GESTERN - HEUTE - MORGEN: Das Dritte Reich und die Juden

de Paul Braun (Forum Civique), 9 août 2008, publié à Archipel 162

Im letzten Archipel analysierte Paul Braun die jüngste Literatur über den Holocaust. Einer der Historiker, auf den er sich bei seinen Überlegungen stützte, ist Saul Friedländer. Hier die Rezension seines zweibändigen Werkes: «Das Dritte Reich und die Juden»1.

Saul Friedländer, geboren 1932 in Prag, ist Professor für Geschichte an der Universität von Tel-Aviv und Los Angeles. Seine Eltern flohen vor den Nazis nach Frankreich. 1940 wurde er in einer katholischen Institution in der Nähe von Lyon versteckt und so von seinen Eltern getrennt. Auf der Flucht in die Schweiz wurden diese denunziert und an die französischen Behörden ausgeliefert. Von Frankreich aus wurden sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Saul Friedländer ist Autor mehrerer Bücher über den Antisemitismus und die Shoah.

Gegen Verharmlosung

Die vorliegenden zwei Bände beinhalten eine umfangreiche Arbeit über die 12 Jahre des Naziregimes. (400 und 850 Seiten) Der erste Band ist 1997, der zweite 2006 erschienen, sie liegen seit 1998 bzw. 2006 auf Deutsch vor.

Es sind Geschichtsbücher im eigentlichen Sinne, denn sie schildern, chronologisch geordnet, die Ereignisse dieser Jahre, die Politik der Nazis, den nationalen und internationalen Kontext, die Reaktion der Eliten und der deutschen Bevölkerung, wie auch die der Opfer. Es ist eine feinsinnige und reichhaltige Arbeit, jedoch nicht einfach zusammenzufassen, denn das Interesse liegt im Nebeneinander der verschiedenen Wahrnehmungen und Blickwinkel. Die Entmenschlichung, deren Opfer die Juden wurden, jedoch auch das Risiko einer Verharmlosung der Geschichte der Shoah, haben Friedländer dazu gebracht, viel mit Zeitzeugen zu arbeiten. Anhand von Tagebuchauszügen kann man die Gedanken, Ängste und Hoffnungen von vielen Juden, Erwachsenen und Kindern, aus verschiedenen Schichten mitverfolgen, sowie auch von Soldaten, Offizieren, Kirchenmännern und ganz «normalen» Bürgern. Im zweiten Band, mit dem Titel «Die Jahre der Vernichtung» sind viele dieser Zeugnisse aufwühlend und schwer zu ertragen. Es ist jedoch Wirklichkeit und ich finde die Mischung von Zeugenaussagen, historischem Kontext und Analyse sehr interessant. Wer die verschiedenen Analysen der Vernichtung der europäischen Juden besser verstehen möchte, dem kann dieses Werk als Basislektüre sehr empfohlen werden. Friedländer erklärt darin, dass die Verfolgungen und Morde der Nazis von ganz «normalen» Leuten begangen worden seien, die innerhalb einer modernen Gesellschaft lebten, die sich in keiner Weise von der heutigen unterschieden habe. Die Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen seien, habe die Methoden und Werkzeuge für dieses Vorhaben geschaffen. Die Regierung, die Ideologie und die politische Kultur jedoch, die die Ziele dieser Vorhaben festlegten, hätten nichts «Normales» an sich gehabt. Es sei diese Beziehung zwischen dem Banalen und dem Außerordentlichen, die Zusammenführung eines zerstörerischen Potentials, kombiniert mit einer ganz speziellen Raserei, bestehend aus einem apokalyptischen Plan der Nazis gegen einen Todfeind, den Juden, die der Endlösung der Judenfrage gleichzeitig eine universelle Bedeutung und historische Einzigartigkeit verliehen hätte.

Die Radikalisierung des Regimes

Der Autor arbeitet mehrere Faktoren heraus, die den Boden für den Holocaust vorbereitet haben. Er spricht von einer ideologischen Radikalisierung, genährt aus glühendem Nationalismus, sowie einem fanatischen Antibolschewismus. Er erwähnt ebenfalls die neue Dimension der Massentötung im Ersten Weltkrieg, einhergehend mit einer «Industrialisierung der Konflikte», sowie den Einfluss von Technik und Bürokratie auf die moderne Gesellschaft. Dies allein genügt jedoch nicht, um zu erklären, wie die Nazis von der Verfolgung der Juden zu deren Vernichtung übergegangen sind. Der Autor betont die persönliche Rolle Hitlers und die Funktion seiner Ideologie in der Ausarbeitung und Umsetzung von antijüdischen Maßnahmen. Dies soll jedoch nicht diejenigen historischen Interpretationen bestätigen, dass alle Entscheidungen in die Verantwortung des «Führers» fielen, aber ein Gleichgewicht schaffen zwischen Strukturanalysen und der Wichtigkeit der von Hitler vorangetriebenen Ideologie.

