FRANKREICH: Die Konfliktsituation spitzt sich zu!

de Bernard Schmid, Anwalt, Paris, 1 déc. 2019, publié à Archipel 287

Seit Monaten streikt und demonstriert das Personal der Notaufnahmen in französischen Spitälern angesichts radikaler Sparmassnahmen auf Kosten von Mitarbeiter·inne·n und Patient·inn·en. Im Dezember 2019 wird gegen eine weitere Verschlechterung des Rentensystems in Frankreich demons-triert, protestiert und gestreikt. Massive Sozialproteste finden am 5. Dezember, nach Redaktionsschluss dieses Artikels, statt.

Im Laufe der nächten Wochen wird sich herausschälen, wer als Gewinner·in oder Teilsieger·in aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen wird. Gegenstand des sozialpolitischen Kräftemessens zwischen Regierung, Gewerkschaften und ausserparlamentarischer Protestbewegung (sowie Teilen der parlamentarischen Opposition, als deren Unterstützer·innen oder in ihrem Schlepptau) ist die neueste geplante Renten«reform»1. Einmal mehr soll das Eintrittsalter in die Rente angehoben werden.

Zuletzt war das Mindestalter von 60 auf 62 angehoben worden (2010), doch hatten die bisherigen «Reformen» vor allem an einer anderen Stellschraube gedreht, nämlich jener, die die Zahl der erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse anhebt. Diese betrug bis zu der rückschrittlichen «Reform» von 1993 noch 37,5 Jahre für alle Beschäftigten, danach 40 Jahre in der Privatwirtschaft; mit der ebenfalls regressiven «Reform» von 2003 wurde sie nun auch in den öffentlichen Diensten auf 40 angehoben, und mit jener von 2010 auf 41,5 Beitragsjahre für alle Lohn- oder Gehaltsabhängigen. Seit der bislang letzten sogenannten «Reform» von 2013/14 soll die Anzahl der Beitragsjahre, mit Übergangsregelungen, sukzessiv auf künftig 43 steigen.

Doch noch blieb bislang das offizielle Renteneintrittsalter von 62 Jahren, wie es 2010 eingeführt worden war (mit voller Wirkung ab 2018), unangetastet. Im europaweiten Vergleich liegt es eher im relativ niedrigen Bereich. Allerdings hat es auch bislang eher einen theoretischen Gehalt. Denn wer weniger als die erforderlichen Beitragsjahre aufweist, muss entweder bis zum Alter von 67 (gültig seit 2017) mit der Pensionierung warten, um eine volle Rente beziehen zu dürfen, oder aber wird mit finanziellen Abzügen an der Pensionszahlung bestraft. Nun-mehr soll das Minimalalter auf 64 angehoben werden. Darunter soll eine Verrentung zumindest mit Strafabzügen verbunden sein.

Streikbewegung

Zuletzt wurde in Frankreich eine Renten«reform» im Jahr 1995, in Gestalt des so genannten «Juppé-Plans» – nach dem damaligen Premierminister Alain Juppé benannt – durch eine mächtige Streikbewegung verhindert. Durch das Kippen der damaligen Regierungspläne wurde etwa das Vorhaben gestoppt, die günstigeren Sonderregelungen für die Rente in einzelnen Bereichen, insbesondere bei den Beschäftigten in Verkehrsbetrieben, wie der Eisenbahngesellschaft SNCF, aufzuheben. Diese sollen nunmehr nach dem Willen der aktuellen Regierung erneut angegriffen werden: Die Rentenregelungen sollen für alle Beschäftigten aneinander angeglichen werden, allerdings «nach unten», also im Sinne einer Verschlechterung für alle. Dieses Vorhaben wird von Regierungsseite im Namen von «Gerechtigkeit» und der «Abschaffung von Vorrechten und Privilegien» gerechtfertigt. Doch schenkt man den letzten Umfragen Glauben, dann gehen zwei Drittel der Gesellschaft diesem vordergründigen «Anti-Privilegien»-Diskurs nicht auf den Leim, sondern lehnen seine Kernaussage ab.

Ähnlich wie im Spätherbst 1995 haben auch dieses Mal die Beschäftigten der Transportbetriebe – der SNCF sowie der Verkehrsbetriebe im Grossraum Paris, also der RATP (Régie autonome des transports parisiens) – als Erste die Initiative für den Aufbau einer Streikfront im Dezember d.J. ergriffen. Bereits am 13. September 2019 hatten dieselben Beschäftigtengruppen einen eindrucksvollen eintägigen Streik im Raum Paris durchgeführt, als Warnsignal an die Regierung und 24 Stunden lang den öffentlichen Verkehr dort (mit Ausnahme mancher Buslinien) komplett lahmgelegt. Bei der Bahngesellschaft SNCF fanden ferner im Laufe des Herbstes mehrere Wellen von Arbeitsniederlegungen statt, etwa gegen das Vorhaben der Bahndirektion, in den Mechanikwerkstätten zwölf freie Tage jährlich (als Freizeitausgleich für Nacht- und Wochenendarbeit) einfach zu streichen. Jetzt soll zu einem unbefristeten Streik aufgerufen werden, mit Schwerpunkt in den Verkehrsbetrieben, über dessen Fortführung die Streikenden an der Basis alle 24 Stunden in Versammlungen entscheiden. Diese Form (grève reconductible) wird von den Regierenden am meisten gefürchtet.

