EISZEIT: Ein «Schwob» in der Schweiz

de Michael Rössler, 10 avr. 2014, publié à Archipel 224

Am 9. Februar 2014 wurde die ausländerfeindliche Initiative der Schweizerischen Volkspartei SVP gegen die «Masseneinwanderung» vom Schweizer Stimmvolk knapp angenommen. Die Initiative beschwor, neben vielen anderen, auch alte Ressentiments gegen den großen deutschen Nachbarn herauf. Rund 300‘000 deutsche Einwanderer leben heute in der Schweiz.

Ein Direktbetroffener analysiert: Als ich in die Schweiz kam, wurde ich Teil des «Ausländerbestandes». Hier in der Schweiz gehört das Wort zur Amtssprache. Ich kannte das Wort «Bestand» nur im Zusammenhang mit Hirschen und Wildschweinen, also aus der Jägersprache. Entsprechend vorsichtig verhalte ich mich seit meiner Ankunft in meinem Gastgeberland.

Ich bin Deutscher mit einem polnischen Großvater und einer bayrischen Großmutter väterlicher-seits und einem Opa aus Böhmen und einer Oma aus der Ukraine mütterlicherseits. Mein Vater war also ein polnischer Bayer und meine Mutter eine ukrainische Böhmin. Das Resultat bin ich. Dabei geht das Gerücht um, dass einer meiner Urgroßväter aus der Schweiz in den Osten ausgewandert war, weil er in seinem Heimatland kein Auskommen fand.
Erst nachdem ich meine Schweizer Gastgeber länger beobachtet habe, verliere ich meine Angst. Solange ich meinen Mund halte, denken die Schweizer, ich sei Schweizer. Ich habe keine besonderen äußeren Merkmale, die das Gegenteil beweisen. Sobald ich aber ein Wort hervorstoße und damit widerlege, ein Taubstummer zu sein, ist klar: ein Schwob. So bezeichnen die Deutschschweizer ihre deutschen Nachbarn aus dem «großen Kanton». Dabei ist Schwob nicht als Kosenamen gedacht, sondern als Schimpfwort, um sich selbst die Furcht vor dem übermächtigen Nachbarn auszutreiben. Der Zwerg äußert sich herablassend über den bösen Riesen: das macht ihm Mut und auch allen anderen Zwergen. Die Furcht ist ja auch berechtigt, weil der Riese ab und zu Appetit auf den Zwerg bekommen hatte. Ausserdem stört es den Zwerg, vom Riesen als Zwerg betrachtet zu werden.
Der Preuße ist ein Schwob, ebenso der Hamburger, natürlich der Schwabe, inzwischen auch der Sachse, kurzum: alle, die nicht Schweizerdeutsch sprechen, also weder Bärndütsch, Baseldytsch, Züridütsch oder et cetera, sondern einen deutschen Dialekt, der sogar in seltenen Fällen dem Hochdeutsch ähnelt. Ausgenommen sind die Österreicher, welche für die Schweizer die Belgier der Franzosen sind, also Witzfiguren, und die Liechtensteiner, die noch heute unter der Knechtschaft eines Fürsten leiden müssen, während die Eidgenossen sich schon vor Jahrhunderten vom Joch der Aristokraten befreit haben. Vielleicht sind auch die Bayern ausgenommen, deren Schwob der Saupraiss ist. Nein, der Bayer ist für die Schweizer kein Schwob, solange er sich urwüchsig aufführt, so wie der Innerschweizer zu Friedrich Schillers Zeiten, und nicht wie ein Münchner Intellektueller.
Meine ursprüngliche Angst, als Schwob diskriminiert zu werden, erwies sich als unbegründet. So habe ich es meistens mit aufgeschlossenen Menschen zu tun, die sogar höflich fragen, ob sie mit mir Hochdeutsch sprechen sollen. Ich winke jeweils ab und gebe zu verstehen, dass ich verstehe. Damit zolle ich meinen Gesprächspartnern Respekt. Sie sollen sich ja nicht als Kuhschweizer fühlen müssen, deren Sprache jeweils nur in einem einzigen Dorf verstanden wird. Man sagt, der Schwob sei arrogant. Ich bin der lebendige Beweis dafür, dass dem nicht so ist.
Einmal belauschte ich in einer Beiz* auf dem Land bierselige Gespräche am Nebentisch. Stämmige bis fettleibige junge Burschen, vermischt mit kantenköpfigen Rentnern und deren feisten Frauen hatten es lustig miteinander: Sie vermittelten sich gegenseitig mit Kreischen und Grölen, dass es zu viele Ausländer gäbe in ihrer Schweiz. Der Bestand sei zu hoch. Auf zur Jagd! Als Bestandteil des Bestandes spürte ich, wie die Angst von meinem Bauch in meine Kehle hoch kroch und sich festsetzte, so dass ich die heiße Ovomaltine ungetrunken stehen ließ und aus dem Lokal verschwand. Als ich auf die Straße trat, sog ich die eisige Bergluft heftig ein und aus wie ein Tier, das, aus dem Käfig ausgebrochen, den Weg in die Wildnis zurückfindet.
«Möchtest du nicht Schweizerbürger werden, nach all den Jahren bei uns?», hat mich kürzlich ein Schweizer Freund gefragt. Ich fühlte mich geschmeichelt – eine späte Anerkennung meiner Integrationsbemühungen.
Nachdem die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung am 9. Februar 2014 vom Stimmvolk angenommen wurde, antworte ich jedoch darauf: «Nein, danke! Ich bleibe einfach Mensch.»

* Gasthaus, Bistro