GESTERN - HEUTE - MORGEN: Interview mit Jean Ziegler. Der Schmale Grat der Hoffnung

de Das Interview führte Dieter Alexander Behr, EBF-Österreich, 22 mai 2017, publié à Archipel 259

Anfang April 2017 trafen wir Jean Ziegler in Wien und sprachen mit ihm über sein soeben erschienenes Buch, über aktuelle politische Fragen sowie über wichtige Etappen seines politischen und persönlichen Werdegangs.

Archipel: Herr Ziegler, ihr soeben erschienenes Buch heisst: «Der schmale Grat der Hoffnung – meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe, und die, die wir gemeinsam gewinnen werden». Wo ist denn eigentlich die Hoffnung? Hungerkrise in Ostafrika, gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für den G20 Gipfel in Hamburg, der im Juli stattfinden wird. Was erwarten Sie sich von dem Gipfel?
Der Hunger...
J. Ziegler: Wenn man die bisher stattgefundenen Gipfel ansieht – Heiligendamm, den Gipfel im schottischen Gleneagles usw. - kann man feststellen, dass jedes Mal Milliarden an Hilfsgeldern für Afrika versprochen worden sind. Doch von diesen versprochenen Hilfsgeldern ist praktisch nichts ausbezahlt worden. Ich möchte nun etwas weiter ausholen: Wenn vom täglichen Massaker des Hungers die Rede ist, müssen zwei Arten des Hungers unterschieden werden: erstens der strukturelle Hunger, zweitens der konjunkturelle Hunger. Der strukturelle Hunger ist das tägliche Massaker, das der Wirtschaftsordnung der Dritten Welt, also den so genannten unterentwickelten Ländern, implizit ist. Afrika ist der am schwersten geschlagene Kontinent – 35,2% der rund 1 Milliarde Afrikaner sind schwerst permanent unterernährt. Die grössten Opferzahlen finden wir in Asien, dort sind es über 650 Millionen Menschen, die schwerst permanent unterernährt sind. In prozentuellen Zahlen ist der Hunger jedoch in Afrika am weitesten verbreitet. Laut dem aktuellen FAO-Bericht verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Insgesamt sind eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten permanent schwerst unterernährt – sie haben aufgrund dessen kein Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts; diese Menschen sind verzweifelt, sie haben Angst vor dem nächsten Tag.
Doch derselbe «World Food Report», der die Opferzahlen feststellt, sagt nun, dass die heutige Landwirtschaft, wie sie jetzt ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Ein Kind, das in diesem Moment an Hunger stirbt, wird ermordet. Heute gibt es keinen objektiven Mangel an Nahrungsmitteln auf der Welt mehr. Das Problem ist nicht die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft. Diese Zusammenhänge bedingen also den strukturellen Hunger. Dann gibt es noch den konjunkturellen Hunger. Dieser tritt meist in den schwächsten Staaten dieses Planeten auf. Es handelt sich hier um den plötzlichen Totalzusammenbruch einer Wirtschaft: Die Bauern können weder säen noch ernten, die Transportwege sind nicht benutzbar, es kommt zu einer Heuschreckenplage etc.
Die aktuelle Hungersnot in Ostafrika ist im Südsudan, in Somalia und im Norden Kenias besonders akut. Ausserdem ist der Jemen sehr stark betroffen. Laut Welternährungsprogramm sind in diesen Tagen 23 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht. Diese Menschen leiden nicht nur an Hunger, sie haben auch oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dazu kommt, dass Südsomalia und der Südsudan von einer fürchterlichen Choleraepidemie heimgesucht werden. Diese Dinge verschlimmern also die Hungersnot noch zusätzlich.
