Über Cornelius Castoriadis gibt es etliche Texte, über Ivan Illich vielleicht etwas weniger. Fortsetzung einer kritischen Gegenüberstellung der Autonomiekonzepte der beiden Philosophen.
Autonome Weltprojekte
Die Fragen, die sich bei der Gegenüberstellung der Autonomieprojekte von Ivan Illich und Cornelius Castoriadis stellen, kommen mir für die heutige Zeit sehr wichtig vor. Sie helfen uns, uns zu orientieren, mögliche Allianzen abzuwägen, Taktiken zu überlegen, über unsere eigenen Praktiken nachzudenken. Mir selbst fällt es schwer, mich für das eine oder das andere Autonomiekonzept zu entscheiden. Ich hoffe eher, in der Praxis die Elemente zu finden, aus denen sich beide Arten der Autonomie, die „lokale“ und die „politische“, zusammensetzen. Castoriadis und Illich können uns einen Einblick in die dazugehörende The-orie verschaffen, doch dafür müssen wir tiefer in ihre Denkweisen eindringen. Wie ich sie bisher vorgestellt habe, repräsentieren die zwei Autonomieformen auch zwei verschiedene „Weltprojekte“. Bei Illich denken wir an eine Welt voller Praktiken und lokaler Bräuche, ein Patchwork von Kenntnissen in einer Welt ohne Zentrum oder ohne authentische Polarisierung. Mit Castoriadis stellen wir uns eine Welt in ständiger Ver-änderung vor, in der die Form der Versammlung die politische Autonomie bewirkt (wenn sie allen in gerechter Weise das Wort gibt). Und vielleicht müssten wir, wenn sich unsere politische Praxis an einer dieser beiden - hier nur äußerst kurz zusammengefassten - Weltanschauungen orientiert, Gemeinschaften helfen, die gegen imperialistische Projekte Widerstand leisten, um nicht von ihnen zerstört zu werden; oder, wo immer möglich, zur Organisation von Versammlungen beitragen, die allen, die wollen, die Möglichkeit geben, sich ihre eigene Gesellschaft zu schaffen. Doch stoßen wir dann nicht auf neue Probleme? Welche lokalen Gemeinschaften sollen wir unterstützen? Bis wohin kann unsere „Toleranz“ gegenüber ihren heteronomen Partikularismen (im Sinne von Castoriadis z.B. religiöser Glauben) gehen? Und andererseits: Wie weit können wir in der Methode der Versammlung gehen, aus der Teilnahme an ihr das non plus ultra der Autonomie machen, auch wenn wir ganz genau spüren, dass das zufällige Versammeln von Menschen auf Irrwege führen kann, welche die Isolation noch verstärken.
Einige werden sicher zu Recht behaupten, dass sich dieses Dilemma in der Praxis auflösen wird. Wir un-terstützen oft lieber Gemeinschaften, deren Praxis auch in Richtung einer radikalen Demokratie geht; denn die praktische Lebenserfahrung einer Gemeinschaft ist das notwendige Gegenstück zur Versammlung, die erst dadurch wirklich ein Mittel wird, Repräsentationen, Praktiken und Techniken zu hinterfragen. Doch schließlich geht es ja meistens nicht darum, sich bei anderen einzumischen. Wir wollen vor allem unsere ei-genen Praktiken schützen und unser Wissen, das wir in der Reflexion gewonnen haben. Dabei könnten wir nun bleiben und behaupten, dass uns unser Gespür und unser Bewusstsein hefen werden, uns in dem theoretischen Dilemma zurechtzufinden.
Welche Kämpfe führen?
Ich möchte aber doch etwas weiter gehen, um zu schauen, zu welchen anderen Arten des Engagements uns die Autonomiekonzepte von Illich und Castoriadis führen können, denn sie scheinen mir über die Frage der Autonomie von Gemeinschaften und die Formen der Selbstbestimmung hinauszugehen. Sie weisen darauf hin, dass auch andere Kämpfe außerhalb dieser Gemeinschaften zu führen sind, um die Autonomie möglich und vor allem greifbar zu machen. Vor allem Castoriadis, aber auch Illich, vergessen nie, dass Autonomie in einer Enklave nicht möglich ist (im Unterschied zu Autarkie), dass es vieles zu stürzen gilt, damit sie in größerem Maßstab möglich wird. Es geht nicht darum, einfache „Alternativen“ zu produzieren, sondern zu einer revolutionären Bewegung zu kommen, deren Weg und Ziel die Autonomie sein soll.
