GEORGIEN : Ein «verlorenes Paradies» 1. Teil

17 févr. 2004, publié à Archipel 112

Georgien erscheint plötzlich auf der internationalen Bühne. Am 23. November 2003 stürzt ein Staatsstreich den Präsidenten Eduard Schewardnadse1 , Präsidentschaftswahlen folgen am 4. Januar. Ein prowestliches Regime installiert sich. Die neue georgische Führung begrüßt die Forderung Donald Rumsfelds, dass alle russischen Stützpunkte verschwinden sollen. Die amerikanischen Militärberater sind schon in den Startlöchern, der NATO-Beitritt wird ins Auge gefasst.

Die westlichen Medien haben diesen Wechsel, den man "Revolution der Rosen" taufte, sehr wohlwollend kommentiert. Ziele des Umsturzes sollten das "alte, korrupte Regime" und die nationalen Separatismen (Abchasien, Ossetien, Adscharien) sein. Die zivilgesellschaftliche Bewegung, die den Wechsel vorbereitete, ist eingebettet in Institutionen, NGOs und Stiftungen, die an die USA gebunden sind, allen voran die ‚Open Society‘ von Georges Soros. Warum ist Georgien plötzlich so aktuell? Vom Nahen Osten und dem Irak bis nach Zentralasien und Afghanistan erstreckt sich ein Krisenbogen, in dem globale Beziehungen umgestaltet werden. In seinem Zentrum liegen der Kaspische Raum und der Kaukasus mit ihren Erdölvorkommen. Ehemals sowjetisch, erwecken diese Gebiete das strategische Interesse der USA und erlangen wachsende Bedeutung für die NATO.

Georgien ist der Schlüssel zum Kaukasus, mitten im Energie-Korridor, der mit der BTC-Pipeline 2 das kaspische Erdöl aus den russischen Einfluss-Sphären ableiten soll. Moskau kontrolliert bisher noch die Gas- und Stromversorgung Georgiens und muss von den Bestrebungen im westlichen Lager alarmiert sein. Zumal der georgische Nationalist Michaïl Sakaschwili ankündigt, dass eine ähnliche Revolution (antirussisch, pro-NATO) sich in der Ukraine vorbereitet!

Georgien ist zum Spielball der russisch-amerikanischen Rivalitäten geworden und riskiert Aufspaltungen und neue Kriege. Dabei hatte und hat das Land wirklich andere Reize: eine Geschichte, ein Mosaik der Völker und ursprünglicher Kulturen.

Ein "Paradies", mitten im Reich des Bösen ?

Meine ersten Eindrücke vom sowjetischen Georgien, das ich zwischen 1966 und 1971 entdeckte, sind politisch inkorrekt. Zählen wir sie zu den Jugend-Illusionen. Ein Problem der rosa Brille? Moskau, der Ort an dem ich in dieser Epoche lebe, inspiriert mich mit eher veralteten optimistischen Visionen. Von dieser sowjetischen Welt-Hauptstadt, die sich mit dem Schicksal der arbeitenden Menschheit belädt, nach Tbilissi, der warmen, unbekümmerten Stadt, in den Breiten der Toscana, gerate ich wie in einen Zustand der Schwerelosigkeit. Einen Moment lang vergesse ich die großen Perspektiven und die Spannungen des Moskauer Lebens für einen trunkenen, georgischen Bummel. Schreiben wir das dem Tsinandali oder dem Mukuzani zu, den georgischen Weinen. Ergeben wir uns dem Zauber von Tbilissi, einer Stadt von menschlicher Größe, an die Abhänge der Kura geheftet, mit ihren verschlungenen Gassen, der Redekunst der Tamadas 3 und dem Bann der rustawischen Chöre. Ich zeichne das Bild einer Ansichtskarte, in der das georgische Proletariat sicher keinen Platz hat! Da warten noch andere Überraschungen: Eine Ästhetik des Lebens, wie etwa die Tischrituale, wo man zuerst mit den Augen isst. In Georgien würde man einen Hering eben nicht auf dem Zeitungspapier auspacken. In Zeiten des Mangels verwirrt der Überfluss der georgischen Märkte. Und woher kommen all die neuen Autos in den Straßen? Die verärgerten Russen sagen, dass die Georgier "morgens ein Flugzeug nach Moskau nehmen, dort ihre Tomaten verkaufen und abends mit einem saftigen Gewinn heimkehren." Seltene Waren in Kombination mit den spottbilligen sowjetischen Flügen, das war ein gutes Geschäft. Außer Plan. Georgien liegt im Vergleich zur übrigen UdSSR auf einem eher mittelmäßigen Leistungsniveau, sagt uns die Statistik. Sie vergisst jedoch Angaben, die wir von Ökonomen dieses Ortes und dieser Epoche bekommen: Mindestens ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung kümmert sich um die Familiengärten, um Gemüseanbau, Wein und Handwerk ... privat – ein Schimpfwort in jener Zeit. Die Nähe zwischen Stadt und Land und die familiären Bindungen kompensieren die Unzulänglichkeit der staatlichen Versorgung. Obwohl die Auswahl in den Läden sozialistische Nüchternheit dokumentiert, sind die Tische immer reichlich gedeckt.

