FRANKREICH ITER - Fabrik des Absoluten Zweiter Teil

9 mai 2006, publié à Archipel 137

Was ist Energie außer Macht über die Materie? Und diese Materie ist nichts anderes als die Substanz der Welt: ihr und ich, die Natur, in der wir leben, und die Grundlagen des Lebens an sich. Energie ist letztendlich die Fähigkeit, die Welt zu verändern.

Wenn ITER die Nuklearfusion gelingt, wer waltet dann über die enorme produzierte Energiemenge? Das sind natürlich weder Sie noch ich, sondern in erster Linie der Staat und die Industrie, die Milliarden von Euros in dieses Projekt gesteckt haben. Und was werden diese dann mit der grenzenlosen Energie anfangen, die ihnen plötzlich zur Verfügung steht? Kann man auch nur einen Augenblick lang glauben, dass sie in Zukunft die Energie vernünftiger und sorgsamer als bisher nutzen werden? Man sieht sie schon konfrontiert mit den Problemen der nuklearen oder chemischen Verschmutzung, den Umweltschäden, dem Klimawechsel und den ausgehenden natürlichen Energieressourcen. Die Verweigerung, diesen Tatsachen ins Auge zu blicken, und eine Flucht nach vorn sind ihre einzige Antwort. Die seltenen Geistesblitze gewisser Staatsmänner («Das Haus steht in Flammen, und wir schauen weg», Äußerung von Jacques Chirac auf dem Umweltgipfel 2002 in Johannesburg) zeigen nur ihre Ohnmacht in Anbetracht der unerbittlichen Logik einer Maschinerie, deren maßlose Ansprüche und katastrophale Folgen sie entsprechend einer «sozialen Akzeptanz» nicht mehr als verwalten können.

Zudem sehen wir seit mehr als einem Jahrhundert, wie die kapitalistische und industrielle Wirtschaft - mit Unterstützung der Staaten – die Welt verändert hat, indem sie schrankenlos Energieressourcen wie Kohle, Gas, Erdöl und Uran ausbeutete. Diese Energie kostete nur den Förderungspreis, die Verarbeitung und den Transport zu den Verbraucherorten. Während langer Zeit und selbst noch heute, kostete das nicht allzu viel, aber immer noch zu viel für eine Ökonomie, die auf einer beschleunigten Warenzirkulation beruht. Dies bedeutet einen unerträglichen Zwang, eine inakzeptable Einschränkung der weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Wenn die Staaten und Großindustriellen endlich über grenzenlose Energie verfügen, werden sie diese auf die gleiche Art und Weise nutzen, wie sie es bereits in den letzten 50 Jahren getan haben: Die Logik einer abstrakten Energieanhäufung, die diesen exzessiven Strukturen eigen ist, nimmt einen neuen Aufschwung, alle zerstörerischen Tendenzen, die wir seit Beginn des Atomzeitalters erleben konnten, werden einen neuen Höhepunkt erreichen. Diese großen Apparate wären also energiemäßig völlig autonom bisher hielten Natur und Gesellschaft so gut wie möglich (und schlussendlich immer schlechter) Ehrgeiz und Vermessenheit im Zaume. Nichts würde sie mehr hemmen, die Welt zu verändern, das heißt die Natur und den Menschen auszubeuten, zu beherrschen und unwiderruflich zu zerstören. ITER wäre also tatsächlich eine Fabrik des Kapitalismus und des Staates in ihrer absoluten Form, mit anderen Worten völlig totalitär (siehe Buchbesprechung).

