GESTERN - HEUTE - MORGEN: Utopie

de Caroline Meyers*, 16 sept. 2014, publié à Archipel 229

«Nur die Utopie erhellt den Horizont: nichts ist poetischer als die Selbstverwaltung»1 Am Anfang dieser Artikelserie geht es um das Wort «Utopie» und einen ersten Einblick in die Ideen einiger «Utopisten». 1. Teil Zunächst ein kurzer Blick auf die Bedeutung des Wortes "Utopie" sowie seinen historischen und etymologischen Ursprung. Das Wort wurde von Thomas Morus (Sir Thomas More, 1478-1535) in seinem Buch von 1516 die beste Regierungsform der neuen Insel Utopia2 zum ersten Mal benutzt.3
Das Wort «Utopie» stammt aus dem griechischen «outopia», «ou» bedeutet «nicht» und «topos» heisst «Ort»; «outopia» hiesse also ein «Nichtort». Andere Autoren verteidigen hingegen die Idee, dass der Ursprung des Wortes «Utopie» vom griechischen Wort «eu-topos» stammen könnte, was mit «ein idealer Ort» übersetzt werden könnte.4 Also eine ganz andere Sache ...Wir kommen auf diese Zweideutigkeit des Wortes «Utopie» noch zurück.
Konturen der idealen Gesellschaft Mit dem Buch «Utopie» von Thomas Morus entstand die für die damalige Epoche neue Idee, dass die Welt nicht ein für allemal feststeht, in einem von Gott gewollten unverrückbaren Zustand, sondern von den Menschen geschaffen wird. Der Autor nimmt also die Ideen von Platon wieder auf, der versuchte in seinem wahrscheinlich um 374 vor unserer Zeitrechnung geschriebenen Buch Die Republik, die Konturen einer idealen Gesellschaft zu zeichnen.5 Heute bezeichnet das Wort «Utopie» also - ich zitiere das philosophische Wörterbuch von Christian Godin - «die Konzeption einer Gesellschaft, die auf ideale Art geleitet und organisiert wird.»6
Aber dieses Wort hat eine zweite Definition, gemäss dem gleichen Nachschlagwerk; «ein Projekt, dessen Verwirklichung unmöglich erscheint». Und schon wieder befinden wir uns in der Konfusion um dieses Wort, die seit jeher besteht. Ein anderes philisophisches Wörterbuch, verfasst von Philippe Reynaud und Stéphane Rials, versucht die Bedeutung des Wortes «Utopie» zu enträtseln und zu erhellen: «Die Ambivalenz der Utopien entstammt genau aus der Tatsache, dass sie sich aus den etablierten und unmittelbaren Realitäten entfernen, um ihre Aspirationen treffender zu formulieren, die manchmal eine völlig andere Gesellschaft anvisieren und eine tiefgreifende Reform der dominierenden Gesellschaft oder auch ihre revolutionäre Umwandlung beabsichtigen.» Der Autor des berühmten Werks Utopia illustrierte auf exemplarische Weise seinen Standpunkt, indem er realistische aber völlig neue bahnbrechende Vorschläge zur Umwandlung der Gesellschaft vorschlägt.
Verfemtes Wort Es erschien mir nützlich als Einführung zum Dossier Utopie auf die Bedeutung des Wortes «Utopie» einzugehen, auf die Ambivalenz dieses Begriffs, der heute wieder verwendet wird7, allerdings unter ganz verschiedenen Vorzeichen. «Utopie» wird einerseits von jenen benutzt, die gesellschaftliche Projekte realisieren wollen, andererseits von ihren Gegnern, die solche Unternehmen als «unausführbar» und «völlig utopisch» bezeichnen, um so die Protagonisten zum schweigen zu bringen. Diese negative Bedeutung des Wortes «Utopie» ist auch der Grund dafür, dass die Anarchisten von gestern und heute das Adjektiv «utopisch» nicht benutzen, um ihre Gemeinschaften und Kolonien zu erklären8. Wie wir noch sehen werden, benutzten Marx und Engels den Begriff «Utopisten» im negativen Sinn des Worts, um die anderen sozialistischen Denker vor ihnen oder auch während ihrer Epoche zu diskreditieren.
Die «Utopisten» und ihre Ideen Charles Fourier schrieb: «Ich alleine werde zwanzig Jahrhunderte politische Dummheit zerstört haben, und so verdanken die jetzigen und zukünftigen Generationen mir alleine die Initiative für ihr unermessliches Glück. Vor mir verlor die Menschheit Tausende von Jahren um widersinnig gegen die Natur zu kämpfen. ...Als Besitzer des Buches des Schicksals verjage ich die politische und moralische Finsternis, und errichte auf den Ruinen der unsicheren Wissenschaften die Theorie der universellen Harmonie.»9
Als erstes: Die "Utopisten» als solche gibt es nicht. Die betroffenen Denker bezeichneten sich selbst nicht so; im übrigen handelt es sich um Denker mit sehr verschiedenen Ideen: Reformisten, Revolutionäre, Kommunisten, Sozialisten und sogar, in einigen Fällen, Utopisten (wenn ich im folgenden diese Qualifikation benütze, dann im Sinne, dass der betreffende Denker unmittelbar Gemeinschaften und Kooperativen aufbauen, und nicht zuerst durch Klassenkampf vom Zustand des Sozialismus zum Endstadium des Kommunismus gelangen wollte). Genauer ausgedrückt sollte man von «Sozialisten vor Marx», reden, auch wenn einige, wie z.B. Proudhon, Zeitgenossen von Marx waren.
Die ersten Sozialisten entwickelten ihre Ideen im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen von 1789 und 1848. Mit der französischen Revolution und der Eroberung des Staates durch das Bürgertum findet der Übergang von einer noch teilweise feudalen zu einer modernen Konzeption der Gesellschaft statt. Diese ersten Sozialisten waren mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Wie kann der Reichtum neu verteilt werden, um endlich allen eine Chance zu gewähren, nicht nur in der Theorie10 sondern in der Praxis, damit alle über die notwendigen Voraussetzungen verfügen, um frei zu sein. Bei all diesen Denkern ist das Thema Gemeinschaft und Kommunismus eng mit dem Thema der Freiheit verflochten.11
Wichtige Denker Ich möchte hier einige der sogenannten «sozialistischen» Denker vorstellen, die ihre Epoche am stärksten prägten (die Liste kann natürlich nicht vollständig sein):