...und seine Ursachen
Was sind die Ursachen für die aktuelle Situation? Erstens sind es die kriegerischen Auseinandersetzungen: Wir erleben den fürchterlichen Aggressionskrieg von Saudi Arabien gegen den Jemen, ausserdem herrscht im jüngsten UNO-Mitgliedsstaat Südsudan Krieg zwischen den Nuer und den Dinka. Zweitens ist das Welternährungsprogramm praktisch gelähmt – Ich war acht Jahre lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; ich kenne deshalb die so genannten Pledging-Konferenzen in- und auswendig. Diese Konferenzen finden entweder in Rom statt, wo die FAO ihren Sitz hat, oder in Genf. Bei diesen Konferenzen erklären die Verantwortlichen des Welternährungsprogramms die Situation und verkünden, welche Hilfeleistungen in welchen Ländern gebraucht werden. Dieser Vorgang wird Pledging genannt. Die Industriestaaten erwidern dann auf diese Anfragen und geben bekannt, wie viel sie geben wollen. Das Ergebnis der Pledging-Konferenz vom 23. März 2017 war folgendes: Das Welternährungsprogramm hat vier Milliarden Dollar für die nächsten sechs Monate, also bis September 2017 gefordert und argumentiert, dass das die minimale Summe sei, die für den Abwurf der Hilfsgüter mit Fallschirmen sowie für die Lieferung mit Lastwägen gebraucht würde. Zugesagt wurden dem World Food Programm allerdings nur ein Bruchteil, nämlich 262 Millionen Dollar. Das ist viel zu wenig! Das Todesurteil für Millionen von Menschen ist also am 23. März gefallen.
Warum ist das Welternährungsprogramm gelähmt? Nun, ein Grund ist, dass die Geberstaaten vorgeben, eigene Probleme zu haben und sagen, dass sie nicht mehr bezahlen können oder wollen. Der zweite Grund ist, dass die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, also Mais, Reis und Getreide, die zusammen insgesamt 75 Prozent der weltweit konsumierten Nahrung abdecken, in den letzten Monaten explodiert sind. Ein Grund dafür sind die Börsenspekulationen mit Lebensmittel. Ich hatte schon eine Reihe von Gerichtsprozessen am Hals, weil ich diese Dinge wiederholt angeprangert habe: Ich sage es hier dennoch ein weiteres Mal: Hedge Funds, grosse Banken, darunter auch die Deutsche Bank, machen astronomische Profite mit der Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Diese Börsenspekulation spielt sich in einem gänzlich legalen Rahmen ab – doch wenn die Preise hoch sind, kann das World Food Program nicht genügend Vorräte kaufen. Dies wäre aber dringend notwendig, denn die UNO produziert ja nichts, sie transportiert die Güter lediglich zu den Opfern.
Zu all diesen Missständen kommt schliesslich noch hinzu, dass die Veto-Mächte der UNO in den verschiedenen Kriegsgebieten die Handlungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen total lähmen. Es gibt z.B. keine multilaterale Truppe, also keinen Blauhelm-Einsatz mit einem starken Mandat im Südsudan; ausserdem konnte nicht durchgesetzt werden, dass ein humanitärer Korridor oder eine Flugverbotszone über Wohngebieten eingerichtet werden. Grund dafür ist das chinesische Veto. Dieses Veto erklärt sich, wenn man bedenkt, dass 11 Prozent des von China importierten Erdöls aus dem Sudan kommt! Im Jemen verhindert das angedrohte US-Amerikanische Veto, dass Flugverbotszonen eingerichtet werden; Saudi Arabien führt dort einen fürchterlichen Vernichtungskrieg gegen die schiitische Zivilbevölkerung. Wegen dem US-Amerikanischen Veto ist eine Präsenz der UNO also ausgeschlossen. Das Schreckliche ist, dass die Tragödien sich im Wissen all der Diplomaten abspielt, die an den Pledging-Konferenzen teilnehmen. Statt den vier Milliarden wurden nun also 262 Millionen versprochen – was letztendlich einbezahlt wird, ist noch eine andere Frage; meistens reduziert sich der Betrag dann noch ein weiteres Mal.
