GESTERN - HEUTE - MORGEN: Viele Grüße aus Mexiko

de George Lapierre, 6 nov. 2004, publié à Archipel 119

Von der Politik der Schnecke (caracoles*)

Wir verdanken den Zapatisten die Rückkehr zu gewissen Bräuchen – es ist nicht die Ideologie, welche die Sitten und das soziale Leben bestimmt, das Politische ist nicht die Essenz des sozialen Lebens. (…)

Mit dem berühmten Satz «gehorchend befehlen» findet die Politik ihren bescheidenen Platz wieder, der sich auf die Verwaltung der laufenden Angelegenheiten beschränken würde, wenn sich die Zapatisten nicht in einer kritischen und konfliktuellen Situation befänden. Nebenbei bemerkt kommen die nomadischen Völker sehr gut ohne die Verwaltung der laufenden Angelegenheiten durch gewählte Verantwortliche aus, die Politik tritt bei ihnen nur im Falle von Konflikten mit den Nationalstaaten in Erscheinung.

«Ich möchte nicht, dass man den Eindruck gewinnt, es handle sich um eine perfekte Sache und dass sie idealisiert wird. ‚Gehorchend befehlen’ ist eine Tendenz in den zapatistischen Gebieten - es gibt Hochs und Tiefs, Widersprüche, Abweichungen, doch es ist eine dominierende Tendenz. Die Gemeinschaften haben es auf diese Weise geschafft zu überleben, unter Verfolgung, Hetze und Armut, wie man es selten in der Geschichte gesehen hat. Und nicht nur das. Die autonomen Räte haben mit der Unterstützung der ‚Zivilgesellschaft’ eine gigantische Aufgabe bewältigt: die materiellen Voraussetzungen für den Widerstand zu schaffen…

Im Endeffekt steht die indigene Autonomie in den zapatistischen Territorien vor einer beträchtlichen Anzahl von Problemen. Bedeutende Veränderungen in der Struktur und der Funktionsweise der Autonomie haben es erlaubt, einige von ihnen zu lösen.» 1

Die autonomen zapatistischen Gemeinden konnten nicht mehr gleichzeitig die Verwaltung der laufenden Angelegenheiten meistern, die materiellen Voraussetzungen für den Widerstand schaffen und die Konflikte mit den Regierungskräften bewältigen. Es war also dringend notwendig, die Regionalen Räte der guten Regierung (juntas de buon gobierno ) ins Leben zu rufen. Die autonomen zapatistischen Regierungen sind Regierungen im Widerstand oder Regierungen von Völkern, die sich im Widerstand befinden. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Beziehungen zwischen der zapatistischen und der nicht-zapatistischen Gesellschaft auszuhandeln, sei es mit der Zivilgesellschaft, mit der nationalen oder der inter­na­tionalen, oder mit den anti-aufständischen Regierungskräften.

Das «geheime, revolutionäre indigene Komitee» ist gewissermaßen ein Ergebnis und der Ausdruck des kollektiven Willens, «der Geist des Körpers». In diesem Sinn ist es ein bestimmendes politisches Element. Es kommandiert die Armee und überwacht in jeder Region das Funktionieren der Räte. 2

Die enge Beziehung zwischen dem Komitee und den Räten hat zum Ziel, die Kohäsion der zapatistischen Gesellschaft gegen­über der westlichen Welt zu stärken, was auch im­mer für ein Gesicht diese trägt: das freundliche der «Zivilgesellschaft», auch wenn diese Freundlichkeit pervers sein kann3, oder das drohende des Neoliberalismus.

«Die Caracoles sind wie Türen, durch die man in die Gemeinschaften ein- und austritt, wie Fenster, um uns drinnen zu sehen und damit wir nach drau­ßen schauen können.» 4

Es ist ausgesprochen, die Zapatisten schützen sich vor der Außenwelt, sie schützen sich vor der westlichen Welt. Sie haben zwar Häuser mit Türen und Fenstern, aber auch mit Mauern.

Hier sind sie zu Hause, von hier aus kann der Dialog mit den anderen beginnen, mit den Nicht-Zapatisten, die Freunde sein können, solidarische Gäste oder Feinde. «Vor allem um uns daran zu erinnern, dass wir immer auf die Aufrichtigkeit der Menschen achten müssen, die die Welt bevölkern.»

Die Junta de buon gobierno des Dorfes Oventik heißt übrigens Corazón céntrico de los zapatistas delante del mundo (Zentrales Herz der Zapatisten gegenüber der Welt).

Die zapatistische Indio-Gesellschaft von Chiapas schützt und verteidigt ihre Identität und ihre Eigenheiten, dies heißt Autonomie. Die Schaffung der Regionalen Räte befreit die EZLN von den internen und lokalen Problemen, mit denen sie «gezwun­ge­ner­maßen» konfrontiert war. Bei Konflikten musste oft das Oberkommando die letzte Entscheidung treffen: «Damit will ich sagen, dass die militärische Struktur der EZLN auf eine gewisse Weise auf eine Tradition von Demokratie und Selbstverwaltung ‚abfärbte’. Die EZLN war sozusagen eines der ‚antidemokratischen’ Elemente im Rahmen von demokratischen und direkten gemeinschaftlichen Beziehungen (ein anderes antidemokratisches Element ist die Kirche, doch das wäre das Thema für einen anderen Text).» 5 Die EZLN von den lokalen Problemen befreien, aber für welche Aufgaben?