Hinter den Wortschablonen

Meine erste Reise im Jahr 1966 ist sehr offiziell. Ich habe Gelegenheit, den Hof zu entdecken. Der erste Parteisekretär heißt Vassili Mjavanadse und gebärdet sich wie ein Prinz. Wenn er in einer Parteiversammlung erscheint, kann man eine Stecknadel fallen hören und alle neigen ein wenig das Haupt. Später finde ich Worte für dieses Spektakel: eine Art Feudalismus. Die Mjavanadses waren übrigens eine große Familie. Ein anderer Clan löste sie ab: die Schewardnadses. Vetternwirtschaft fand man in jeder Region. Diese Details entgehen den Wortschablonen unserer Ideologien. Die Verwandtschaftsbeziehungen, die ethnische Zugehörigkeit, der informelle Bereich hatten mehr Gewicht als all unsere "ismen". So versteckte sich hinter dem fiktiven Klassenkampf der reale Kampf der Clans.

Das trifft insbesondere auf jene Länder zu, die, nach der heiligen Formel, vom Feudalismus direkt zum Sozialismus übergegangen waren und den Kapitalismus übersprungen hatten. Im Kaukasus blieben die feudalen und patriarchalen Sitten solide verankert. Die jungen Frauen achteten auf ihre äußere Erscheinung, verglichen mit den Russinnen und den Moskauerinnen, die die Georgier für nicht sittsam hielten. Aber trotzdem unterschied sich Georgien durch den Zugang der Frauen zu Studien- und Arbeitsplätzen und durch soziale Sicherheit von den nichtsozialistischen Nachbarländern Iran und Türkei. Zu dieser Zeit lagen die sowjetischen Länder einige Längen vorn. Georgien bekundete eine Lebenserwartung, Alphabetisierung und Ausbildung beider Geschlechter vergleichbar mit Europa. In Bezug auf die "Demokratie", wenn wir dazu auch den freien Zugang zu Hochschulen und zum Gesundheitswesen zählen, auch hier – ich wage es, das heute zu wiederholen – war das "Reich des Bösen" einen Schritt voraus.

Kulturelle Vielfalt

Die Amtssprache war Georgisch mit einem eigenen Alphabet. Russisch war in der Sowjetunion zwar Staatssprache, dominierte in Georgien auch in führenden Kreisen, war jedoch keine Amtssprache. Es war notwendigerweise Verkehrssprache in einem Land mit 60 verschiedenen Volksgruppen. Der Anteil der Georgier an der Bevölkerung betrug nur knapp 70 Prozent. Unter dem Druck des Volkes wies Georgien 1978 den Moskauer Vorschlag zurück, die russische Sprache gleichrangig mit der georgischen zur Amtssprache zu erheben. Das Gleiche geschah in Armenien zur Zeit der Breschnew-Ära.

