FLUCHT UND MIGRATION: Ich kam als Ausserirdischer an

de Sack Mike Philippe (Dieser Text wurde von Judith Keller aufgezeichnet und im Mai 2016 in der Papierlosen Zeitung Zürich erstveröffentlicht.), 6 sept. 2016, publié à Archipel 250

Seit Anfang dieses Jahres sind bereits 3‘000 flüchtende Menschen im Mittelmeer ertrunken. Sack Mike Philippe ist einer der es aus dem Kongo bis nach Europa geschafft hat. Er beschreibt hier einen Teil seiner Fluchtgeschichte.

Ich bin Sack Mike Philippe, in Zentralafrika geboren und 2013 nach Europa geflohen. Ich bin ein Mensch der Grenzen. Das sage ich gleich zu Beginn: Das, was ich auf meiner Flucht erlebt habe, wünsche ich nicht meinem schlimmsten Feind. Ich werde hier nur einen kleinen Teil meiner Flucht erzählen, wie ich von Marokko nach Spanien gekommen bin.
Die wirkliche Hölle für die Flüchtlinge ist Marokko. Der Marokkaner ist rassistisch, aggressiv mit den Schwarzen, unehrlich, scheinheilig, aber sehr sehr offen. Dort habe ich meinen besten Freund Mohamed Champagne und meine beste Freundin Ma kennengelernt. Mohamed Champagne, der «Robin Hood von Tanger», wie er sich nannte. Ein grosser Bandit. Jetzt ist er leider im Gefängnis. Ohne ihn wäre ich nicht hier. Ich hatte mir in Melilla beim Versuch, über den EU-Zaun zu klettern, den Fuss gebrochen. Das Leben im Wald, die Gewalt der Grenzwächter und die ganze Situation hatten mich so angeschlagen, dass ich einen anderen Weg suchte. Ich hatte dort Leute getroffen, die seit fünf Jahren vor dem Zaun lebten. Das hat mich deprimiert. In Tanger fand ich eine Arbeit, Holzscheite aus einem Lastwagen ausladen, um ein Hamam zu heizen. In einer Diskothek habe ich Ma kennengelernt. Ohne sie wäre ich jetzt nicht hier. Sie hat eine Wohnung gefunden für uns. In diesem Zusammenhang ist mein späterer Freund Mohamed Champagne aufgetreten, klein und schmächtig, aber souverän. Er kam als Wohnungsbesitzer, öffnete die Tür, öffnete den Wasserhahn, Wasser kam, betätigte den Lichtschalter, Licht war da, alles funktionierte, wir waren zufrieden. Ab und zu kam er vorbei und wir gaben ihm so viel Geld für die Miete, wie wir gerade hatten. Nach zwei Monaten aber stand plötzlich ein Mann vor der Türe und versuchte sie vergeblich mit seinem Schlüssel zu öffnen. Es war der richtige Besitzer der Wohnung, der sein Schloss ausgewechselt fand. Wir suchten über-all nach Mohamed Champagne und fanden ihn. Die anderen wollten ihn verprügeln, aber ich sagte: «Wartet ein bisschen, wir werden miteinander reden.» «Nicht weiter schlimm», sagte Mohamed Champagne ruhig, «Ich kann dir nichts zurückbezahlen, mein Bruder, aber komm mit und nimm, was du willst.» Er nannte mich immer «mein Bruder». Er führte mich in seine Wohnung, die vollgestopft war mit Telefonen, Fernsehern, Matratzen, Lampen, Kleidung, Geschirr und Musikanlagen. «Bediene dich», sagte er, «du kannst alles auf dem Markt verkaufen.» So wurden wir Freunde.
Zum Glück konnten wir in der Wohnung bleiben. Der Wohnungsbesitzer verstand unsere Situation, er machte uns einen kleinen Vertrag und wir bezahlten noch weniger Miete als vorher. Aber ich wollte nicht mit Ma allein in der grossen Wohnung wohnen, wenn draussen überall Leute schliefen. Zuerst war sie nicht begeistert, aber dann hat sie mich verstanden. Also haben wir fünf Frauen aufgenommen, jede hatte auf der Flucht ein kleines Kind bekommen. Sie wohnten ab jetzt im zweiten Zimmer. Fünf junge Männer schliefen im Salon. Sie nannten mich alle Papa Philippe. Wir machten einen Putzplan, Mohamed Champagne installierte uns Internet. Jeder durfte eine Stunde pro Tag ins Internet. Und jeden Tag hielten wir das Bad eine Stunde frei für Ma, die als Coiffeuse arbeitete. Zuerst gab es nur Kartons am Boden, aber Mohamed Champagne brachte uns bald gute Matratzen und gute Kleider aus reichen Wohnungen für die Kinder. Fünfmal hatte ich Männern aus der Wohnung die Überfahrt bezahlt. Mohamed Champagne hat uns mit dem Geld geholfen. Alle haben überlebt. «Geh nicht, Papa Philippe», sagten die Frauen, «was sollen wir ohne dich machen?» Aber ich musste endlich nach Europa, ich konnte nicht in Marokko bleiben.