Hoffnungsträgerin Zivil-gesellschaft
A.: Hat nun die Zivilgesellschaft bei den Protesten in Hamburg die Aufgabe, die reichen Staaten davon zu überzeugen, ihrer humanitären Verpflichtung bei den Pledging-Konferenzen nachzukommen?
J.Z.: Mein Buch trägt den Titel «Der schmale Grat der Hoffnung». Der Grat ist schmal, aber die Hoffnung ist reell. Die Zivilgesellschaft, diese mysteriöse Bruderschaft der Nacht, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammengesetzt ist, aus den Kirchen, den Gewerkschaften, den NGOs, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten, diese Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Die Zivilgesellschaft hat kein Parteiprogramm, keine Parteilinie und kein Zentralkomitee – sie funktioniert nur nach dem kategorischen Imperativ. Menschen aus allen sozialen Klassen, Religionen und Altersgruppen kommen hier zusammen. Immanuel Kant hat gesagt: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.» Es geht schlicht um das Identitätsbewusstsein: Ich bin der andere, der andere ist ich. Diese einfache Feststellung ist der Motor des zivilgesellschaftlichen Aufstandes. Che Guevara hat gesagt: «Die stärksten Mauern fallen durch Risse.» Die kannibalische Weltordnung wird fallen – jedoch nicht weil die Staatschefs erwachen: Die Präsidenten der G20 – Trump, Merkel usw. – sind überdeterminiert durch die Befehle, die Strategien und den Willen der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Diese Oligarchien haben eine Weltdiktatur errichtet: Laut Weltbankstatistik vom letzten Jahr haben die 500 grössten transnationalen Privatkonzerne aus allen Sparten, also Industrie, Finanzsektor usw. 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also mehr als die Hälfte aller auf der Welt in einem Jahr produzierten Reichtümer. Diese Konzerne entschwinden jeglicher sozialstaatlicher, gewerkschaftlicher oder parlamentarischer Kontrolle. Sie können zwar auch sehr viel – beispielsweise beherrschen sie den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt; jedoch haben sie ein einziges Aktionsprinzip und eine einzige Strategie, und zwar die Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit. Diese Konzerne haben heute eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König zuvor auf diesem Planeten gehabt hat; sie sind stärker als alle Staaten. Es handelt sich hier um ganz schmale Oligarchien, die unglaublich mächtig sind.
Die Staatschefs der G20 sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Die Präsidenten sind Komplizen der Privatunternehmen, keine autonomen Staatsdenker. Doch ihnen gegenüber gibt es nun ein neues historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie wird in Hamburg präsent sein. Ich selbst werde auch kommen und sprechen. Hamburg ist der Ort, an dem der Widerstand formiert wird.
Im Kongo
A.: Sie haben für das Buch «Mein Weg vom Kongo nach Europa» von Emmanuel Mbolela, das beim Wiener Mandelbaum-Verlag erschienen ist, das Vorwort geschrieben. Ausserdem haben sie den einzigen Roman, der von ihnen erschienen ist, «Das Gold von Maniema» ebenfalls dem Kongo gewidmet. Was verbindet Sie mit den Befreiungskämpfen auf dem afrikanischen Kontinent und speziell im Kongo?