Die EZLN, ihre Ziele und ihre Niederlagen

Im Laufe des Festes von Oventik hieß es, dass sich die EZLN von nun an nur mehr der Verteidigung der zapatistischen Gesellschaft und der Gemeinschaften widmen würde, wenn diese von paramilitärischen oder anderen bewaffneten Gruppen bedroht oder angegriffen würden. (…)

Die EZLN wird die Aufgabe der Verteidigung übernehmen, das ist schließlich ihre Rolle, aber ich bezweifle, dass sie sich damit begnügen wird. Befreit von den lokalen Problemen, aber bereichert durch dieses Verwachsen­sein und die praktische Erfahrung einer Alternative zur neoliberalen Welt kann sie im Rahmen der internationalen - und in einem gewissen Maße der nationalen - Oppositionsbewegung gegen den Liberalismus eine wichtige Rolle spielen.

Während die mexikanische Regierung und alle politischen Parteien die EZLN in Chiapas festhalten und die zapatistische Bewegung auf eine lokale Angelegenheit reduzieren wollen, hat die EZLN immer versucht, ihr Aktionsfeld auszuweiten und in der sozialen und politischen Debatte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene präsent zu sein. Dies war die Absicht der nationalen demokratischen Konvention von Anfang an, d.h. ab August 1994. Im Jahr 1996 fanden die Verhandlungen über die Rechte und die Kultur der indianischen Völker mit Delegierten der Indio-Organisationen statt, danach das Intergalaktische Treffen und die Gründung der zapatistischen Befreiungsfront. Die EZLN hat zahlreiche Initiativen in diesem Sinn ergriffen.

Zu Beginn definierte sich die EZLN als revolutionäre Bewegung mit erklärten politischen Zielsetzungen. Die Tatsache, dass sich die zapatistische Gesellschaft wie eine Schnecke in ihr Haus zurückgezogen hat, heißt nicht, dass die EZLN keine politische Rolle mehr spielen will, wir stehen nur vor einer Änderung der Strategie. Es mussten die Lehren aus den Niederlagen gezogen werden. 1994 wusste die EZLN vom Effekt des Rampenlichts zu profitieren, doch dieser Effekt war vorübergehend und illusorisch. Die Alte und die Neue Welt, alle politischen Parteien standen den Initiativen der EZLN immer misstrauisch gegenüber. Auf nationaler Ebene wurde die EZLN von den politischen Parteien und den linken Organisationen verraten. Der letzte Verrat dieser Art war die einstimmige Ablehnung der Verträge von San Andrés. Der durch das Rampenlicht eröffnete politische Weg ist fehlgeschlagen, daran festzuhalten hätte den Reichtum der zapatistischen Bewegung in Gefahr gebracht.

Von der historischen Bedeutung der zapatistischen Bewegung

Immerhin waren die Begegnungen zwischen der Zivilgesellschaft und den Zapatisten nicht umsonst, ganz im Gegenteil, denn hinter eher zufälligen oder sogar hohlen Parolen konnte man die Vielfalt und den Reichtum der zapatistischen Bewegung als soziale Kritik der kapitalistischen Welt erkennen.

Während langer Zeit glaubten wir, dass der politische Wille den Lauf der Dinge verändern könnte. Es genügte das Bewusstsein über den Lauf der Welt, um zur Avantgarde der Revolution zu werden, es war die marxistische Idee der «notwendigen Notwendigkeit der Revolution». Heute sind wir nicht mehr ganz so sicher. Die Berliner Mauer ist den Revolutionären auf den Kopf gefallen. Die Welt zwingt uns ihren Willen auf. Um uns zu trösten, können wir sagen, dass die absolute Macht, die uns regiert, eine geistige ist, doch sie zerstört uns auch, und wir wehren uns gegen sie, wo sie uns doch zur Ohnmacht verdammt hat. Die historische Bedeutung der zapatistischen Bewegung ist die Tatsache, dass sie sich am Berührungspunkt zwischen dem Widerstand einer Gemeinschaft gegen ihr Verschwinden und einer großen kritischen Bewegung befindet, die jedoch innerhalb der westlichen Welt wehrlos ist. Plötzlich bekommt der Widerstand einer Kultur den Sinn einer sozialen Alternative zur Warengesellschaft.

Bisher ließ der Widerstand der Kulturen die westliche Welt völlig gleich­gültig. Im Allgemeinen genoss eher der rebellische Proletarier die Sympathie der Öffentlichkeit. Dabei erweckte er Interesse oder Angst, je nachdem. Man verstand nicht oder wollte nicht verstehen, dass die Proletarier Männer und Frauen waren, die eine Kultur vor dem Niedergang bewahrt hatten. In dieser Kultur fanden sie den Sinn ihrer Revolten. Sie selbst wussten das sicher nicht, denn die nach Neukaledonien verbannten Kommunarden fanden sich nicht im Widerstand der Kanaken wieder, außer einer großzügigen Frau, einer der größten Geister ihrer Zeit, Louise Michel.