ITER gehört zu jener Art von technischen Lösungen, die politische, soziale und ökologische Probleme mit sich bringen: Anstatt die unüberwindlichen Hindernisse, welche der Industriegesellschaft innewohnen, anzuerkennen, hofft man, diese mit einem Schlag mittels «kontrollierter» Nuklearreaktionen ausschalten zu können; wahrscheinlich auf die selbe Art wie man anderswo eine «Justiz ohne Grenzen» mit kleinen «chirurgischen» Eingriffen einsetzt. Anstelle die «Lebensweise», die auf grenzenlosem Konsum basiert, anstatt die Diktatur einer Ökonomie, die auf Konkurrenz und somit Anhäufung und grenzenlosem Wachstum des Energieverbrauchs beruht, in Frage zu stellen, investieren die Staaten Milliarden in eine wissenschaftsgläubige Flucht nach vorn; in einen Kult der «Technologie, die auf alles eine Antwort hat». Unsere Infragestellungen dieses Kultes sind ganz sicher kompliziert, und letztendlich geht es um nichts anderes als um eine Revolution, das heißt um eine radikale Veränderung der Beziehungen des Menschen zur Natur, die nicht mehr wie ein Objekt, eine Maschine oder wie eine Macht behandelt wird, die es zu unterwerfen gilt, und der man entsprechend der modernen Wissenschaft die «Geheimnisse ausreißen muss», sondern die uns als eine Partnerin mit eigener Dynamik beim Aufbau unserer Existenz zur Seite steht. Genauso geht es um eine Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen, speziell bei technologischen und institutionellen Schöpfungen, die nicht unbegrenzt hinsichtlich Strukturen und Leistung anwachsen können, ohne kontraproduktive Nebeneffekte sowie die Enteignung des sozialen Körpers von seinen elementaren Aktivitäten hervorzurufen. Dies wurde alles bereits in den 1970er Jahren analysiert, vor allem von Ivan Illich. Im Vergleich dazu sehen wir in der Tat, dass es viel einfacher ist, ein Monstrum wie ITER zu bauen, als sich all diesen Problemen in ihrer Komplexität zu stellen.

Wenig Widerstand

Immer mehr Energie für die Maschinen und großen Strukturen, wo die menschlichen Wesen nicht mehr als ein Zahnrad im Getriebe sind, bedeutet immer weniger Macht für den Menschen, für das Individuum und schließlich für die Kollektivität, in welcher es lebt. Angesichts dieser unmissverständlichen Tatsache muss man feststellen, dass sich bis jetzt recht wenig Widerstand in der Lokalbevölkerung gegen dieses Projekt geregt hat, was nicht allein der mächtigen Propaganda zugunsten von ITER zuzuschreiben ist.

Die «Umweltschützer» schauen tatenlos zu, wie man versucht, die Sonne auf die Erde zu holen, anstatt eine effizientere Nutzung der Energie, welche uns die Sonne auf natürliche Art von oben schickt, in Angriff zu nehmen. Der Conseil Général (Regionalrat) vom Departement Alpes de Haute-Provence versprach schlauerweise diesen Grünen 152 Millionen Euros (ebenso viel wie er in ITER investiert), damit sie die erneuerbaren Energien entwickeln können und im Gegenzug die französische Atomindustrie in keiner Weise in Frage stellen. In den Rang von Co-Geschäftsleuten des produktivistischen Deliriums gehoben, fordern uns diese ITER-Grünen auf, gemeinsam mit ihnen vor Entscheidungen zu katzbuckeln, die bereits vom Staat getroffen wurden, indem sie sich ein «Alternativ-ITER» auf Basis ihrer geliebten erneuerbaren Energien vorstellen. Kurz gesagt: Sie identifizieren sich mit dem System, das sie beherrscht (und ernährt). Für sie besteht das Problem nicht darin, was mit all der produzierten Energie angestellt wird, sondern einzig und allein, ob sie sauber produziert wird. Dies trägt noch mehr zur Verwirrung in vielen Köpfen bei, die intuitiv spüren, dass ITER nichts von alledem lösen wird, was seine Initiatoren versprechen (in den letzten Jahrzehnten dienten die gentechnisch veränderten Organismen, die Gentechnik usw. dazu, den technologischen Bluff 1 zu veranschaulichen), denn es ist eine Flucht nach vorn in den Wahnsinn, ebenso wie das gesamte ökonomische und technische System, das dazu gehört.

Denn darin liegt das Problem: ITER ist nur ein Element eines viel größeren Systems, in welches wir alle eingebunden sind, ob wir wollen oder nicht. Wenn es scheinbar für die Wissenschaftler einfacher ist, die Sonne auf die Erde zu holen, anstatt die Energie ihrer Strahlen aufzufangen, liegt dies auch daran, dass es in unserem täglichen Leben neue Bedürfnisse gibt, wie bspw. ein Auto zu haben, wenn man auf dem Land wohnt. Die industriell hergestellten Waren ersetzen mehr und mehr unsere Fähigkeit, unsere Bedürfnisse mit Hilfe lokaler Ressourcen sowie der eigenen Aktivität, verbunden mit der von anderen, zu befriedigen. Jeder spürt, dass wir leider alle schon sehr weit in dieser radikalen Entwertung der menschlichen Tätigkeit und beim Abbau der Voraussetzungen für eine Autonomie gegenüber diesem System gegangen sind. Ein Element zu kritisieren bedeutet zugleich das Gesamte in Frage zu stellen; angefangen bei der Tatsache, dass man selbst darin verstrickt ist, davon lebt.

