DOSSIER Marokko: Die Kultur des Hrigue

de Mohammed Nadif (Universität Hassan II,Casablanca), 5 févr. 2003, publié à Archipel 102

Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen die westlichen Länder viele wenig qualifizierte Arbeitskräfte aus den Ländern der Dritten Welt an (im Falle Frankreichs vor allem aus Nordafrika), um den Wiederaufbau Europas voranzutreiben.

Zu Beginn war diese Migration zum Großteil legal, die "illegale" Immigration hat jedoch seit Ende der achtziger Jahre an Bedeutung zugenommen, um Mitte der neunziger Jahre mit dem Phänomen der Pateras 1 dramatische Ausmaße anzunehmen. Dies ist unter anderem verschiedenen Maßnahmen der Europäischen Union zur Beschränkung der Einwanderung zuzuschreiben. Die illegale Einwanderung wird zum einzigen Mittel, europäischen Boden zu betreten.

In Marokko hat das Phänomen erschreckende Dimensionen erreicht. Die potentiellen "Illegalen" sind Frauen, Männer und Kinder, Städter oder Landbewohner, die sich vom "europäischen Eldorado" angezogen fühlen. (Durch-)brennen (Übersetzung des arabischen Verbs hrague , das für illegales Auswandern verwendet wird) wird zum besten, wenn nicht sogar einzigen Weg zum Erfolg im Leben. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen, deshalb sprechen wir von der "Kultur des hrigue ", vom Phantasiebild des sozialen Aufstiegs und der fixen Idee von der Auswanderung.

Einige marokkanische Forscher interpretieren den Hrigue als "Vergessen der Ursprünge", wie einen Wunsch, seine Identität auszulöschen. In der Tat gingen gewisse "Illegale" zu Beginn ohne Papiere weg, und als sie von der spanischen Polizei festgenommen wurden, gaben sie vor, Algerier zu sein.

Für uns heißt hrague eher, gegen eine Regel verstoßen (bei Rot über die Kreuzung fahren), aber auch etwas oder jemanden denunzieren. Der "Illegale" will denunzieren, sich auflehnen, seine soziale Situation, mit der er nicht einverstanden ist, verändern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist er bereit, gegen Regeln, aber auch gegen Gewohnheiten oder Bräuche zu verstoßen.

Dieses Verhalten betrifft nicht ein Individuum oder eine kleine Gruppe, sondern immer mehr Menschen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter, Bildungsniveau oder soziales Milieu.

Die Kultur des Hrigue umfasst also alle Formen von Verstößen, die zu normalen, legitimen und von der Gesellschaft akzeptierten Handlungen werden. Man kann annehmen, dass es keine Familie im weiten Sinn gibt, aus der nicht mindestens ein Mitglied illegal ausgewandert ist.

Die Kultur des Hrigue bedeutet nicht mehr nur, dass man eine illegale Handlung begeht oder jemanden dazu anstiftet, sondern auch dass man sich ohne Komplexe dazu bekennt. Zum Beispiel dieser junge Mann, der einem Journalisten erzählte 2, dass er seine Freundin dazu überredet habe, sich zu prostituieren, um 15.000 Dirham (ca. 1500 Euros) zu verdienen, um den Schlepper bezahlen zu können. Oder ein anderer, der in einer Fernsehsendung erklärte, dass er die Absicht habe, in Italien "Pulver" (Drogen) zu verkaufen. Gewisse Familien kümmern sich nicht mehr um die Herkunft des Geldes, das ihnen ihre Kinder oder Verwandten aus dem Ausland schicken. Man hört immer öfter, dass "der Sohn von Sowieso nur zwei oder drei Monate ins Ausland geht, dank des Pulverhandels mit schönen Autos und viel Geld wiederkommt und dann Land und Häuser kauft".