Alle beide haben einen Horror vor der bürokratischen Verwaltung, die sich mit der Modernität durch-gesetzt hat: Auch diese Bürokratie gilt es zu zerstören. Die Schriften des einen wie des anderen sind Teil einer Unterwanderungsarbeit dieser sozialen Form. Sie denunzieren die Enteignungen, die sie auslösen kann, und die Entfremdung, die sie begleitet. Sie prangern die Macht verschiedener staatlicher oder anderer Experten an, für die Politik eine Technik ist, die Bevölkerung eine Herde und die Natur ein auszubeutender Raum. Sie kritisieren auch die Massenproduk-tion von isolierten Individuen, die ihrer eigenen Mittel zum Überleben enteignet wurden, die automatisierte Entwicklung der Techno-Wissenschaft, die progressive Entstehung einer Welt und vor allem eine angestrebte Welt, in der nichts Unerwartetes mehr passieren kann. Kritik ist für sie eine notwendige Arbeit, und wenn es nur darum geht, an falschen Gewissheiten zu rütteln. Illich bemüht sich, die Trennung zwischen Imaginärem und Wirklichkeit abzubauen, aufzuzeigen, dass andere Arten von Erziehung, Medizin und Technologie existiert haben, existieren oder erfunden werden könnten, dass diese Welt mit ihren Institutionen nicht unvermeidbar ist, sondern einer Wahl entspricht. Der eine wie der andere will uns ein bisschen zum Träumen verleiten, damit wir uns wünschen, was sich der markt-wirtschaftlichen Welt zum Trotz und an ihrem Rande erhalten hat. Bei den genauen Beschreibungen Illichs einer gemeinschaftlichen Erziehung oder Organisation des Transports fällt uns dies besonders auf.
Welche Strategie?
Doch sie wissen auch, dass Worte allein keine magische Wirkung haben. Illich dachte an drei Mittel zur Realisierung seiner Vorstellungen. Der erste Weg ist der des „Beraters des Prinzen“, d.h. er schlägt seine Ideen den Regierenden vor, ein Versuch, der absurd erscheint und sich selbstverständlich als vergeblich herausgestellt hat. Das zweite Mittel, sich mit den „revolutionären Eliten“ Lateinamerikas zusammenzuschliessen, hat bald als unvoll-ständiges Experiment geendet. Die dritte und letzte Möglichkeit, dass eine gemeinschaftliche Autonomie nach seinen Vorstellungen endlich gesellschaftliche Bedeutung erlange, spielt sich in einer Situation nach der Katastrophe ab, wenn die Massen jenen folgen werden, die „die Katastrophe vorausahnend“, etwas anderes geschaffen haben: „Vorhersehbar und unerwartet wird die Katastrphe nur dann Crisis im wahrsten Sinne des Wortes sein, wenn im Moment, in dem sie zuschlägt, die Gefangenen des Fortschritts aus ihrem industrellen Paradies ausbrechen wollen und sich im Inneren des goldenen Käfigs eine Tür öffnet.“
Jeder beurteile diese Strategien selbst, vor allem die letzte - die sterile Erwartung der Katastrophe. Mir scheint Castoriadis in diesem Gesichtspunkt viel interessanter. Viel weniger programmatisch als Illich erlaubt er sich nicht, „Küchenrezepte für Sozialisten der Zukunft“ zu geben. Doch man versteht schnell, dass es bei ihm um die Kapazität geht, „Welten“ zu schaffen, in denen Autonomie entstehen kann. Das bedeutet, dass bei ihm über eine demokratische und kollektive Entscheidungsform hinaus die Entwicklung von neuen Praktiken (des Schenkens, der gegenseitigen Hilfe, des Teilens), einer gemeinsamen Sensibilität (besonders eine Betrachtung der Natur in ihrer Komplexität, die über die positivistische, pseudo-wissenschaftliche Simplifizierung hinausgeht), einer