Der erste Band beginnt mit einem Rückblick auf die völkische Bewegung in Deutschland und zeigt die Rolle auf, die Intellektuelle und Künstler, wie zum Beispiel der Zirkel von Bayreuth, gespielt haben. Das Kapitel über den «Antisemitismus als Erlösung» erklärt uns die Grundlage des völkischen und nationalsozialistischen Antisemitismus und seine Besonderheit im Vergleich mit anderen Ländern wie z.B. Frankreich: Der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland in Bezug auf die Art der nationalen Integration sei sehr aufschlussreich bei der Analyse der antijüdischen Haltung im jeweiligen Land. Seit 1789 liege dem französischen Modell ein Prozess zugrunde, angeregt und umgesetzt durch den Staat und gegründet auf den universellen Prinzipien der Aufklärung und der Revolution. Das deutsche Modell hingegen sei aus der romantischen Revolution heraus entstanden und lehne sich stark an die Idee der Nation als geschlossene ethnokulturelle Einheit an, die unabhängig von staatlichen Strukturen und manchmal sogar in Opposition zu diesen stehe. Beim französischen Modell sei daher eine nationale Identität entstanden, die sich auf ein umfassendes zentralisiertes System der Sozialisation berufe - wie etwa die Bildung - beim deutschen Modell hingegen bestehe diese viel eher aus dem Vorhandensein von angeborenen Eigenschaften, die zu einer schon immer da gewesenen gewachsenen Gemeinschaft gehörten.

Das mystische Deutschtum, bestehend aus Heraushebung der Überlegenheit der arischen Rasse und der Heiligkeit ihres Blutes, gemischt mit einem äußerst religiösen deutschen Christentum, führt zu dem was man «Antisemitismus als Erlösung» nennen kann. Aus dieser Perspektive heraus gesehen geschieht die Entartung der arischen Rasse durch das Eindringen des Jüdischen in Politik, Kultur und Blut. Das Deutschtum droht unterzugehen, wenn es sich nicht zusammentut zum Kampf gegen den Juden, und dieser Kampf ist ein Kampf auf Leben und Tod: Die Erlösung komme nur, wenn man sich von den Juden befreite – indem man sie verjagt, vielleicht sogar vernichtet.

Die Gewichtung des Antisemitismus

Friedländer unterstreicht immer wieder die Rolle dieser Ideologie während der zwölf Jahre des Naziregimes. Mit Ausnahme von einigen Konzessionen aus taktischen Gründen war diese Sicht des Antisemitismus, die über eine simple politische Idee hinausging, ständig präsent. Im Buch geht es weiter mit einer chronologischen Darstellung der Politik der Nazis gegenüber den Juden mit den Gesetzen von Nürnberg, der Reichskristallnacht2 und dem Anschluss Österreichs. Die Juden (und die 30.000 in Deutschland lebenden Sinti und Roma) wurden ausgebürgert, enteignet und immer mehr verfolgt. Ohne diese immer brutaler werdenden Maßnahmen gegen die Juden direkt zu unterstützen, reagierte die Gesamtheit der Bevölkerung nicht und blieb untätig. Die Kirchen, Katholiken wie Protestanten, geprägt von einem tief verwurzelten Antijudaismus, beschwerten sich praktisch nicht. Eine Ausnahme bildete vielleicht Bischof von Galen aus Münster, der 1941 Beschwerde gegen die Euthanasie von Geisteskranken führte. Dies hatte für einige Zeit eine Unterbrechung des Programms zur Folge, denn Hitler hatte Angst vor einer Reaktion der katholischen Kirchenführung. Trotz dieser Intervention blieb von Galen Sympathisant der Nazis, glühender Patriot und wütender Antikommunist, in diesem Sinne predigte er während des ganzen Krieges weiter. Mit keinem Wort, weder in privaten Briefen noch in der Öffentlichkeit, verurteilte er den Antisemitismus der Nazis. Der Autor erwähnt immer wieder die Rolle der verschiedenen Kirchen und das Gewicht, die eine Verurteilung dieser Politik durch die Kirchenoberen gehabt haben könnte. Die erste öffentliche Einmischung des Papstes gab es im Juni 1944, doch in seiner Erklärung kommen die Worte «Juden» und «Vernichtung» nicht vor. Am

  1. Mai 1945, nachdem er von Hitlers Selbstmord erfahren hatte, rief der Berliner Kardinal Bertram die Kirchgemeinden dazu auf, ein festliches Requiem zum Gedenken an den Führer abzuhalten. Selbst als die Juden von Rom vor den Fenstern des Vatikans gefangen genommen und deportiert wurden, protestierte der Papst nicht offiziell. Maglione, ein hoher Funktionär des Vatikans, meinte, «… das Schicksal Europas hängt von dem siegreichen Widerstand an der russischen Front ab. Das deutsche Heer ist das einzig mögliche Bollwerk gegen den Bolschewismus. Würde dieses brechen, so wäre es um die europäische Kultur geschehen.» (S.595)

Was wussten die Deutschen, was die Alliierten?