Die, die leben, leben, die die sterben, sterben
Von Tanger aus sind es nur ein paar Kilometer bis Gibraltar. Es gibt drei Möglichkeiten, nach Europa zu kommen. Es gibt die schwierigste, die schwierige und die am wenigsten schwierige. Wenn du Geld hast, wirst du in einem Auto nach Spanien geschmuggelt. Wenn du zwischen 1‘000 und 1‘500 Euro hast, nimmst du ein Motorboot für zehn bis fünfzehn Personen. Falls du nur 100 bis 150 Euro hast, suchst du dir ein paar andere und ihr kauft zusammen ein Schlauch-boot, du bastelst die Paddel selbst. Von den Schlauchbooten gibt es solche à 150 Kilo für vier Personen, solche à 500 Kilo für acht Personen und solche à 1‘000 Kilo für 16 Personen. Aber überall sind fast doppelt so viele Leute drin. Weder ein Schlauchboot noch ein Motorboot sind für eine Meeresüberquerung gemacht, einverstanden! Wenn du Geld hast, kaufst du dir noch eine Schwimmweste. Es gibt solche für eine Stunde, das sind die billigsten, solche für zwei Stunden und solche für drei Stunden und mehr. Nein, diese Schwimmwesten sind eben nicht dafür gedacht, dein ganzes Leben im Mittelmeer zu verbringen. Wenn du gar kein Geld hast, nimmst du einen Autoschlauch mit.
Es ist teuer, von Tanger bis an die Küste zu kommen. Du brauchst dafür ein Mafiataxi. Einmal am Meer, willst du nicht nach Tanger zurück, du willst endlich los und steigst ein. Niemand rechnet damit, bis nach Spanien zu rudern. Gott muss dir beistehen. Deine einzige Chance ist das Rote Kreuz. Bei der ersten hohen Welle überschlagen sich die überfüllten Boote. Die, die leben, leben, die die sterben, sterben.
Man muss wirklich rudern
Aber bevor du losrudern kannst, musst du die Landwächter und Meereswächter überwinden. Du schläfst zwei bis drei Tage im Wald auf den Felsen und liest die Bewegungen der Wächter unter dir. Du kennst ihre Gebete, du weisst, wann sie müde werden. Du weisst, dass sie schlecht bezahlt sind, du weisst alles von ihnen. Alle fünfhundert Meter haben sie ihre Zelte. Sie spüren unsere Blicke. Sie haben Angst vor uns. Und sie sind wütend, weil sie schlafen wollen. «Wegen euch schlafen wir nicht.» Sobald sie uns sehen, pfeifen sie und die anderen Wächter rennen mit ihren Gummiknüppeln herbei. Aber jedes Mal denkst du, dieses Mal schaffst du es. Du bist also oben auf den Felsen, sie sind unten. Du studierst sie ganz genau, wie eine Katze die Maus. Irgendwann werden sie müde. Das ist der Moment. Dann ziehst du die Schuhe aus, rennst barfuss vom Berg herunter. Es ist das Licht des frühen Tages, du bist aufgeregt und aufgewühlt.
Es war mein achter Versuch am 13. August 2013, ein Tag vor meinem Geburtstag. Ich war in einem Schlauchboot à 500 Kilo, anstelle von acht waren wir zwölf Personen.