anderen Beziehung zur Produktion (auf Techniken aufgebaut, die nicht eine übermäßige Spezialisierung verlangen) und daher neuer Arten von sozialen Beziehungen (z.B. horizon-tale) notwendig sein wird. Diese autonomen Welten werden nicht abgeschieden bleiben können, denn sonst bliebe ihre Autonomie immer unvollständig: Die kollektive Autonomie wird angestrebt, denn ohne sie ist keine wirkliche punktuelle Autonomie möglich. Diese autonomen Welten sollen also versuchen, im Rahmen der Mittel, die sie sich geben, die Übermacht der Marktwirtschaft zu bekämpfen, welche in der Welt um sie herum und zum Teil auch bei ihnen selbst herrscht. Er bezeichnet auch diejenigen Institutionen, welchen es im Besonderen zu schaden gilt: Die technowissenschaftlichen Institutionen, welche die Welt „rationell“ bis zu ihrer Zerstörung modernisieren, und die technokratischen oder politischen Institutionen, die nichts anderes tun, als die Macht einer Oligarchie zu bestärken, die an ihren Privilegien festhält. Doch was die Form des Kampfes betrifft, erlaubt sich Castoriadis nur zu unterstreichen, was in der Vergangenheit in eine Sackgasse geführt hat, so z.B. die leninistischen oder trotzkistischen Organisationen, die vergessen haben, dass eine bürokratische oder spezialisierte Organisa-tionsform nur eine Welt nach demselben Modell erzeugen kann. Die offen-siven Praktiken, die sich von der castorianischen Position ableiten, müssen noch erfunden werden.
Kein Ende
Ich habe hier nicht von den immer wiederkehrenden Begriffen dieser Autoren gesprochen, wie dem „gemeinschaftlichen Zusammenleben“ bei Illich oder dem „Abgrund“ und dem „Imaginären“ bei Castoriadis. Ich habe mich auf ihre Autonomiekonzepte beschränkt. Trotzdem möchte ich einige Probleme aufzeigen, die sich (mir und anderen) bei der Era-beitung dieser Texte gestellt haben.
Wenn Illich von „Gmeinschaften“ spricht, so denkt er vor allem an die Gemeinschaften Lateinamerikas. In welchem Maß können seine Texte auf ein von der technik- und marktorientierten Modernität verwüstetes Europa projiziert werden, in dem diese Art von Gemeinschaften sehr stark reduziert oder in folkloristischen Reliquien konserviert wur-den? Könnte die Frage der „Gemeinschaften“ nicht vorteilhaft durch die der „Welten“ ersetzt werden, in welchen wir Wissen, Praktiken und sowohl gemeinsame als auch einzig-artige Sensibilitäten finden?
Wir könnten uns sagen, dass die Frage der Gemeinschaften mit religiöser Tendenz unwichtig sei, zu ei-ner Zeit, wo nur noch wenige von ihnen bestehen. Darauf möchte ich erwidern, dass ihre Renaissance (leider Gottes) durchaus möglich ist. Aber vor allem sollten wir nicht vergessen, dass die Religion uns überall auflauert. Unsere Konstitutionen von Welten können immer auf neue Grenzen stoßen, neue Praktiken und unhinterfragten Glauben. Z.B.: Die manchmal beträchtliche Aufwertung des „Affekts“ kann zu internen Dynamiken führen, die von der „Lust“ ausgehen, und vom Wunsch, diese nicht zu unterdrücken oder zu bremsen, bis zum Vergessen jeglicher reflexiver Diskussionen. Ist der politische (Versammlungs-)Raum hingegen zu sehr abgegrenzt, könnte dies zu kollektiven Orientierungen führen, die niemandem mehr entsprechen.
Wir dürfen uns schließlich fragen, warum die Überlegungen dieser beiden Philosophen uns heute, 30 Jahre später, noch nützlich sein können und auch wieso sie so wenig bekannt sind.
M. Chameau
Student, Paris