EX - JUGOSLAWIEN: Zehn Jahre nach Abschluss der Dayton-Verträge

de Catherine Lutard-Tavard* (Soziologin, Paris), 21 janv. 2006, publié à Archipel 133

Bosnien-Herzegowina, wieder eine Herausforderung für Europa? In Bosnien-Herzegowina, wie im gesamten Balkan, bleibt die Frage der Identität ungeklärt. Die Politik, welche die jugoslawischen Kommunisten (1945 bis 1991) betrieben, hat die Zersplitterung der Föderation in kleine Einheiten mit starken, nationalen Identitäten gefördert.

Die kommunistische Verwaltung war ein Misserfolg, weil sie der Herausforderung nicht gerecht wurde, ein Zusammenleben all dieser Völker zu ermöglichen. Die Kommunisten selbst hatten während des Zweiten Weltkrieges diese Herausforderung proklamiert. Es war vor allem der demokratische Charakter, der diesem ehrgeizigen Projekt der Schaffung einer staatsbürgerlichen Identität fehlte. Die Auflösung der jugoslawischen Föderation zerstörte die mögliche Einheit einer Zivilisation und eine kulturelle, sich gegenseitig ergänzende Vielfalt. Die Region Bosnien-Herzegowina ist diesem Prozess nicht entkommen. Die heterogene soziale Basis und die drei nationalen Einheiten (Kroaten, Serben und Muslime), die von der nationalistischen kommunistischen Bürokratie in den 1950er und 1960er Jahren gehätschelt wurden, führten dazu, dass ein einheitlicher Staat lediglich ein idyllischer Mythos blieb. Nach einem extrem mörderischen Bürgerkrieg (1992-1995), dem mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen, ist Bosnien-Herzegowina immer noch nicht ein Staat, wie ihn die internationale Gemeinschaft erhofft hatte – ein Staat, der die verschiedenen nationalen Gruppen, die im Konflikt zueinander standen, hätte vereinen sollen. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass erst die Dayton-Verträge im November 1995 diesen Bürgerkrieg beendet und das Abhalten von Wahlen ermöglicht haben1. Die Hälfte der Flüchtlinge, die vor den Kämpfen geflohen waren, konnte in ihren alten Heimatort zurück und wieder ihr Eigentum in Besitz nehmen.

Die Einweihung im Juli 2004 der wiederaufgebauten Brücke von Mostar2, welche durch die internationale Gemeinschaft zu einem Symbol der Versöhnung erklärt wurde, bleibt ein wichtiges Datum, spiegelt aber leider nicht die Wirklichkeit wieder. Denn die Versöhnung zwischen den Einwohnern von Mostar und zwischen jenen im ganzen Rest von Bosnien-Herzegowina hat nie stattgefunden. Die Aufstückelung des Erziehungssystems in drei Teile hält weiter an, und jede Volksgruppe besteht auf dem Unterricht in ihrer jeweiligen Sprache und in ihrer eigenen Schule3. Die Geschichte wird nach dem jeweiligen Gründermythos gelehrt. Obwohl die Westeuropäer auf gemeinsame Lehrinstitute drängen, damit sich die Volksgruppen gegenseitig annähern, hat sich in dieser Hinsicht nichts getan. Die nationale Identität von jeder Gruppe fußt auf einem Stück Boden und auf der Vergangenheit. Die Kriterien sind exklusiv, und die Einheit jeder Gruppe entsteht aus der Opposition gegen die jeweilige andere Kollektivität. Jedes Individuum existiert nur dank seiner ausschließlichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Ein künstlicher Staat

Bosnien-Herzegowina bleibt gespalten, schwach und abhängig. Das Festhalten an einem populistischen Nationalismus auf allen Seiten steht im Widerspruch zur Schaffung eines gemeinsamen Staates. Die Staatsverwaltung ist von den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft geprägt und vor allem von Europa, das theoretisch gegen die multiethnische Zersplitterung eingestellt ist und das Prinzip der Staatsnation vertritt. Aber wie kann man dahin gelangen, dass diejenigen, die nicht mehr zusammenleben wollen, es trotzdem tun? Ein internationales Protektorat soll es richten. Doch Bosnien-Herzegowina bleibt ein künstlicher Staat, der militärisch geschützt werden muss. 7.000 Soldaten der Eufor (Streitkräfte der Europäischen Union) sind ständig präsent. Sie haben im Dezember 2004 die NATO-Soldaten ersetzt. Bosnien-Herzegowina ist ein Staat, der auf verschiedenen religiösen und ethnischen Identitäten basiert, wo jeder in seiner Stellung verharrt und jede Konzession ablehnt. Das Land bildet das Schlusslicht in der Warteschlange für den Beitritt zur EU. Auch wenn sich die Sicherheitslage im Land erheblich verbessert hat, ist es eben genau die militärische Präsenz, die verhindert, dass neue Konfliktherde aufflammen. Bosnien-Herzegowina ist nun einmal im Balkan verankert, wo nie etwas endgültig festgeschrieben ist und wo jederzeit wieder alles brennen kann.