Das Vergessen oder die Verdunkelung des Begriffs Autonomie – das Gegenteil zu allem, was das System unterstützt – ermöglicht den «Verantwortlichen», ITER als eine Maschine anzupreisen, die uns von der Abhängigkeit der Natur befreit, während sie in Wahrheit das Symbol für die monströse Unterwerfung des Menschen unter die ökonomische und technologische Riesenmaschinerie des Kapitalismus ist. Die einhellige Begeisterung der «Verantwortlichen» (seien sie gewählt oder nicht) für ein Projekt, das auf Zeit die Realisierung eines «Hors-sol-Lebens» bedeutet, erstaunt schon. Rechts wie links sind alle, die sich als «Volksvertreter» betrachten, fasziniert von der technologischen Entwicklung, die uns «befreien wird von der Arbeit» auf den Feldern und den Werkstätten, die schmutzig und mühselig ist, und der ökonomischen Entwicklung, die «Arbeitsplätze schaffen wird» in den Dienstleistungen und der Kultur, die sauber und angesehen sind. Ein sonderbares soziales Projekt mit dem scheinbaren Ziel, alle unsere Verbindungen zur Natur – außer den technologischen – zu kappen; ein Projekt, bei dem die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr an die kollektiven Tätigkeiten bei der Schaffung unserer Existenz und dem Aufbau einer gemeinsamen Welt gebunden sind. Fasziniert von der Energie und den Maschinen wollen uns diese Politiker in der Welt des Absolutums leben lassen, wo Energie und Maschinen alles können. Dabei besteht die Gefahr, dass die Bedingungen für ein freies Leben zerstört und wir darauf reduziert werden, kleine Rädchen in ihren großen Kombinationen, Variablen in ihren Rechnungen und Rohstoffe für ihre Apparaturen zu sein.

Philosophie?

Jenseits all der speziellen und lokalen Gründe, ITER abzulehnen - wie etwa die Erhaltung einer gewissen Autonomie der Einwohner in dieser Region - ist es die dem ITER-Projekt zugrunde liegende «Philosophie», die es abzulehnen gilt. Sie versucht sich in der Gesamtheit der technologischen Projekte am Anfang dieses 21. Jahrhunderts zu materialisieren: Gentechnik, Nanotechnologie; elektronische Überwachungs- und Identifizierungssysteme wie die Biometrie und dergleichen.

In diesem Zusammenhang von «Philosophie» zu sprechen, ist eigentlich gewagt, denn genau genommen ist es das Nichts des politischen Denkens, in das wir mit voller Wucht geraten sind. Schauen wir uns doch die in Frankreich und Europa demokratisch gewählten Vertreter an: Alle vereint bei der Verteidigung dieses Projektes, das, sollte es realisiert werden, auf die Negation der Demokratie hinauslaufen würde. ITER wurde entschieden, ohne die Bevölkerung zu befragen. Die französischen Behörden, bemüht ihr demokratisches Image aufzupolieren, haben danach beschlossen, eine «öffentliche Debatte» anzuberaumen, um die Bevölkerung vor Ort in die Konsequenzen des Projekts einzubinden. Einige Dutzend Widersacher wagten es, die Maskerade dieser «Debatten» aufzuzeigen, indem sie zwei Diskussionen am 26. Januar und 2. Februar 2006 störten.

Sehen wir uns einige Kommentare der Protagonisten an.2 Zuerst Yannick Imbert, Direktor des Projekts beim Ministerium des Inneren und für Raumplanung zuständig: «Sie sagen, dass unser vorgeschlagenes Projekt nicht legitim sei, da die Meinung der Bevölkerung fehle. Unter dem Vorbehalt jeden Tag die Institutionen und die Gesellschaft neu gestalten zu wollen, gestatten Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass32 Nationen, 32 demokratisch gewählte Regierungen entschieden haben, an diesem Projekt teilzunehmen. Ich bin für die öffentliche Debatte und freie Meinungsäußerung eines jeden Menschen, aber nicht um den Preis einer Umkehrung unserer Institutionen.»