Hinzu kamen im Laufe der Wochen jedoch auch Streikaufrufe in anderen öffentlichen Diensten, beim Elektrizitätsversorger EDF – wo die CGT der Energiebranche mit punktuellen Stromabschaltungen droht –, aber auch etwa in der chemischen und petrochemischen Industrie. Im, von Kaputtsparpraktiken, mangelnder Mittel- und Personalausstattung und massivem Arbeitsstress schwer gebeutelten öffentlichen Krankenhauswesen, wo bereits zuvor im Oktober und November gut befolgte tageweise Arbeitskämpfe stattfanden, wird für Dezember ebenfalls zum Streiken aufgerufen. In diesem Bereich geht es neben den Renten darüber hinaus um die schlichte Rettung des öffentlichen Sektors, während die aktuelle Regierungspolitik de facto darauf hinausläuft, die – zahlungspflichtigen – Privatkliniken zu begünstigen.

Und die Gelbwesten?

Am ersten Wochenende im November 2019 hatten auch die Delegierten der Kollektive der «Gelbwesten» (gilets jaunes), die sich zu einer «Versammlung der Versammlungen» in Montpellier trafen (dem vierten Delegiertentreffen nach denen von Commercy im Januar, Saint-Nazaire im April und Montceau-les-Mines im Juni), zum Anschluss an die Streiks und Sozialproteste ab dem 5. Dezember aufgerufen. Dies leitet insofern einen Richtungswechsel ein, als jedenfalls ein Teil der Gelbwesten bis dahin tendenziell die Gewerkschaften als «Teil des Etablishments» abtat – was für manche Apparate, respektive ihr Führungspersonal, zutreffen mag, es jedoch zwingend erforderlich macht, diese von ihrer lohnabhängigen Basis zu unterscheiden, wie die Delegierten der Gelbwesten dies auch richtigerweise taten.

Anfänglich war die Bewegung der Gelbwesten – in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung – eine politisch-ideologisch heterogene Protestfront, die aus linken wie rechten Elementen bestand. Formulierte ein Flügel Fragen nach Steuergerechtigkeit aus der Sicht einer Kritik an sozialen Ungleich- und Ungerechtigkeiten, existierten auch rechtslastige Kräfte innerhalb der uneinheitlichen Bewegung, die zB. Steuern als Ausdruck einer (wie auch immer organisierten und ausgerichteten) gesamtgesellschaftlichen Solidarität generell ablehnten und/oder die Kleinunternehmen verteidigten. Die rechten Kräfte, jedenfalls die organisierten, haben sich mittlerweile jedoch (ausser auf örtlicher Ebene) eindeutig zurückgezogen. Aus ihrer Sicht wurde es unübersichtlich, zu unordentlich, zum Teil zu militant, zu stark mit Linken durchmischt, usw. Überdies haben es die organisierten Rechten nicht geschafft, die Gelbwesten als solche zu einer Anti-Einwanderungs-Bewegung umzuformen, wie sie vor allem im Kontext der Debatten um den «Pakt für Migrantenrechte» – unterzeichnet in Marrakesch am 10. Dezember 2018 unter der Ägide der Vereinten Nationen, mit Unterschrift der meisten europäischen Regierungen und weitgehend nur symbolischem, rechtsunverbindlichem Gehalt – angestrebt hatten. Was die organisierten Rechten (wie der Rassemblement National/RN) nun tun, ist, sich ausserhalb der verbliebenen Gelbwestenbewegung als solcher – und stattdessen im wahlpolitischen Raum – aufzustellen, sich dabei jedoch das Etikett ihrer (vormaligen, angeblichen oder tatsächlichen) Teilnahme an dem heterogenen Protest anzupappen, um sich zu den «wahren Erben der Anliegen der ursprünglichen Protestierer» aufzuschwingen. Ohne die jetzigen Protestierenden aktiv zu unterstützen.

Ein Jahr – und wie geht es weiter?