J.Z.: Ich verdanke dem kongolesischen Volk sehr viel – dort hatte ich meine erste bezahlte Arbeit. Ich war davor Student in Paris und in der Kommunistischen Partei aktiv. Unsere Organisation, die Jugendsektion der KP, wurde dann aufgelöst, weil wir uns für den Aufstand in Algerien ausgesprochen hatten. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei hingegen hat die Militärkredite von Guy Mollet abgesegnet. Aus diesem Grund musste ich Paris verlassen. Ich fand eine Stelle im Kongo, dem damaligen Leopoldville. Nach der Ermordung von Lumumba im Jahr 1961 hat der grossartige Dag Hammarskjöld, der dann im September desselben Jahres ebenfalls ermordet wurde, die Verwaltung des Kongo übernommen. Es war das erste Mal, dass die UNO die Zivilverwaltung und auch die militärische Verwaltung eines ganzen Landes übernahm. Im Kongo gab es zu dieser Zeit den ersten Blauhelmeinsatz weltweit; dieser Schritt war notwendig, um gegen die Söldner zu kämpfen, die an der Seite der Kolonialisten die Sezession der südlichen Provinz Katanga anstrebten. Damals hatte ich eine kleine, unwichtige Stelle als Assistent von Brian Urquhart, dem Spezialbeauftragten von Dag Hammarskjöld. Der Einsatz im Kongo hat mich vieles gelehrt. Ich war stark von meiner Bekanntschaft mit Jean-Paul Sartre beeinflusst. Ich bildete mir ein, mit Sicherheit zu wissen, wer auf der richtigen und wer auf der falschen Seite stand. Ich hatte gewissermassen eine Rüstung voller scheinbarer Gewissheiten. Dann kam ich in den Kongo und die Rüstung meiner Gewissheiten zerbrach: Ich sah den furchtbaren General Mobutu, als er von seinen Feldzügen in die Hauptstadt zurückkam, mit Lastwägen voll blutender Gefangener und mit Raubgut aus Kasai, wie er auf dem Boulevard Albert, dem heutigen Boulevard de la Liberté, vorfuhr. Mobutu war ein Schwarzer – dennoch war er kein Opfer, sondern ein Halunke. Auf der anderen Seite gab es gleich neben unserem Hotel im Stadtteil Kalina, wo wir unser Hauptquartier hatten, eine Lepra-Station, die von belgischen, österreichischen und amerikanischen Jesuiten betrieben wurde. Sie waren Weisse – und dennoch haben sie ihr Leben für die Kranken im Kongo eingesetzt. Ich merkte also, dass einige Dinge mit meiner einfachen antiimperialistischen Weltsicht nicht zusammenpassten.
Bei meinem Einsatz im Kongo gab es ein Schlüsselerlebnis – das ich erst viel später als solches erkannt habe. Das letzte Hotel in Kalina, das noch funktionierte, war unser Hauptquartier. Es war mit Stacheldraht umgeben. Im zweiten Stock war der Esssaal. Jeden Abend leerten die indischen Köche die Essensreste über den Stacheldrahtzaun – Brot, Fleisch, Gemüse usw., wir wurden von Gurkha-Soldaten – Blauhelme aus Nepal – bewacht. Jeden Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, kamen aus den Elendsvierteln von Kinshasa, das damals noch Leopoldville hiess, die hungernden Menschen – Mütter, die, obwohl sie 20 Jahre alt waren, aussahen, als ob sie 80 gewesen wären. Menschen mit eingefallenen Gesichtern, Kinder mit spindeldürren Beinen. Sie kletterten auf die Stacheldrahtumzäunung, um Nahrungsreste zu ergattern. Die Blauhelme, die uns bewachten, schlugen mit Gewehrkolben auf ihre Köpfe ein und warfen sie zurück auf die Strasse. Wir hingegen waren zur gleichen Zeit im Essenssaal im zweiten Stock, assen gut und wurden von diskreter Musik berieselt. Ich war Zeuge dieser Geschehnisse und habe mir damals geschworen, dass ich – was auch immer geschehen möge – niemals mehr auf der Seite der Henker stehen werde. Retrospektiv betrachtet, war das der wichtigste Entschluss, den ich damals im Kongo getroffen habe. In den drei darauffolgenden Jahren, die ich im Kongo verbrachte, habe ich natürlich noch einiges mehr gelernt – über multilaterale Diplomatie, über abscheuliche menschliche Untaten, aber auch über grossartige Hoffnungen und über den Widerstand. Der Kongo ist ein riesiges Land – ein Subkontinent, der vom Tanganjikasee im Osten bis zum Atlantikhafen Matadi reicht. Im Kongo leben 182 Völker. Jedes von ihnen hat seine eigene Identität und seine eigene Kultur. Die Menschen im Kongo leisten seit mittlerweile 60 Jahren Widerstand. Es gibt die kongolesische Nation noch immer – sie widersteht den Sezessionsversuchen und dem Neokolonialismus. Ich habe grosse Hochachtung für den Widerstand des kongolesischen Volkes, in all den Phasen seines Kampfes. Man muss sich vergegenwärtigen, dass beim Sturz von Mobutu, im Jahr 1997, drei Millionen Menschen am Hunger gestorben sind – vor allem im Osten, in der Region des früheren Stanleyville. Für mich ist die Widerstandskraft, der Mut und die Kreativität, den die Kongolesen und Kongolesinnen trotz dieser Rückschläge aufbringen, eine unglaublich eindrückliche Inspirationsquelle.