Es gab drei Netze des Unterrichtswesens: georgisch, russisch und griechisch und zusätzlich lokal aserbaidschanische, ossetische, abchasische und griechische Schulen. Etwa 60 Volksgruppen und Sprachen, drei Alphabete, sieben Religionen4. ... Mit Entzücken erforschten Ethnologen diesen Garten der Sprachen. In Tbilissi fanden Weltkongresse der Kartwelologen statt; das ist die georgische5 Schriftsprache. Musik war allgegenwärtig. Auf Familienfesten und bei Abenden unter Freunden sang man Volkslieder und rituelle Gesänge. Wie in Russland wurden häufig Gedichte vorgetragen; die Bibliotheken waren gut ausgestattet. Die musikalische Erziehung hatte einen sehr guten Ruf. Georgien faszinierte die russischen Intellektuellen. Boris Pasternak schrieb 1932 in seinen ‚Briefen nach Georgien‘ (dt. 1968): "Dieses Land hat in seiner Lebensart erstaunlicherweise überhaupt keine Änderungen erfahren; ein Land, das auch heute noch irdisch bleibt und sich nicht in die Sphären der Abstraktion hineinziehen lässt; ein Land mit einer eigenen Farbe und einer täglichen Realität, wie groß die Entbehrungen auch sein mögen, unter denen es derzeit leidet." Die georgischen Intellektuellen haben seit dem 19. Jahrhundert die Zweisprachigkeit angenommen und sind von russischer Kultur durchdrungen. Wladimir Majakowski und der Sänger Bulat Okudschawa stammen aus diesem Land. Die UdSSR mit ihren abgeriegelten Grenzen öffnete für georgische Autoren, Schriftsteller und Filmemacher große Freiräume für Übersetzung und Verbreitung in der ganzen Union; sie war selbst ein Relais zur Außenwelt.

Zum 800sten Geburtstag des Dichters Schota Rustaweli, dem mittelalterlichen Autor des Volksepos "Der Mann im Tigerfell", wurde in Dörfern und Städten im Herbst 1966 gefeiert. Diese populären Feiern der Dichtkunst waren beeindruckend.

Das Beispiel der wunderbaren Feste des Liedes in den baltischen Ländern bezeugt die Rückkehr zu den nationalen Traditionen, zumindest jene, die die "Völkerfreundschaft" nicht verletzen. Die Kinos in den Republiken der UdSSR blühten in dieser Zeit auf; in Georgien erlebten sie eine Renaissance: "Der Vater des Soldaten" von Rezo Tscheidse, "Bezauberung" und "Der Baum der Sehnsucht" von Tenguiz Abuladse, "Die Blätter fallen" und "Es war einmal eine singende Amsel" von Otar Josseliani, "Pirosmani" von Eldar Schengueleia, "Einige Interviews zu persönlichen Fragen" von Lana Gogoberidse sind für Kinofreunde um die Welt gegangen.

Die sowjetischen Kulturen waren nicht nur "von nationaler Form und sozialistischem Inhalt", wie es die Klischee-Formel vorgab. Die neuen Wellen in den Kinos, die abstrakte Kunst in Lettland, die Rückkehr Majakowskis und die Inszenierungen eines Meyerhold in den Moskauer Theatern, die zeitgenössische russische Literatur, die bildende Kunst und die Liedermacher skizzierten eine Erneuerung, die über die Folklore hinausging.

Außerhalb der Kunst und der Emotionen blieben systemkritische Überlegungen jedoch auf die Schriftsteller beschränkt. Ihre Äußerungen in Moskau oder Sibirien in gesellschaftskritischen Kreisen oder Randgruppen erreichten Tbilissi nur als gedämpftes Echo. Die freche Kunst im Kino Georgiens spielte nicht Opposition, sondern vielmehr Distanz, Ironie, absurden Humor. Nur selten wurden soziale Themen behandelt, wie in den "persönlichen Fragen" Lana Gogoberidses oder "Reue" von Abuladse. Sie wurden 1987 zu Kultfilmen der Glasnost.

In Georgien gab es aber auch noch andere, überraschende Öffnungen. Serge Tsuladse, ein Psychiater aus Frankreich, versucht in den 1960er Jahren das Tabu zu brechen, unter dem die Psychoanalyse seit dem Ende der 1920er Jahre steht. Der erste internationale Kongress in der UdSSR über das Unbewusste findet in Tbilissi statt. Auf einem anderen Gebiet nimmt das "Institut des Glücks", wie in Tbilissi das Forschungsinstitut für Sterilität bezeichnet wird, das Interesse an Methoden der Empfängnisverhütung, das seit den 1920er Jahren aufgegeben wurde, wieder auf: Die Georgier entwickeln und produzieren die erste Spirale, in der Form eines Regenschirms, zur Freude "der Frauen der Obkom-Sekretäre" (regionale Komitees der Partei). So die bösen Zungen.