Es geht nicht um die Negierung der Identität, sondern um die Ablehnung einer bestimmten Situation, die der Auswanderer verändern will. Der Beweis dafür ist, dass der "Illegale" nur abwartet, seine Situation im Empfangsland zu regularisieren und eine genügende Geldsumme zu ersparen. So kann er beweisen, dass er es "geschafft" hat und wird von seiner Familie und den Leuten in seinem Stadtviertel oder Dorf bewundert und respektiert. Oft kehren die Emigranten in Autos zurück, die vollgestopft sind mit Waren. Wenn er an seinem Wohnort angekommen ist, lädt er die Verwandten, Nachbarn und Freunde ein und gibt sich so großzügig wie möglich, um zu zeigen, dass er erfolgreich war. Um dieses Ziel zu erreichen, ist er bereit, jede Arbeit zu tun, ob sie nun mühsam, schmutzig, erniedrigend oder sogar illegal ist. Hauptsache, dass er dafür bezahlt wird. So verrichten viele "Illegale" Arbeiten, die sie in ihrem Herkunftsland nicht annehmen würden. Menschen mit Hochschulbildung arbeiten zum Beispiel in der spanischen Landwirtschaft, werden unterbezahlt und leben oft in miserablen Verhältnissen. Andere werden Schmuggler, Autodiebe, Drogenhändler oder Prostituierte. Letztes Phänomen nimmt ständig zu, weil auch immer mehr Frauen illegal auswandern.

Viele verlassen ihre Heimat auch, weil sie in ihrem Bereich keine Arbeitsmöglichkeit haben und sie die Entwicklung der Wissenschaften aus der Nähe mitverfolgen wollen. Manchmal orientieren Eltern ihre Karriere nach den Zukunftsplänen ihrer Kinder: "Uns fehlt nichts, sie ist für ihre Kinder gestorben", antwortete die Mutter einer Frau, die bei einem Versuch, illegal auszuwandern, mit anderen Menschen ums Leben kam 3.

Auswanderungspläne werden auch von der Entwicklung des politischen Systems beeinflusst oder beschleunigt. Man ist auf der Suche nach einer Welt, in der man sich mehr Freiheit und Gerechtigkeit erhofft. Arbeitslosigkeit und Armut sind nicht die einzigen Faktoren, welche die Menschen veranlasst, ihr Land legal oder illegal zu verlassen. Der gemeinsame Faktor für die verschiedenen Kategorien von Auswanderern ist die Suche nach etwas, was man in seinem Heimatland nicht findet. Auswandern wird also für einige das einzige Ziel, das es zu erreichen gilt. Wir sprechen daher von der fixen Idee der Emigration.

Ein Jugendlicher sagte, dass er mehr als fünfzehn Mal versucht hat, das Land zu verlassen, und dass er entschlossen sei, es so lange zu probieren, bis es gelänge. Ein anderer erklärte, er hoffe, dass Gott ihm einen der zwei Auswege zeigen werde: entweder ins Ausland oder ins Grab – "Erfolg oder Tod". Diese fixe Idee findet man nicht nur bei Männern, immer mehr Frauen und Kinder sind davon angesteckt. Gewisse Kinder warten nur darauf, so alt zu sein, dass sie illegal auswandern können. Bei einer Studie über illegale Auswanderung stießen wir auf ein Kind, das es schon fünfzig Mal versucht hatte.

Herausforderungen der Zukunft

Kinder und Jugendliche von heute sind die Erwachsenen von morgen. Morgen, das ist die Zukunft, das Reich der Globalisierung... Wie sich mit den verschiedenen Herausforderungen konfrontieren, wenn sich die Zukunftsträume nicht auf dem nationalen Territorium verwirklichen lassen? Wie die Probleme der Unterentwicklung lösen, wenn ein Großteil der marokkanischen Bevölkerung der Meinung ist, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Gestaltung der Zukunft in Marokko nicht mehr möglich sind? Sie befinden sich in einer Übergangssituation in ihrem eigenen Land, sie interessieren sich nicht mehr dafür, was hier geschieht, sie fühlen sich davon nicht betroffen. Sie sind geistig schon ausgewandert, auch wenn sie physisch noch anwesend sind.

Dieses Verhalten kommt gewissen Politikern gelegen, und sie schließen die Augen davor. Das Problem der Arbeitsbeschaffung und die Befriedigung der Grundbedürfnisse wird verlagert. Die Menschen organisieren sich nicht mehr, um von der Regierung die Einhaltung ihrer Versprechen zu fordern. Andere bezeichnen es als "Empfängnisverhütung a posteriori", ein Mittel, das Bevölkerungswachstum und das soziale Gleichgewicht unter Kontrolle zu halten. Wenn der Auswanderer scheitert (wenn er stirbt), gibt es einen Arbeitssuchenden weniger. Wenn er es schafft, bedeutet das Devisen für das Land und eine Einkommensquelle für seine in Marokko verbliebene Familie.