Ein schwacher

Zentralstaat

Der Aufbau von funktionierenden staatlichen Institutionen ist ungenügend, auch wenn viel Arbeit in den letzten zehn Jahren geleistet wurde. Es ist eine ständige Knacknuss, die drei Volksgruppen berücksichtigen zu müssen. Dabei handelt es sich um ein Vorgehen, das die Effizienz der staatlichen Einrichtungen beträchtlich verlangsamt und das Gemeinwohl schädigt. Bosnien-Herzegowina ist ein föderalistischer Staat, der aus zwei Einheiten besteht: der kroatisch-muslimischen Föderation von Bosnien-Herzegowina, unterteilt in 10 Kantone, und dem einheitlichen Serbenstaat Republika Srpska. Jede dieser Einheiten besitzt ein Parlament mit zwei Kammern, das die Möglichkeit hat, den gesamten politischen Prozess zu blockieren, sobald sich eine der Gruppen übergangen fühlt. Der Zentralstaat von Bosnien-Herzegowina hat somit nur einen sehr eingeschränkten Aktionsradius mit einer schwachen Regierung, einer langen Reihe von Ministerien und einer kolossalen Verwaltung, welche die eher bescheidenen Mittel des Landes verschlingt. Dazu kommt, dass dieser bosnische Staat keine Macht besitzt, weil das letzte Wort dem Hochkommissar der UNO und dem Spezialrepräsentanten der EU, dem Briten Paddy Ashdown, gehört. Dieser hat schon mehrmals Verantwortliche aus Verwaltung und Politik entlassen. Nach einigen Schwierigkeiten und unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft, hat die Republika Srpska im September 2005 zugestimmt, der vereinten Armee der Föderation beizutreten. Dies war eine unabdingbare Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt von Bosnien-Herzegowina zur EU. Es ist das erste Mal seit den Verträgen von Dayton, dass die serbischen Politiker auf eine bisher unabhängige Institution verzichten. Die Verträge genehmigten die Aufrechterhaltung von drei Armeen: die bosnische Armee, der kroatische Verteidigungsrat und die Armee der Republika Srpska. Die Schaffung dieser gemeinsamen Armee soll dazu beitragen, das Land zu demilitarisieren, damit sich ein Konflikt wie der des letzten Bürgerkriegs nicht wiederholen kann. Dies war eine der Bedingungen der NATO für den Eintritt von Bosnien-Herzegowina in die atlantische Allianz. (Die andere war der Beitritt zum Programm „Partnerschaft für den Frieden“). Das Parlament der Republika Srpska hat jetzt im Oktober 2005 die Polizeireform ratifiziert, die von der EU gefordert worden war, welche eine integrierte Polizei ermöglicht. Mit dieser einheitlichen Polizei können die Vorverhandlungen über das Abkommen der Stabilisierung und Assoziierung mit der EU beginnen. Die Kandidatur für die EU und die NATO von Bosnien-Herzegowina, genauso wie die von Kroatien und Serbien, bleibt allerdings kompromittiert, solange diese Staaten nicht alle ihre Kriegsverbrecher an das Tribunal von Den Haag ausliefern4.

Welche Zukunft?

Obwohl die Verschiebung der Grenzen seit zehn Jahren vermieden worden ist, heißt dies noch lange nicht, dass die verschiedenen Protagonisten diese Option aufgegeben haben. Was soll aus den beiden aktuellen Einheiten werden, der kroatisch-muslimischen und der serbischen? Auf der kroatischen Seite schlagen verschiedene Vertreter eine dritte Einheit vor, um die Kroaten von den Muslimen zu trennen. Andere unterstützen die Idee der Abschaffung der jetzigen Einheiten und einer Regionalisierung, so als ob ein Europa der Regionen automatisch die Individuen integrieren könnte. Dies ist jedoch eine Täuschung, weil die Regionen zu klein sind, um eine Ethnisierung verhindern zu können. Es ist übrigens kein Zufall, wenn im Westen die Nationalisten aller Couleurs die Idee eines Europa der Regionen unterstützen. Auf der serbischen Seite ist die Aufrechterhaltung der jetzigen Einheiten nicht in Frage gestellt, auch wenn sie gewisse Kompetenzen wie die der Armee und der Polizei abgeben musste. Die Serben von Bosnien-Herzegowina verfolgen allerdings die Verhandlungen über den Kosovo genau, weil, falls diese zur Unabhängigkeit der serbischen Provinz führen sollten, sie dann ebenfalls ihre Unabhängigkeit fordern und sich vom aktuellen Staat Bosnien-Herzegowina loslösen könnten. Man kann sich die künftigen Konflikte aus diesen regionalen Annäherungen vorstellen: die Serben mit Serbien, die Kroaten mit Kroatien, und die Muslime bleiben allein zurück.