Freiplatz-Aktion für Geflüchtete
A.: Ich möchte nun mit einer Frage zurückgehen ins Jahr 1973: Sie haben nach dem Putsch in Chile zusammen mit vielen anderen Aktiven die Schweizer Freiplatz-Aktion für Chile-Flüchtlinge ins Leben gerufen. Worin bestand diese Aktion und wäre dieser Ansatz eine Inspiration für die Aufnahme von Geflüchteten in der heutigen Zeit?
J.Z.: Ja, ganz sicher. Im September 1973 wurde Allende gestürzt und starb. Danach setzte die fürchterliche Repression von Pinochet ein. Tausende Menschen wurden gefoltert und ermordet, doch vielen gelang es, zu fliehen. Die Regierung der schweizerischen Eidgenossenschaft sagte daraufhin, dass man diese Flüchtlinge nicht aufnehmen werde – viele rechtfertigten diese Haltung damit, dass man doch keine Kommunisten ins Land lassen könne. Ich war damals im Parlament und habe es selbst miterlebt – in den Debatten fielen die übelsten Argumente. Dann ist allerdings die Zivilgesellschaft gegen die Regierung aufgestanden und hat sich organisiert: Protestantische Pfarrer im Tessin, viele junge Leute, unter anderem von der Genossenschaftsbewegung Longo maï und von anderen Gruppen, ausserdem der grossartige, mittlerweile leider verstorbene Priester Cornelius Koch. Diese Menschen haben nun gesagt: So geht das nicht – die Chilenen haben für unsere Ideale gekämpft, sie haben ihr Leben für die Demokratie aufs Spiel gesetzt, sie werden verfolgt und gepeinigt und suchen Zuflucht; wir müssen ihnen helfen! Wenn die Regierung behauptet, wir hätten keinen Platz, es gäbe kein Budget für die Aufnahme, es wäre technisch nicht möglich usw., dann werden wir zeigen, dass es sehr wohl möglich ist. Tausende Familien haben sich daraufhin bei der Freiplatzaktion gemeldet und kundgetan, dass sie chilenische Flüchtlinge aufnehmen werden. Daraufhin knickte die Regierung ein und konnte nicht mehr widerstehen. Die Freiplatz-Aktion war natürlich für die flüchtenden Chileninnen und Chilenen eine sehr wichtige Sache, doch in erster Linie haben die Schweizer profitiert: Die kulturelle Bereicherung durch die Chile-Flüchtlinge war enorm. Ich bin Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in Genf, das ist eine kleine Sekte (lacht). Ich bin der Meinung, dass die schweizerische Linke längst tot wäre, hätte es nicht die chilenischen Flüchtlinge gegeben, die nach ihrer Ankunft in die Sozialdemokratische Partei oder in die Partei der Arbeit eingetreten sind. Sie haben ihre Erfahrung und ihre Energie eingebracht und wir müssen ihnen dafür sehr dankbar sein.
Wir bräuchten heute eine Freiplatz-Aktion wie damals – und zwar zu unseren eigenen Gunsten! Es geht ja nicht nur darum, Gastfreundschaft zu üben; es geht auch darum, von den anderen zu lernen! Es geht darum, zu begreifen, dass die kulturelle Symbiose immer eine ungeheure Bereicherung für die Menschen im Gastland ist.