Wir sind um vier oder fünf Uhr morgens losgefahren. Man muss sehr, sehr schnell rudern, um weit genug zu kommen, damit dich das Rote Kreuz finden kann. Links und rechts wird gerudert, in der Mitte stehen ein paar und schaufeln das hereingekommene Wasser aus dem Boot. Du musst Muskeln haben, du musst wirklich Muskeln haben. Du darfst nicht müde werden, du musst rudern, rudern, mit deiner ganzen Kraft. Aber du bist von der Emotion getragen. Du vergisst den Schmerz, bist in Trance. Etwa sieben Kilometer gegen die Wellen, aber du kommst nicht so weit. Neben der Kälte des Wassers ist es das Wetter, das dich tötet. Es gibt Nächte mit viel Wind, vielen Wellen, drei Meter hohen Wellen. Manch-mal aber ist das Meer ruhig wie ein Teppich und du könntest eigentlich einfach hinüberspazieren. In jener Nacht waren die Wettervorhersagen weder ganz schlecht noch sehr mild. Es war eine Nacht nach dem Ramadan (islamischer Fastenmonat, Anm. d. Red.). Wir wussten, dass die Wächter uns lassen würden, dass sie ein Opfer bringen diese eine Nacht. Aus diesem Grund gab es viele Boote. Es waren etwa vierhundert Schlauchboote in jeder Grösse unterwegs. Das Ufer ist lang, aber ihr findet euch wieder in gleicher Richtung. Im Wasser habe ich Lei-chen gesehen, die in Schwimmwesten an uns vorbei getrieben sind, auch Kinder waren darunter. Auch noch lebende Menschen trieben im Wasser und schrien. Aber wir konnten nichts machen wegen des Gewichts. Du denkst in diesem Moment nur an dich. Erst später sinken die Toten ab, werden von einem Wasserwirbel verschluckt oder an den Strand gespült. Sie waren zu früh losgefahren, vielleicht schon um Mitternacht oder um zwei Uhr morgens. Sie waren schon zu lange im Wasser. Aber es ist die Kälte, die dich tötet, auch wenn du eine Schwimmweste trägst. Das Rote Kreuz macht erst um fünf Uhr morgens seine Runde, darum darfst du nicht zu früh losfahren. Nach etwa drei Kilometern hat auch uns eine Welle umgeworfen. Sobald ich im Wasser war, habe ich mich am Boot festgehalten. Wir waren schon weit im Meer.
Als hättest du Gott gesehen
Im Wasser siehst du das Boot vom Roten Kreuz, als ob du Gott sehen würdest. Es hat eine orangene Farbe. Ja, du bist tot, du wusstest es, neben dir sind Tote, plötzlich siehst du Gott, du bist sicher, dass du Gott gesehen hast. Du siehst, wie er kommt. Sie kommen nicht direkt auf dich zu, wegen der Wellen, sie machen einen Umweg, drehen sanft um dein Boot, dann fischen sie dich mit merkwürdigen Apparaten aus dem Wasser. «Es ist fertig, beruhige dich, alles ist gut», sagen sie. Jetzt beginnt die Zukunft. Jetzt hast du alles hinter dir. Sie geben dir eine Wärmedecke. Dann suchen sie weiter. Du bist überglücklich, du willst nur noch zum spanischen Ufer. Alle schreien vor Freude. Es gab in jener Nacht etwa zweihundert Tote. Etwa neunzig Leute wurden gerettet, von unserem Boot haben alle überlebt. Wir waren nur zwanzig Minuten im Wasser. Sie suchten noch eine Weile, aber wenn sie niemanden mehr finden, wenden sie Richtung Spanien. Es dauert nur dreissig Minuten bis zum Ufer von Tarifa, es sind nur vierzehn Kilometer. Ich habe gehört, dass es Gerettete gibt, die am Ufer von Tarifa vor Freude sterben. Sie haben es vielleicht zwanzig Mal versucht und jetzt, am Ufer des Paradieses angekommen, sterben sie vor Freude. Ich kann es mir aber nicht richtig vorstellen, wie soll das gehen, jetzt beginnt doch das Leben. Wenn du ankommst, kommst du als Ausserirdischer an. Alle wissen, dass es unmöglich ist, das Meer zu überqueren. Du kommst an wie ein Wunder. Alle machen Selfies mit dir. Im Arztbüro gibt es überall Fotos von uns. Sie wissen, wenn du das geschafft hast, bist du ein Ausserirdischer. Jetzt ist die Frage, wie man von einem Ausserirdischen zu einem legalen Menschen wird. Ich warte. Es gibt immer eine Lösung. Man muss immer nach vorne schauen und überlegen. Du klammerst dich an Gott und an die Hoffnung. Und jetzt, wo du meine Geschichte kennst, verstehst du, warum ich jeden Tag lachen muss.