Eine der Fragen, die der Autor in diesem Werk analysiert, ist jene nach dem Zeitpunkt, von dem an die deutsche Bevölkerung, die Eliten und die internationalen Entscheidungsträger über den Massenmord an den Juden informiert waren. Verschiedene im Buch erläuterte Hinweise führten ihn zur Annahme, dass die deutsche Bevölkerung spätestens Anfang 1943 im Bilde war, ohne jedoch genaueres zu wissen. Das Konzentrationslager Treblinka wurde am 22. Juli 1942 mit dem Ziel eröffnet, die Bevölkerung des Warschauer Ghettos zu liquidieren. Zwei Monate später war die «Operation» praktisch beendet und die Einwohner des Ghettos stark dezimiert. Fast 300.000 Warschauer Juden sind nach Treblinka deportiert und vergast worden. Dokumente von Überlebenden der Massaker gelangten in die Hände der Alliierten. Selbst als die Tatsachen bekannt wurden, hat keine Regierung gehandelt. Im Sommer 1944, als Hitler in einem Anfall von Zerstörungswahn die bisher verschonten 800.000 ungarischen Juden ausrotten wollte, haben jüdische Organisationen mit der amerikanischen und britischen Armeeführung Kontakt aufgenommen, damit sie die einzige nach Auschwitz führende Bahnstrecke sowie die dortigen Verbrennungsöfen bombardierten. Die Antwort war negativ, dies wurde nicht als militärische Priorität angesehen. Ungefähr

400.000 ungarische Juden wurden nach Auschwitz deportiert und vergast. Das Schicksal der Juden hatte keine Wichtigkeit in der Entscheidungsfindung der Alliierten.

Die Frage der Beteiligung der lokalen Bevölkerung und der Regierungen an der Umsetzung der Maßnahmen in den einzelnen Ländern ist ebenfalls ausführlich dokumentiert. (Frankreich, Holland, Dänemark, Belgien, Palästina, Italien...) In Ungarn zum Beispiel haben ultranationalistische Banden auch nach dem Rückzug der Deutschen weiterhin Juden umgebracht. Das Vorkriegspolen war stark antisemitisch geprägt, und die Exilregierung in London hat sich nicht um das Schicksal der Juden gekümmert. Die Propaganda der Nazis, der zufolge die Juden (in Moskau, London und bei Roosevelt) schuld am Weltkrieg waren, hat ihre Früchte getragen. Politische Uneinigkeit verhinderte in Polen die Koordinierung der verschiedenen Widerstandsbewegungen. Die Aufstände im Warschauer Ghetto und in Treblinka haben außerhalb keine Unterstützung gefunden. Was die Beteiligung von jüdischen Einrichtungen an der Deportation betrifft, wird von Friedländer sehr nuanciert dargestellt, welche Verantwortung ihnen zur Last gelegt werden kann. Allgemein denkt er, dass diese Judenräte nicht sehr viel Einfluss auf das deutsche Vorgehen hatten. In Holland zum Beispiel, wo der gesamte Judenrat nach den ersten Razzien in Erwägung zog zurückzutreten, bleibt ungewiss, ob das die Lage nicht noch verschlimmert hätte. Im Juli 1942 versuchte der Präsident des Ghettorates von Warschau, die Deportation von Familien zu verhindern. Nach einer kategorischen Ablehnung der Deutschen und mit dem Befehl konfrontiert, zehntausend Leute für den Abtransport am nächsten Tag bereitzustellen, hat sich der Mann in seinem Büro das Leben genommen. In anderen Ghettos Osteuropas sind die Mitglieder der Judenräte regelmäßig umgebracht und ersetzt worden.

Hitler wurde immer paranoider und verbissener, je weiter der Krieg voranschritt. Der amerikanische Historiker und Politologe Raul Hilberg3 bestätigt, dass er seit 1942 immer höhere Dosen von Amphetaminen zu sich nahm, von denen er längst abhängig war und die sein Verhalten beeinflussten. Er hatte kein Vertrauen mehr in seine Generäle und nahm die Führung der militärischen Operationen in die eigene Hand. Friedländer nimmt an, dass Hitler, nachdem die militärische Niederlage nicht mehr abgewendet werden konnte, der Erfüllung seiner vor dem Reichstag von 1939 und danach mehrmals wiederholten Ankündigung den absoluten Vorrang gab. Diese lautete, dass wenn die Juden Deutschland den Krieg erklären und es in einen Weltkrieg verwickeln, so würden sie vernichtet, und es sei Hitler persönlich, der die Menschheit endgültig von der jüdischen Bedrohung befreien werde.

  1. Erster Band: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939

Zweiter Band: Die Jahre der Vernichtung 1939–1945

München: Verlag C.H. Beck, 1998, 2006

  1. Ausdruck der NS-Presse, verharmlosend für das Pogrom vom November 1938

  2. Raul Hilberg (1926-2007), jüdisch-amerikanischer Historiker und Politologe österreichischer Abstammung, war als international anerkannter Spezialist der Shoah der erste, der die Mechanismen des Völkermordes an den Juden genau analysierte.