Marktreformen und die Jagd auf den Wein

In Georgien leben verhältnismäßig wenig Menschen in Städten: 1979 waren es 50 Prozent, 1989 60 Prozent der Bevölkerung, gegenüber 80 Prozent in Russland und 70 Prozent in Armenien. Die Industrialisierung kam sehr spät. Es gibt viele kleine Fabriken für Konserven, Champagner, Tabak, aber auch zur Erzeugung von Stahl, Elektromotoren und, in letzter Zeit, Informatikmaterial. In die UdSSR lieferte Georgien Zitrusfrüchte, Tee, Wein, Landmaschinen für Berggebiete und elektrische Lokomotiven. Aus anderen Republiken erhielt das Land Erdöl und Gas sowie Ausrüstungen und Güter der Konsum-industrie.

Hunderttausende Touristen bevölkerten jedes Jahr die Küste, die Riviera von Abchasien und Adscharien, die Erholungsheime für Arbeiter, die Residenzen der Minister, Sanatorien und Jugendlager.

In den Bergen gab es nur wenige Hotels. Die Reisenden kamen in Gästezimmern unter oder kampierten in Zelten. Wir sagten uns manchmal, das touristische Potential Georgiens sei enorm und nicht ausgeschöpft. Aber es war bereits begehrt. Wir stellten uns einen Tourismus vor, der die Natur und die Traditionen achtet, ökologisch wie man heute sagt. In Tbilissi hatte ich Freunde, Umweltschützer, noch bevor dieses Wort geprägt wurde. Sie kämpften via Zeitungsartikel und Petitionen gegen die Betonburgen, die neuen Hotels, die das Stadtbild des alten Tbilissi bedrohten.

In den 1970er und 1980er Jahren initiierte Georgien eine der ersten Wirtschaftsreformen in der Landwirtschaft. Die Familien der Kolchosbauern6 versprechen, einen wesentlichen Teil ihrer Ernte abzuliefern und erhalten dafür das Futter für ihr privates Vieh. Ihre Produktion, die in der Kolchose verkauft wird, steigt sprunghaft an. Eine kleine Revolution, die einen Vorgeschmack auf die ersehnte Rückkehr zum Markt gibt. Mit der Perestroika7 und ihrem Durst nach Freiheit und Hoffnung, wird der Wein sauer: Während Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne wird ein Teil der Weingärten zerstört. Ihre Fläche stieg von 58.000 Hektar im Jahr 1950 auf 128.000 Hektar im Jahr 1985 und ging 1987 auf 119.000 Hektar zurück. Der "mineralny sekretar", wie man ihn auch nannte, verlor in Georgien seine Popularität. Man hätte sich mit dem ausgezeichneten Mineralwasser aus Borjomi trösten können, das heute durch Erdöl-Projekte bedroht ist.

Dann kam das Ende der UdSSR: keine Befehle mehr aus Moskau, kein großer, sowjetischer Markt für Wein, Mineralwasser, Tee und alles andere. Aber auch keine Subventionen mehr, keine Erdöl- und Erdgaslieferungen zum Freundschaftspreis. Kein kostenloser Zugang zu Studium und ärztlicher Behandlung. Keine georgischen Filme. Von der friedlichen Koexistenz der Volksgruppen gar nicht zu sprechen ... Aber die Unabhängigkeit war erlangt.

Das schlimmste sollte erst noch kommen: Wer hätte das gedacht?

Jean-Marie Chauvier

Brüssel, Dezember 2003

aus dem Französischen von Heike Schiebeck

  1. georgische und russische Orthodoxe, armenische Christen, Katholiken, Juden, Sunniten, Schiiten

  2. andere Sprachen oder Dialekte Georgiens werden etwa in Mingrelien im Westen und in Swanetien im Norden gesprochen

  3. Kolchose: Produktionsgenossenschaft unter Leitung der Staatspartei. Im Gegensatz zu den Sowchosen in Staatsbesitz waren die Arbeiter nicht angestellt, sondern wurden nach dem kollektiven Ergebnis des Betriebes entlohnt.