Es ist vielleicht nicht unbedingt notwendig «jeden Tag die Institutionen und die Gesellschaft neu zu gestalten» , aber wenigstens ab und zu. Vor allem wenn man feststellt, dass die so genannt «demokratisch gewählten» Behörden die Demokratie mit Füssen treten, indem sie seit Jahrzehnten gegen den Willen der Bevölkerung eine Atomindustrie entwickeln.

Schauen wir uns den Kommentar von Christophe Castaner, Bürgermeister von Forcalquier und Vizepräsident des Bezirksrates, an: «Der Regionalrat wurde durch einen Vertrag gewählt, den er mit den Bürgern abgeschlossen hat. Er hat klipp und klar gesagt, dass er 152 Millionen Euro zur Verfügung stellt, um dieses Projekt zu begleiten. Dies stand in seinem Programm und der Rat wurde gewählt. Ich bin der Auffassung, dass die Abgeordneten, die heute Abend hier reden, sehr wohl befugt sind, im Namen aller Bürger zu sprechen.» Diejenigen, die nicht für Castaner gestimmt haben oder sich nicht in den Programmen der anderen Kandidaten für diesen Posten wieder finden, bleibt nichts weiter übrig als zu schweigen!

Das Gleiche wäre, zu behaupten, dass alle Leute wie Jean-Claude Chauvin, pensionierter CEA-Angestellter (CEA-französisches Atomforschungszentrum) und militanter Kommunist, dächten: «Eine der Konzessionen für den Erfolg des ITER-Projektes ist die soziale Akzeptanz». Das CEA mobilisiert seine Angestellten und Rentner, um an diesen «öffentlichen Debatten» teilzunehmen und somit das Terrain zu besetzen.

Scheindemokratie

Hieran sieht man, dass sie diese Demokratie in Wirklichkeit gar nicht wollen, sie verachten und sogar mehr als alles andere fürchten. Sie wahren zwar den Schein, indem sie wortgetreu die juristischen Formen respektieren, sind aber fernab von ihrer Essenz. Es ist eine Verhöhnung der Demokratie, da die «Diskussion» nur mit jenen Bürgern geführt werden soll, die sich den diktierten Bedingungen unterwerfen und welche die bereits getroffenen Entscheidungen akzeptieren. Mit einem Wort: Die anerkennen, dass nicht mehr das Volk «Souverän» ist, sondern diejenigen, die die Macht besitzen, es zum Schweigen zu bringen. Die «demokratischen Nationen» sind, wie Castoriadis sagte, in Wirklichkeit nichts anderes als «liberale Oligarchien», welche die Meinungsfreiheit unter der Bedingung akzeptieren, dass sie keine praktischen Konsequenzen hat. 3**

Im Gegensatz zu den Ideologien, die das 20. Jahrhundert bewegten, präsentiert sich ITER als rein wissenschaftliches und technologisches Projekt, auserkoren, die Energieprobleme des Planeten zu lösen. In der Tat enthält es implizit ein soziales und politisches Projekt, das seine Wurzeln in den dunkelsten Stunden des 20. Jahrhunderts hat. Es kann in der Tat nur die dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen auf ihren Höhepunkt treiben.

Wenn die Menschheit heutzutage etwas braucht, dann sicherlich nicht physikalische Energie im Überfluss. Es ist vielmehr die Energie, um unser Leben in die Hand zu nehmen und dieser Machttyrannei ein Ende zu setzen.

Bertrand Louart

Februar/März 2006

  1. Titel eines Werkes von Jacques Ellul

  2. Auszug aus dem verbatim der Debatte vom 2. Februar 2006 in Manosque; abrufbar auf der Website von CNDP:

www.debatpublic-iter.org
  1. Es ist höchstwahrscheinlich aus diesem Grunde, dass das CNDP, welches diese «öffentlichen Debatten» organisiert, zu Zeiten einer hohen Nutzung des Internets (mehrere Mega-Bytes pro Sekunde), gerne jedem Bürger, damit er sich zu ITER äußert, lausige 12.000 Zeichen (das entspricht 12 Kilobytes oder 4 Schreibmaschinenseiten) zugestehen will und kein einziges m