr von wilden Vögeln, weil diese dem Himmel näher und daher viel gesünder seien. Die Gestalt des „Bauerntrampels“ hält sich hartnäckig in den Köpfen. In einer gewissen Weise steht sie im Hintergrund des heutigen mehr oder weniger perversen Verhaltens in Bezug auf den ländlichen Raum, wie beispiels-weise die übersteigerte Verherrlichung des Lavendels, einzig sichtbare Kultur der Haute-Provence. Menschen, die ein Parfum fabrizieren, können nicht vollkommen schlecht sein. Stellen wir uns mal das Entsetzen der Tourismusbranche vor, wenn plötzlich massiv Schweine gezüchtet würden. Es liegt hier eine Verhaltensstörung der städtischen Bevölkerung in ihrer Beziehung zum Land vor, die eine nähere Betrachtung verdient.

Mit dem Schritt, zu Nicht-Landwirten zu gehen, ihre berufliche Wahl zu erklären, die zugleich eine ethische und politische Wahl ist, den Dialog auf die Fragen von Qualität sowie Respekt der Natur zu bringen, ihr Engagement für eine angemessenere Ökonomie, mit all dem werfen die Produzenten der Bauerngewerkschaft Confédération pay-sanne die alten Schemen über den Haufen. Sie zeigen uns, dass ein Schweinestall nicht weniger schön, aber sicher nützlicher ist, als ein Lavendelhain. Nach all den Lügen und Verwirrungen richten sie unsere Beziehung zur Erde wieder neu. Gleichzeitig bringen sie uns diese Bauern näher, die auch weiterhin überall unter Verachtung und Ungerechtigkeit leiden. Sie führen uns auf dem richtigen Weg zu einer politischen Aktion: Hin zu einer erkennbaren Wirklichkeit, zu der wir alle beitragen können, und die gute Ideen braucht.

Bald ist Weihnachten

Dann werden Girlanden die Platanen des Boulevard Latourette in Forcalquier erleuchten. Früher sah man Gemeindeangestellte, wie sie Baum für Baum mit Leuchtgirlanden schmükken. Man schmunzelte und sagte sich: Bald ist Weihnachten. Heutzutage wird das Fest an einem Lichtschalter gestaltet. Mitunter sieht man Weihnachten sogar schon im August, was den Weihnachtsmann ganz schön durcheinander bringen muss, ganz zu schweigen von den Rentieren, die gerade auf ihren Sommerweiden sind. Die Platanen könnten zweifellos auf diesen Lampeneffekt verzichten, der ihnen Unmengen von Nägeln einverleibt und nicht einmal die Leidenspalme einbringt. Viele von uns haben heute einen Horror vor dieser Form, ein Fest zu begehen, das jedes Jahr mehr die heilige Handlung des Teilens verhöhnt. Wir haben keine Lust mehr, auf Bestellung fröhlich zu sein und genug davon, diese Weihnachten der EDF (frz. Elektrizitätsgesellschaft) zu ertragen.

Morgen auf demBauernmarkt werden wir reichlich Sachen finden, um einfache und wunderbare Festtage, die miteinander ehrlicher geteilt sein werden, vorzubereiten. Wir unterstützen das Engagement der Menschen, die sich mit ihren Äpfeln, Möhren, Honig, Schmalzfleisch, Käse usw. der Welt mehr verpflichtet fühlen als die Zukunftsspieler beim Roulette der Börsenplätze. Sei es auch noch so wenig, werden wir somit helfen, dem Brachliegen von Land, das zugleich auch ein Brachliegen des Gewissens bedeutet, etwas entgegenzusetzen. Und man weiß nie, ob nicht irgendwelche in den Steinen des Hügels eingravierte Mühen plötzlich leichter werden und einige der von den Vorläufern gebrachten Opfer ihre Berechtigung sehen werden.