  • Gracchus Babeuf (1760-1797): Revolutionär, engagiert in der Redaktion der «cahiers de doléances» (Beschwerdehefte) vor der französischen Revolution. Er verteidigte zwei Prinzipien, die aus ihm einen Vorläufer des Kommunismus und der proletarischen Revolution machen: 1. das Agrargesetz mit der Forderung der Kollektivisierung des Bodens, 2. die Republik der Gleichen, die nicht nur die reichen Bürger (wie dies das Zensuswahlrecht vorsieht) sondern das ganze Volk vertritt.
  • Robert Owen (1771-1858): Utopist, Gründer der Gemeinschaften New Lanark und New Harmony. Die Gesellschaftsmodelle werden mit dem Schwerpunkt auf die Rechte der Kinder und der Arbeiter aufgebaut. Er schuf Tauschbörsen für die Arbeit und die erste Gewerkschaft im Jahre 1834 in England mit 500.000 Mitgliedern.
  • Henri de Saint-Simon (1760-1825): Revolutionär und Utopist, er wird als einer der Gründer des Sozialismus betrachtet. Seine Ideen: der gemeinsame Wille, Gleichheit vor dem Gesetz, Nationalversammlung, Vernunft, Kampf gegen die Aristokratie. Er veröffentlichte mehrere Werke, u.a. L’Organisateur (1819-1820), in dem die berühmte «Parabole» veröffentlicht wurde, die sich für Wissenschaft und Arbeit begeisterte und die Nutzlosigkeit der Aristokratie hervorstrich.
  • Etienne Cabot (1788-1856): Utopist, er beteiligte sich an den aufständischen Bewegungen 1930 in Paris und schrieb 1842 Reise nach Ikarien (unter dem Einfluss von Owen, dem er während seinem Exil in England begegnete). Er setzte sich darin für einen egalitären und friedlichen Kommunismus ein. 1847 gründete er eine kommunistische Kolonie in den Vereinigten Staaten.
  • Félicité de Lamennais (1782-1854): sozialer Katholik, er schrieb 1839 Die moderne Sklaverei, um das Volk aufzurütteln, um gegen seine Ausbeutung zu revoltieren und ein gemeinschaftliches System zu schaffen, gegründet auf christlichen Werten.
  • Charles Fourier (1772-1837): Utopist, Gegenrevolutionär, er erfand eine modellhafte Organisation der Gesellschaft, «das Phalansterium», das nicht nur ein ökonomisches Ziel hatte, sondern auch den moralischen Geist des Menschen verändern sollte: «In seiner gesellschaftlichen Organisation, die als Zentrum das Phalange hat, eine Gesellschaft von ungefähr 1800 Menschen, sollte das Leben gemeinschaftlich sein: jede Phalange wohnte in einem Phalansterium, eine vollständige, autonome architektonische Einheit, sowohl in wirtschaftlich-industrieller als auch in sozialer Hinsicht. Das Ganze sollte zur «universellen Harmonie» führen.
  • Auguste Blanqui (1805-1881): Revolutionär, Anführer während der Kommune von Paris, organisierte unzählige auch bewaffnete Aufstände und landete oft im Gefängnis. Er war als französischer Denker Marx am nächsten. Er teilte seine Kritik an jenen, die sogleich Kooperativen oder Gemeinschaften aufbauen wollten. 1879 publizierte er eine Propagandazeitung Ni Dieu ni Maître (weder Gott noch Patron). Der Klassenkampf war im Zentrum seiner Überlegungen.
  • Louis Blanc (1811-1865): Reformist, Aushängeschild der französischen Arbeiterklasse, er veröffentlichte 1839 «Die Organisation der Arbeit», in der er Kooperation und das Vereinswesen als Elemente einer reformierten Gesellschaft vorschlägt.
  • Pierre Joseph Proudhon (1809-1865): Anarchist, Revolutionär, er schrieb Was ist Eigentum? (1840). Marx stützte sich sehr auf dieses Werk um seinerseits den Privatbesitz der Produktionsmittel zu kritisieren. Proudhon kritisierte den utopischen und statischen Kommunismus von Platon, Campanella, Morus und Cabet, und vertrat die Idee, dass die Gesellschaft auf Reziprozität (Gegenseitigkeit), oder rechtlich ausgedrückt, auf contrats (Verträgen) zwischen den Menschen gegründet sein sollte.12