Bosnien-Herzegowina fehlt eine Verfassung, welche reelle Kompetenzen für den Zentralstaat festschreibt. Die Einwohner des Landes sollten demokratisch über diese Verfassung abstimmen können, welche den Willen aller widerspiegeln würde. Doch die politische Klasse bleibt nationalistisch und unterhält hartnäckig die nationalen Spaltungen. Die Korruption, ein Erbe aus der Tito-Ära, dauert an und behindert die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Das jährliche Wirtschaftswachstum von 5 Prozent ist ungenügend, die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 40 Prozent, eine Untergrund-Wirtschaft breitet sich aus und 47 Prozent der Bevölkerung leben an der Armutsgrenze von 90 Euro pro Monat.

Die bosnische Einheit funktioniert nicht, und der politische Kompromiss, der abgeschlossen worden war, um den Krieg zu beenden, wird nicht ewig dauern. Die nationale Versöhnung hat Verspätung, und man kann daran zweifeln, ob sie überhaupt jemals stattfinden wird. Die politischen Kräfte entwickeln sich zwar, doch sie scheinen mehr mit nationalistischen Streitereien beschäftigt zu sein als mit dem Aufbau eines gemeinsamen Staates. Es ist höchste Zeit, dass diese Republik allein auf sich gestellt funktioniert, dass sie selbst ihre Zukunft bestimmen kann und dass sie nicht mehr unter der Herrschaft der internationalen Gemeinschaft stehen muss. Die Zivilgesellschaft sollte bereit sein, selbst die Zukunft des Landes zu gestalten und die Verhandlungen für einen Beitritt zur EU zu führen. Dabei ist es wünschenswert, dass sich die Zivilgesellschaft vergrößert. Die nächsten Wahlen vom Oktober 2006 werden zeigen, ob sich die Praktiken verändert haben und ob die internationale Vormundschaft aufgehoben werden kann. Es ist auf jeden Fall klar, dass es die Mobilisierung und den Willen der sozialen Akteure braucht, um einen Bürger-Staat zu errichten. Dazu ist es nötig, dass eine Bewältigung der Vergangenheit auf den Weg kommt, damit die sozialen Beziehungen anders als populistisch gestaltet werden können. In Bosnien-Herzegowina und im Balkan allgemein zeigt das Zögern der einen und der anderen, ihre jeweiligen Kriegsverbrecher an den Gerichtshof in Den Haag auszuliefern, wie wenig bisher die Verantwortlichkeit eines jeden in den Köpfen verankert ist. Wird die pluralistische Zivilgesellschaft eines Tages eine Identifikationsfigur für diese zerrissene Region werden oder sind diese jugoslawischen Regionen dazu verdammt, in konfliktträchtigen, gegenseitig isolierten Einheiten zu verharren?

Catherine Lutard-Tavard*

Soziologin, Paris

  1. Die Verträge wurden am 21. November 1995 in Dayton paraphiert, unterzeichnet in Paris am 14. Dezember 1995.

  2. Die alte Brücke (Stari Most) war von der kroatischen Artillerie 1993 zerstört worden.

  3. Aus der einstigen gemeinsamen serbo-kroatischen Sprache wurden drei Sprachen: die serbische, die kroatische und die bosnische.

* Autorin des Buches „La Yougoslavie de Tito écartelée (1945-1991)“, l’Harmattan 2005.

  1. Um die zwanzig Kriegsverbrecher wurden bereits verhaftet und an das Gericht in Den Haag überstellt - dank der SFOR. Diese war allerdings nur teilweise effizient ab Mitte 1997 (also 18 Monate nach den Dayton-Verträgen): Die SFOR verpasste einige Gelegenheiten, um wichtige Kriegsverbrecher zu verhaften wie Radovan Karadzic und General Ratko Mladic.