Und da wir gerade von den Festen am Jahresende reden, haben wir das Recht, Wünsche zu äußern: Dass das Flimmerzeug auf den Boulevards endgültig erlischt und man den Bäumen in den Städten ihre ursprüngliche Funktion wieder zurückgibt, die wäre Boten des Frühlings und Schattenspender im Sommer zu sein, aber auf keinen Fall verlogene Lichtgirlanden im Winter zu tragen. Auf den Plätzen inmitten der Städte stellt man im Dezember nur eine kleine Lampe, die das Herz unmittelbar anspricht und zwar dort, wo man zusammenkäme, um für einmal dem Weihnachtsmann Geschenke zu bringen, der sie nur weitergeben müsste. Das wäre nicht unbedingt Geld oder Schecks, sondern Versprechen wie bei „Téléthon“ mit dem Unterschied, dass es hier um die Zukunft eines wirklichen Landes geht. Man könnte zum Beispiel im Brief schreiben: „Lieber Weihnachtsmann, ich habe drei Fremdenunterkünfte und bin bereit, eine im Jahr zu einem Jahrespreis an Menschen zu vermieten, die hier arbeiten. Weihnachtsmann, ich habe 15 Hektar Brachland und eine Ruine; finden Sie mir junge Landwirte, die sich darauf ansiedeln wollen. Lieber Weihnachtsmann, mein Unterholz in Richtung Lure hat schon seit mindestens 40 Jahren keine Motorsäge mehr gesehen. Ein Kahlschlag würde mir in der Seele wehtun, es sei denn eine echte Forsttradition würde wieder Fuß fassen. Kennen Sie niemanden, der dies bestmöglich bewerkstelligen könnte und sich mit Holz bezahlen ließe? Weihnachtsmann, ich bin der Leiter einer Schule in der Region. Wir haben beschlossen, dass die Kantine den Schülern mindestens einmal im Monat eine Mahlzeit anbietet, die ausschließlich mit Produkten aus der lokalen Landwirtschaft zubereitet wurde. Lieber Weihnachtsmann, ich verspreche, dass ich gentechnische Mais- oder Sojafelder zerstören werde, falls jemals die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne bis hierher vordringen sollten.“ Der Liste sind keine Grenzen gesetzt.

Wir wohnen in einer schönen Gegend, aber es kommt darauf an, jenseits der Äußerlichkeiten zu leben. Alle, die zum Gelingen dieser europäischen Bauerntage beitragen, haben sich nicht von irgendwelchen Versprechen mit Lichtgirlanden täuschen lassen, sondern engagieren sich in der Praxis einer einfachen Wahrheit, die weit entfernt ist von jeglicher Ideologie, außer jener der Ehrlichkeit. Was uns hier betrifft, kann man sagen, es reicht, was sie machen, um zu zeigen, was sie sind. Ich glaube nicht, dass ich ihre Überzeugung verrate, indem ich sage, dass eine wirkliche Landschaft hoffentlich weniger nach Lavendel als nach Ziege oder Schaf riecht; es weniger große Landwirtschaften ohne Menschen als kleine Felder und Obstgärten gibt, wo die Leute sich zuwinken, wenn man vorbeikommt; man aufhört, die Siedlungen weiter auszudehnen zugunsten des Baus von wirklichen neuen Dörfern, die den Austausch statt den individuellen Rückzug fördern; dass die protzigen Geländewagen und Quads (Kombination von Motorrad und Auto) ins Museum der Entgleisungen verdammt werden und dass es stündlich einen Zubringerbus nach Manosque gäbe. Beim Chauffeur sollte ein Schild mit dem Spruch von René Char hängen, den die Fahrgäste bei Bedarf während der Fahrt auswendig lernen könnten:

"Die Wirklichkeit erquickt mitunter die Hoffnung. Deshalb – entgegen aller Erwartungen – überlebt die Hoffnung."

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Pierre Lieutaghi

  1. 1968 stellte der damalige Vizepräsident der EWG, Sicco Mansholt, dem Rat erstmals einen umfassenden Agrarreformplan vor.