*Philosophiestudentin an der Universität
Fribourg

  1. Refrain des Liedes «Autogestion» (Selbstverwaltung) von Patrick Font und Philippe Val von 1977.
  2. Morus Thomas, Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1960
  3. Originaltitel auf lateinisch: «De optimo reipublicae statu de que nova insula Utopia», Waschkuhn, Politische Utopien, R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, 2003,
  4. Schölderie, «Geschichte der Utopie», in Claeys, Georg, Searching for Utopia. The History of an Idea, London, 2011, pp.47-49.
  5. Waschkuhn, Arno, Politische Utopien, R.Oldenbourg Verlag, München 2003, p.15.
  6. Christian Godin, Dictionnaire de Philosophie, Librairie Arthème Fayard, Editions du temps, 2004.
  7. Alternativen, die Utopie einer 100% grünen Insel, Leitartikel der Schweizer Zeitung Le Courrier (französischsprachig), Utopie, ich schreibe deinen Namen, Titel der Revue XXI Nr. 16, Herbst 2011, Die Utopie hier und jetzt, Diogenes.
  8. Céline Baudet, Verfasserin des Buches Les Milieux libres, vivre en anarchiste à la belle époque en France, Les Editions Libertaires, Toulouse, 2006, hat in ihren Nachforschungen über Gemeinschaften und anarchistische Ideen das Wort «Utopie» nie gefunden. Sie schätzt diesen Begriff selber nicht, weil die Idee des Traums oft mit Utopie in Verbindung gebracht wird.
  9. Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Prospekt und Ankündigung der Entdeckung, Leipzig/Lyon, 1808.
  10. In diesem Punkt widersetzten sich diese Sozialisten der liberalen Idee einer bloss formellen Gleichheit, wie sie in der Menschenrechtserklärung von 1798 festgelegt ist, zitiert nach Gian Mario Bravo.
  11. In den gleichen Jahren schrieben Marx und Engels: «Nur in der Gemeinschaft mit anderen hat jedes Individuum die Mittel seine Fähigkeiten in alle Richtungen zu entwickeln; nur in der Gemeinschaft wird überhaupt die persönliche Freiheit möglich.», Marx-Engels, Die deutsche Ideologie, 1846, zitiert nach Bravo.
  12. Proudon, Pierre-Joseph, Idée générale de la révolution au XIXième siècle, Oeuvres complètes de P.J Proudhon, Tome X, Paris, Marpon et Flammarion.