  4. Wiederaufbau, Reformen der Ära Gorbaschow (1985 bis 1991)

Daten zur Geschichte

v. Chr.: Königreich Iberien im Osten, Kolchis im Westen

(Legenden vom Goldenen Vlies, den Argonauten, von Medea und Prometheus)

1184-1213: Reich der Königin Thamar

1783: von Russland beanspruchtes Protektorat

1801: Anschluss an das Russische Reich

1918-21: Jordania, unabhängige Republik der Menschewiki. Sowjetischer Anschluss 1921

1941-45: 700.000 Georgier kämpfen in der Roten Armee, in der antifaschistischen Front

1990-92: Unabhängigkeit, nationalistische Diktatur unter Swiad Gamsakurdia

1990-93: Bürgerkrieg, Abspaltung von Ossetien und Abchasien

1992-2003: Präsidentschaft Eduard Schewardnadses

November 2003: Staatsstreich oder "Revolution der Rosen"

  1. Eduard Schewardnadse, erster Sekretär der Kommunistischen Partei Georgiens (UdSSR) von 1972 bis 1985; danach bis 1990 Aussenminister der UdSSR unter Gorbatschow; Gestalter der Auflösung des Sowjetischen Blocks und der deutschen Wiedervereinigung; Präsident des unabhängigen Georgiens von 1992 bis 2003

  2. Baku-Tbilissi-Ceyhan, d.h. Aserbaidschan-Georgien-Türkei; Route der neuen Pipeline, die von einem hauptsächlich anglo-amerikanischen Konsortium unter Führung von BP gebaut wird; beruht auf einer Entscheidung der Clinton-Administration

  3. geladene Gäste, die abwechselnd den Vorsitz am Tisch übernehmen und Trinksprüche zum Besten geben

Kaukasus, Berg der Sprachen 8

Zu slawischen, baltischen, uralischen (darunter finno-ugrisch), turk-tatarischen, mongolischen, kauskasischen und armenischen Sprachgruppen zählen dutzende in der UdSSR erhobene Sprachen. Die wichtigsten haben sich nach 1917 dank der Alphabetisierung (manchmal auch der Schaffung eines Alphabets) und dem Aufblühen der nationalen Literatur und ihrer internationalen Verbreitung entwickelt. Die 1920er und 30er Jahre, auch "korenizatsia" genannt, das bedeutet Verwurzelung der Kader, brachten einen Aufschwung der kulturellen Selbstbestimmung. Danach kam die Russifizierung als Instrument des stalinistischen Zentralismus. Später, nach 1953, begann eine dritte Phase mit Kompromissen: Die Renationalisierung der Kader, die Wiederbelebung der Nationalsprachen in den meisten föderierten Republiken 9 und sehr ungleiche Bedingungen für die Entfaltung der kleinen Minderheiten10. Als Amtssprache und Verkehrssprache setzte sich russisch zunehmend durch. Aber 1989 ist die Hälfte der Sowjet-Bürger noch immer nicht zweisprachig. Weit draußen auf dem Land wird in manchen Republiken das Russische nicht beherrscht. Das bringt Probleme bei der Einberufung zur Armee!

In Georgien sind alle wichtigen Führungskräfte im Staat und 83 Prozent der Studenten Georgier. Der Anteil der Georgier an der Bevölkerung beträgt jedoch nur 67 Prozent. 11

  1. Der Ausdruck 'Berg der Sprachen‘ wird gewöhnlich für Daghestan gebraucht, dem vielsprachigsten Land im Kaukasus.

  2. In der Ukraine begünstigen die 11 Millionen Russischsprachigen vor allem im Osten des Landes und die russifizierten Führungskräfte in Kiew nicht das Ukrainische. In Weissrussland wurde die Nationalsprache in den 1920er Jahren von den Sowjets aufgezwungen. Die spätere Rückkehr zum Russischen war weitgehend spontan und dauerhaft.

  3. Die Abchasen, Osseten und Kurden profitieren davon, die Sprachen der arktischen Völker verkümmern

  4. Zur Geschichte der Sprachenpolitik siehe auch: Paul Kostoe 'Russian in the former soviet republics‘. Hurst & Company, London 1995

Transkaukasien: Drei Staaten und autonome Gebiete

In Transkaukasien oder im Südkaukasus liegen drei ehemals sow-jetische Republiken: Georgien, Armenien und Aserbaidschan.

Armenien (2,5 Millionen Einwohner) ist am homogensten. Minderheiten: Kurden und Azeri.

Aserbaidschan (8 Millionen) wird von Azeri bewohnt. Separatismus der Armenier in Berg-Karabach, die dort in der Mehrheit sind; Ursache des ersten Bürgerkrieges, der das Ende der UdSSR einleitete.