Die Tatsache, dass sich die Zapatisten nicht als Proletarier, sondern als Indios und als Mexikaner bezeichnen, stellt die Bewegung zwischen eine Welt, die aufbaut, und eine Welt, die zerstört. Diese besondere Stellung führte dazu, dass sie sowohl von den indigenen Gemeinschaften als auch von den westlichen Oppositionsbewegungen gegen den Liberalismus anerkannt ist.

Die Gefahren, die auf sie lauern

Wenn man so im Mittelpunkt der Leidenschaften des Westens steht, ist man gewissen Gefahren ausgesetzt, neben der Tatsache, die Zielscheibe der Mächte des Imperiums zu sein.6 Unter anderen besteht die Gefahr, ein politischer Spielball der reformistischen Kräfte des Westens, die Teil der Oppositionsbewegung sind, zu werden. Bisher haben die Zapatisten das mit Bravour vermieden. In diesem Zusammenhang ist es lustig, das Gehabe der französischen oder spanischen Intellektuellen zu beobachten. In den meisten Fällen sehen sie in der zapatistischen Bewegung nur ein Streben nach einem demokratischen Leben, wie es bei ihnen bereits existiert. Sie loben den Rebellen und huldigen dem Prinzen… Sie geben den Zapatisten sogar manchmal gute Ratschläge - so hoch ist das Ansehen der Kammerdiener - wie zum Beispiel ein gewisser Touraine, der ihnen sogar riet, sich zu ergeben.7

Vom Subcomandante Marcos

Diese beiden Bewegungen - der Kampf für die Autonomie und die Opposition gegen die kapitalistische Welt - treffen ein­an­der in der emblematischen Gestalt von Marcos, ein Mestize, linksextremer Aktivist, Revolutionär und Sprachrohr der Tzeltales, Tzotziles, Choles, Tojo­bales, Mames, Zoques und der Mestizen.

Er hat der westlichen Welt und den Mestizen den Sinn der Revolte der Indios verständlich gemacht. Sie hat die verstorbene Arbeiterbewegung ersetzt, mit demselben Inhalt: die Kritik des Kapitalismus. Ohne Marcos hätte der Westen die Revolte der indianischen Bauern von Chiapas nicht verstanden, insofern als sie nicht den universalistischen Charakter gehabt hätte, den der Westen bisher der Arbeiterbewegung zuerkannte. Die politische Intelligenz von Marcos (und all jener, deren Sprachrohr er ist) bestand darin, dass er die marxistischen Konzepte von ihren alten, rigiden Interpretationen befreit hat, dass er nicht mehr von Klassen sprach, sondern von Zivilgesellschaft, nicht von Proletariern, sondern von Ausgegrenzten, von allen Ausgegrenzten: Indios, Jugendlichen, Homosexuellen, Armen, den Schwarzen in einer weissen Welt, von den Frauen in einer Männerwelt. Er sprach nicht mehr von Klassenkampf, sondern von einem Krieg gegen die Menschheit.

Der Diskurs bleibt «marxistisch», kritisch und revolutionär, hat aber nichts mehr zu tun mit dem orthodoxen marxistischen Diskurs. Er ist bereichert von Bestrebungen, welche die Marxisten nicht kennen, einerseits dem Streben nach Demokratie seitens der Zivilgesellschaft, andererseits dem Streben nach Land und Freiheit seitens der bäuerlichen Gesellschaft.

Die zapatistische Bewegung ist der Berührungspunkt zwischen einem aufgefrischten marxistischen Diskurs, dem Widerstand der Völker und der sozialen Unzufriedenheit.

George Lapierre

  1. Dreizehnte Stele, fünfter Teil: Eine Geschichte. Brief des Subcomandante Marcos, Juli 2003.

  2. Ich habe Junta mit Rat übersetzt in Anspielung auf die Arbeiterräte, ich hätte auch Versammlung sagen können, das wäre die neutralste Übersetzung.

  3. s. die Diatriben gewisser NGOs gegen den Paternalismus, was Marcos das «Aschenbrödelsyndrom» nennt (Dreizehnte Stele, zweiter Teil: Ein Tod. Brief des Subcomandante Marcos, Juli 2003).

  4. Dreizehnte Stele, dritter Teil: Ein Name. Brief des Subcomandante Marcos, Juli 2003.

  5. Brief des Subcomandante Marcos, Juli 2003.

  6. Bisher ist es den Zapatisten mit bemerkenswerter Intelligenz gelungen, diesen Mächten auszuweichen.

  7. Das war vor drei Jahren, bei der Einsetzung von Vicente Fox, der als erster Präsident Mexikos nicht Mitglied der institutionellen Partei war, sondern einem Kreis von Geschäftsfreunden angehörte.