Zugleich befindet sich die Gelbwestenbewegung als eigenständiger politischer Faktor seit Sommer/Herbst 2019 tendenziell im Niedergang. Ihr erster «Geburtstag», also die Proteste zum Jahrestag ihrer Gründung (17. November 2018), am Wochenende des 16./17. November 2019, beschäftigte zwar die Medien, führte jedoch objektiv nicht zu einer wirklich starken Mobilisierung. Laut Zahlen des Innenministeriums nahmen am 16. November 2019 in unterschiedlichen Städten in ganz Frankreich 28‘000 Menschen, laut Angaben von Veranstalter·inne·n hingegen 39‘300 Menschen an Protesten teil. Dies sind Grössenordnungen, die erheblich unterhalb derer bei den Protesten ein Jahr zuvor, aber noch stärker unterhalb jener bei den Sozialprotesten mit gewerkschaftlicher Unterstützung liegen.

In Paris liefen einige Aktionen komplett aus dem Ruder, wobei jedoch von einer Form der Provokation seitens der Staatsmacht gesprochen werden kann – deren Kalkül letztlich aufging. Der dümmste Teil der erlebnis- und adrenalinorientierten Protestfraktion gab sich Ausschreitungen hin, die nur als kontraproduktiv bezeichnet werden können. Unter anderem wurde eine Bushaltestelle zertrümmert – auf dass Pariser Angestellte nun im Regen auf den Bus warten müssen – um die bisher auf den Glasflächen inserierenden Werbeunternehmen zu bestrafen, ein Gefallenendenkmal für im Zweiten Weltkrieg gegen die faschistischen Achsenmächte kämpfende Soldaten ebenso.

Tatsache ist aber auch, dass die Pariser Polizeipräfektur (die direkt dem Innenministerium untersteht) diese Situation wohl einkalkuliert hatte und mit ihr rechnen musste. Sie war es, die, nachdem sie die Champs-Elysées als Austragungsort für die (angemeldeten) Demonstrationen vom 16. November verweigert hatte, den im südlichen Teil des Stadtgebiets gelegenen Place d’Italie als Auftaktort festgelegt hatte. Dieser Platz, rund um das Bezirksrathaus des 13. Pariser Arrondissements, wird jedoch derzeit von drei Baustellen geprägt. Reichlich Baumaterial steht und liegt herum. Auf den Champs-Elysées – als aus Sicht der Staatsmacht strategisch wichtigem Ort, in quasi unmittelbarer Reichweite des Elyséepalasts – war im Frühjahr 2019 bei grösseren Gelbwesten-Terminen Sorge dafür getragen worden, dass in deren Vorfeld Baustellen versiegelt oder abgebaut wurden. In diesem Falle passierte dies jedoch nicht – als ob man die idiotisch randalierende Fraktion geradezu provozierend dazu einladen wollte, tätig zu werden, auf dass die Sache auch nur ja schön aus dem Ruder laufen möge… In diesem Sinne erklärte etwa auch der sozialdemokratisch-linksliberale Bezirksbürgermeister des 13. Pariser Arrondissements noch am Wochenende, dass er sich über die Festlegungen der Polizeibehörde wundere. Er nahm es sicherlich (jedenfalls in seinen öffentlichen Äusserungen) eher als Inkompetenz und Ungeschick wahr, wo man wohl ebenso gut eine kalkulierte Strategie der Provokation und der Spannung vermuten könnte, wie viele Angehörige des Protestlagers es nun tun.

Für die Pariser Demonstration am 5. Dezember legte die Polizeipräfektur wiederum fest, diese solle von der Place d’Italie aus beginnen. Na, wenn das keine Strategie darstellt… Auch die staatliche Repression kam in der jüngsten Periode nicht zu kurz. Ein 41jähriger Leiharbeiter aus dem nordfranzösischen Valenciennes, Manuel, verlor am 16. November ein Auge. Er gehörte keineswegs zum randalierenden Narrensaum, sondern stand, die Hände in den Hosentaschen, seelenruhig diskutierend in einer Gruppe auf der anderen Seite des riesigen Platzes. Zwei belgische Staatsangehörige wurden am selben Tag festgenommen und zunächst den Strafrichter·inne·n vorgeworfen, die sie von allen Vorwürfen illegaler Handlungen freisprachen, danach jedoch in französische Abschiebehaft nahmen. Es bleibt zu hoffen, dass die Breite der sozialen Protestmobilisierung in den letzten Jahreswochen dem zynischen Kalkül der Regierung mit solchen und anderen Provokationen einen Strich durch die Rechnung macht.

  1. nach den Renten«reformen» von 1993, genannt «Balladur-Reform», von 2003 unter dem damaligen Sozialminister François Fillon und Präsident Jacques Chirac, von 2010 unter der Präsidentschaft und Verantwortung Nicolas Sarkozys sowie von 2013/14 unter Präsident François Hollande.