Georgien (5,5 Millionen), etwa 60 Volksgruppen, Autonomiebestrebungen in drei Gebieten:

1) Im Westen hat Abchasien seine Unabhängigkeit erklärt und von 1992 bis 1994 Krieg gegen die Georgier geführt. Bevölkerung: Ab-chasen, Georgier, Russen, Armenier, Griechen.

2) Im Norden fordert Südossetien den Anschluss an die russische Föderation und die Wiedervereinigung mit Nordossetien. Bevölkerung: Osseten.

3) Im Süd-Osten hat sich Adscharien , das mit islamisch-sunnitischen Georgiern bevölkert ist, ökonomisch abgetrennt; begünstigt durch die Lage an der Grenze zur Türkei.

Die Republik Jordania (1918-21) und die georgische Frage

1917 macht Georgien sich die Russische Revolution zunutze und gründet am 16. Mai 1918 einen unabhängigen Staat. Die Führung übernimmt der Menschewik und Sozialdemokrat Noï Jordania, der sich in Opposition zu Lenin befindet. Die Republik Jordania wird von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, setzt eine antifeudale Agrarreform um und unterdrückt die bolschewikischen und separatistischen Bewegungen. Diese fast unbekannte Geschichte der nationalen Erfahrung des sozialistischen Georgiens erzählt und analysiert Teodor Shanin in seinem Buch "Die Revolution als Moment der Wahrheit" 14. In dieser Zeit geht es drunter und drüber: Rote, Weiße, Engländer, Deutsche und Türken streiten sich um den Kaukasus und das Erdöl von Baku 15. Die Sowjetmacht trägt den Sieg davon. Ein bolschewistischer, georgischer Aufstand in der Region Borchalo im Februar 1921 zieht die Intervention der Roten Armee nach sich; sie nimmt Tbilissi im Mai ein. Der vollendete Staatsstreich unter der Führung des georgischen Bolschewiki Sergo Ordschonikidse, der von dem Georgier Jossif Dschugaschwili (Stalin) angetrieben wird, bringt die georgische Frage auf den Tisch. Lenin und Stalin haben unterschiedliche Vorstellungen vom Konzept der UdSSR, die 1922 gegründet wird. Stalin will alle sowjetischen Republiken in einer einzigen Russischen Föderation vereinigen. Lenin neigt eher zu einer föderalistischen Union mit breitem Spielraum für kulturelle Selbstbestimmung. Zu Beginn wird diese Tendenz berücksichtigt, später jedoch durch die stalinistische Politik umgestoßen. 1938 wird Russisch-Unterricht obligatorisch und die Rechte der Minderheiten werden eingeschränkt.

Parallel zur Nationalitätenpolitik schlägt man in der Landwirtschaftsfrage ähnliche Wege ein. In allen Länder überwiegt die Landbevölkerung. Die leninistische NEP 16 der 1920er Jahre stellt den Markt wieder her, toleriert den privaten Sektor und die traditionellen Dorfgemeinschaften. Sie ermutigt die Genossenschaftsbewegung; der Agrarreformer Tschajanow entwirft die Theorie dazu. Nach der Weizenkrise 17 wird diese Politik 1927 aufgegeben. Es folgt die staatliche Planwirtschaft, Zwangskollektivierung und beschleunigte Industrialisierung. Anhand von unveröffentlichten Dokumenten werden diese Umwälzungen seit den 1990er Jahren in Russland von Historiker-Gruppen unter der Leitung von Viktor Danilow und Teodor Shanin wieder erforscht. Eine Reihe von Büchern sind in russischer Sprache erschienen. Auch der amerikanische Historiker Moshe Lewin kommt in seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Das sowjetische Jahrhundert" 18 auf die georgische Frage und andere Aspekte dieser großen Erschütterung des 20sten Jahrhunderts zu sprechen. Die Basis bilden Archive, die endlich in Moskau geöffnet wurden.

  1. Teodor Shanin: "Revoliutsiia kak moment instiny. 1905-1907, 1917-1922" Moskau 1997

  2. Stephane Yerasimos und Charles Urjewicz: "Les marches de la Russie", Herodote, Nr 54-55, 1989

  3. Neue Wirtschaftspolitik ab 1921 nach Beendigung des Kriegskommunismus

  4. Preiskonflikt zwischen Stadt und Land. Die Bauern verweigern die Weizenlieferungen, worauf die Staatsgewalt mit Beschlagnahmung und Kollektivierung antwortet.

  5. Moshe Lewin: "Le Siècle soviétique", ed. Fayard 2003