Die illegale Emigration führt in gewissen Regionen auch zu einem demographischen Ungleichgewicht, vor allem in ländlichen Gebieten. In der Region von Shauia-Urdigha gibt es fast nur mehr Frauen, Kinder und alte Leute. Diese Situation führt ihrerseits zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen.

Auf wirtschaftlicher Ebene kann man von einer Bedrohung für die Landwirtschaft sprechen, denn es gibt immer weniger Arbeitskräfte, sowohl ständige als auch Saisonarbeiter. Dazu kommt noch das Aussterben gewisser Handwerke.

Aber die Folgen auf sozialer Ebene sind noch schwerwiegender und das in zweierlei Hinsicht: Die Abwesenheit des Vaters wirkt sich auf die Erziehung der Kinder aus. Die Mutter, vor allem wenn sie Analphabetin ist, schafft es nicht, die Kinder alleine aufzuziehen. Sie kann ihre Schulbildung nicht mitverfolgen. Es gibt immer mehr Kinder, welche die Schulen frühzeitig verlassen.

Schulbildung wird nicht mehr als Weg zum "sozialen Aufstieg" oder zum "Überleben" betrachtet. "Wofür studieren, wenn Analphabeten während eines kurzen Aufenthalts in Europa Vermögen anhäufen, von denen Hochschulabgänger nach langen Jahren nicht einmal träumen können? Nach dem Studium ist es schwer, genug Geld zu verdienen, vorausgesetzt man findet überhaupt eine Anstellung", sagte ein zukünftiger Auswanderer.

Um diese Situation zu veranschaulichen, hier die Aussage von Yussef Slimani, Agraringenieur und Mitglied der Arbeits- und Forschungsgruppe über soziale Ökonomie: "Ich erzähle euch hier einen Auszug aus einem Gespräch zwischen einem elfjährigen Kind und seiner Mutter, die neben mir auf der Straße gingen. Der Sohn träumt von einem Kind, dem es gelungen war, nach Europa zu gehen, weil seine Eltern dem Schlepper 30.000 DHS gegeben hatten, und der ihnen jetzt kolossale Summen schickt! Die Mutter: ‚Wer ist dieses Kind?‘ Das Kind: ‚Ich!‘ Die Mutter war so überrascht, dass sie nichts sagte. Sie schwieg eine Weile. Ich konnte mich nicht zurückhalten und mischte mich in das Gespräch, obwohl ich sie nicht kannte, und sagte: ‚Mein Kleiner, du hast doch noch Zeit zum Spielen und Lernen!‘ Das Kind antwortete mir sehr sicher: ‚Was haben den Studierten all ihre Diplome genützt?‘"

Die Frauen leiden immer mehr unter der langen Abwesenheit ihrer Männer. Wir erlebten den Fall, dass Ehemänner mehr als drei Jahre wegblieben. "Mein Mann emigrierte einen Monat nach unserer Heirat. Jetzt schickt er mir Geld, aber das ist nicht alles, was ich brauche". 4

Die meisten Auswanderer sind jung und ledig (Frauen und Männer). Auch in den ländlichen Gebieten wird immer später geheiratet. Mit dem Altern der marokkanischen Bevölkerung bewegt sich das Land in den nächsten zwanzig Jahren auf eine negative Geburtenrate zu. Wie soll man sich mit den Herausforderungen des dritten Jahrtausends konfrontieren, wenn der wichtigste Reichtum des Landes, die Menschen, abnimmt?

Ich glaube, dass die Lösung für das Auswanderungsproblem im allgemeinen und die illegale Auswanderung im besonderen, weder technisch noch finanziell ist. Wie ich schon sagte, spielen Arbeitslosigkeit und Armut eine geringe Rolle bei der Entscheidung zu emigrieren. Wie soll man sich sonst erklären, dass viele Kader auswandern, auf all ihre Vorteile verzichten und im Ausland Arbeiten verrichten, die nichts mit ihren Kompetenzen zu tun haben? Das Wichtigste spielt sich auf der Ebene der Mentalitäten und des allgemeinen Kontextes des Landes ab.

  1. Fischerboot in der Meerenge von Gibraltar

  2. Al Ittihad Ichtiraki, marokkanische Tageszeitung, Nr. 6107, 30.4.2000

  3. Al Ittihad Ichtiraki, op. cit.

  4. Studie unter der Leitung von Mohammed Nadif, Rabat, 1998